Von Insel zu Insel

Überblickskommentar:

Ein Liebesgedicht: Das lyrische Ich bittet seinen Geliebten, beim Besuch die Axt, Symbol für Männlichkeit und Aktivität, nicht zu vergessen (Str. 1), verspricht, ihm einen Becher Blut, Symbol für Weiblichkeit bzw. Passivität, zu bringen (Str.2) und fordert ihn auf, während des Beischlafs (Str. 3+4) und im Moment des Orgasmus, des ‚kleinen Todes‘, (Str.5) den Ozean des Seins zu lieben, in den man durch den ‚großen‘ Tod zurückkehrt (Str. 6).

Auf der konkreten Ebene nutzt das Gedicht das Kapitel 3 (S. 154-162) aus Jared Diamonds Buch „Kollaps“: Diamond schildert die Besiedlung und den Handel zwischen drei Inseln des Südostpazifiks. Auf der Hauptinsel (Mangareva) lebt der Großteil der Polynesier, dort fehlen aber wichtige Materialien, die es auf den anderen beiden Inseln gibt: zur Axtherstellung geeigneter Basalt (Pitcairn) und rote Schmuckfedern (Henderson mit der Rotlatz-Fruchttaube). Außerdem sind die beiden Nebeninseln wegen des Inzesttabus auf Partner von der Hauptinsel angewiesen. Durch Überbevölkerung und Raubbau auf der Hauptinsel (Abholzung des zum Kanubau benötigen Baumbestandes) bricht der Handel zwischen den Inseln zusammen, auf den beiden Nebeninseln stirbt die Bevölkerung aus.

Auf der übertragenen Ebene schildert das Gedicht den Verlust der Transzendenz (das christliche Symbol des Regenbogens trägt nicht mehr) und die mögliche Überwindung in der Konzeption einer negativen Theologie. Darüber geblendet wird die Vorstellung des Logos (der hier spricht) und des Dichters, der auf seine Anweisung hin den Transzendenzverlust akzeptieren und damit paradoxerweise einen neuen, anderen Zugang eröffnen soll. Das Gedicht ist geprägt von Gewalt, Sexualität und Tod, markiert aber mit dieser Negation eine leere Stelle, in die Neues eintreten kann.

Von Insel zu Insel


 
Der
Regenbogen
du
weißt es
er wiegt zu leicht –

drum wenn du zu mir kommst
von
deiner vulkanischen Insel

5vergiss nie aus
Zackenbasalt

die
Axt
mit der du den Palmbaum schlugst
für ein neues Kanu –
frisch gefällt fährt am schnellsten

Der Regenbogen du kennst ihn
10er glänzt zu kühl –
drum wenn ich zu dir komm
von den Nistplätzen meines Atolls
mit Flügeln der

Rotlatz-Fruchttaube

bring ich dir wieder den
Becher Blut

15das noch schäumt wie ein
Herzschuss

frisch
erlegt steigt am höchsten

Nachts aber

wenn du mich umarmst
und
aus der Fingerkrümmung
mir dreifacher
20Blitz schwarz in den
Prachtbalg
fährt
 
nachts
wenn ich
Südwind
fächele
und die
Federseele
dir
dreimal

mondrot
die
Stirnrinde ritzt

 
25wenn
uns
die Augen erstarren

vogellos baumlos unschiffbar

stockblinde
Inseln:

der Ozean
Liebster

versuch es
fang an
30jetzt gleich schon beginn ihn zu
lieben

die
Salzflut

in der sie versinken
 
 
Stellenkommentar:

Titel konkret der Handel zwischen Südseeinseln, übertragen die Verbindung zwischen zwei Orten bzw. Personen, auch zwischen Irdischem und Transzendenten

v.1 Regenbogen: traditionell Bild für die Verbindung zwischen den Menschen und Gott (vgl. Bibel, AT, Gen. 9,13: „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.“).

v.1 du: Das angeredete Du ist als aktives männliches Gegenüber gedacht (in Str. 1 wird das Du durch Axtnutzung und Kanubau charakterisiert), das redende Ich als eher passiv weiblich (in Str. 2 wird das Ich mit einer Taube identifiziert).

v.2: Die historische christliche Funktion des Regenbogens als Symbol des Bundes (vgl. zu v.1) trägt nicht mehr, die Verbindung muss anders/neu hergestellt werden. Ebenso zu verstehen ist v.10.

v.4 deiner vulkanischen Insel: Die Südseeinseln (Polynesien) sind alle vulkanischen Ursprungs; auf denjenigen, die knapp unter dem Meeresspiegel lagen, haben sich Korallen angesiedelt, so dass sich dort Atolle gebildet haben (vgl. v.12). Die Differenzierung zwischen vulkanischer Insel und Atoll entspricht der Unterscheidung zwischen männlich und weiblich.

v.5 Zackenbasalt: ‚Zacken‘-Basalt ist eine Konkretisierung des Autors, sie verdankt sich vielleicht der glasartigen Basaltstruktur, die auf der Südseeinsel Pitcairn (s.o. Überblickskommentar) zu finden ist.

v.6f Axt … Palmbaum … / … Kanu: s. Überblickskommentar

v.8: Hier überlagern sich zwei Redensarten („Frisch gewagt ist halb gewonnen“ und „Ehrlich währt am längsten“) in einem absurden Kommentar zum dargestellten Vorgang (Kanubau). Ebenso in v.16.

v.13 Rotlatz-Fruchttaube: Ptilinopus viridis, eine seltene Vogelgattung in der Südsee. Das Bild der Taube verweist auf den Logos (in Gestalt des Heiligen Geistes), der Logos erhält hier weibliche Anteile und nähert sich damit der Muse als Göttin der Inspiration. Auf der konkreten Ebene dienten die Rotlatz-Fruchttauben als Handelsware in der Südsee (s. Überblickskommentar).

v.14 Becher Blut: Gedacht werden kann an den Abendmahlskelch, aber auch an das Gefäß, in dem Christi Blut aufgefangen worden ist. Hier scheint sich ‚die Liebste’ zu opfern bzw. sie wird geopfert, um die Verbindung zur Transzendenz wieder zu beleben.

v.15 Herzschuss: Das Du wird wie bei einem Herzschuss durch Amors Pfeil in seinem Zentrum getroffen. Auch Metapher für den Beischlaf, bei dem das Blut (v.14) in Wallung gerät (steigt am höchsten (v.16)).

v.17 Nachts aber: Der Wechsel der Tageszeit gibt mit dem Bild der Nacht die Transzendenzferne wieder.

v.19f aus der Fingerkrümmung … / … schwarz: Konkret ist das Erschießen der Taube gemeint, übertragen ist das Bild sowohl mit dem Beischlaf als auch mit dem Schreibvorgang (Fingerkrümmung, schwarz auf weißem Papier) zu verbinden, dazu gehört auch der Blitz als Metapher für die dichterische Inspiration.

v.20 Prachtbalg: Ein Balg ist in der Vogelkunde das Präparat eines ausgestopften Vogels.

v.22 Südwind: Bild für das Wehen des Geistes, das Pneuma.

v.23 Federseele: Der in der Haut verankerte Ursprung einer Feder. Im Bild der Federseele überlagert sich der Schreibvorgang mit dem volatilen Teil des Menschen.

v.23 dreimal: Wiederaufnahme des dreifacher (v.19). Die Zahl Drei betont das Magische des Vorgangs und ist zugleich Hinweis auf die Trinität.

v.24 mondrot: Der ‚Mond’ ist das Gestirn der Liebenden. ‚Rot’ nimmt die Farbe des Blutes und des Opfervorgangs (v.14, v. 19f) wieder auf.

v.24 Stirnrinde ritzt: Dem Opfervorgang wird hier eine weitere Dimension unterlegt: Es ist an das Kainsmal zu denken, an die Zeichnung Kains auf der Stirn nach seinem Brudermord. (Kain begeht den Brudermord, weil sein Opfer im Gegensatz zu dem seines Bruders von Gott nicht angenommen wird.) Damit wird der Transzendenzverlust der Gegenwart verdeutlicht. Die ‚Rinde’ knüpft an den Palmbaum (v.6) an und deutet voraus auf baumlos (v.26).

v.25 uns: Einzige Stelle des Gedichtes, an der das du und das ich zur Einheit werden, und dies im Wort, im Wort uns.

v.25 die Augen erstarren: Bild für den Orgasmus, den ‚kleinen Tod‘, aber auch für den ‚großen‘ Tod und damit für die Transzendenzferne.

v.26: s. Überblickskommentar. Zusammen mit ‚stockblinden Inseln’ resümierende Reihung, die die in der letzten Versgruppe folgenden Imperative vorbereitet. Mit der Negation der vorhergehenden Konkreta des Gedichts (Vogel, Baum, Schiff) wird eine Art negativer Theologie vorbereitet, die im Bild des Ozeans (v.28) kulminiert.

v.27 stockblinde: ‚stockblind’ ist eine Steigerung von blind: ‚völlig blind’. Mit dem fehlendem (Augen-)Licht wird erneut auf die Transzendenzferne verwiesen. Mit ‚Stock’ wird zugleich an die Baummetapher angeknüpft (s. zu v.24).

v.28 der Ozean: Kontrastierende Wiederaufnahme von Der Regenbogen (v.1, v.9): Da der Regenbogen als Verbindung zwischen Himmel und Erde nicht mehr trägt (s. zu v.1), wird das Du, der Dichter, auf das die Inseln verbindende Meer verwiesen, aus dem alles kam und in das alles zurückkehrt.

v.28 Liebster: Das Du wird hier verdeutlichend als Liebster bezeichnet. In einer zweiten Lesart könnte man auch den Ozean als Angeredeten verstehen. Hierzu trägt der grammatische Bruch (Wechsel vom Akkusativ zum Nominativ in v.30) bei.

v.29f: Der dreifache Imperativ (versuch es, fang an, beginn) nimmt die magische Drei aus v.19 und v.23 wieder auf.

v.30 lieben: Die Aufforderung, den Ozean zu lieben scheint zunächst paradox zu sein, wird aber mit Blick den Ozean des Seins bzw. auf die negative Theologie, die möglicherweise heute den einzigen Zugang zur Transzendenz öffnet, verständlich.

v.31f: Salzflut scheint zunächst eine traditionelle Metapher – ursprünglich von Homer geprägt – für den Ozean zu sein, ersetzt man aber das sie (v.32) durch die gemeinten Augen (v.25) wird deutlich, dass mit Salzflut die Tränen, die über den Verlust der Transzendenz vergossen werden, mitgemeint sind.
Aspekte der Form:

Die Gedankenstriche (v.2 und v. 10) scheinen den Regenbogen grafisch nachzubilden, die Einrückung der folgenden Verse scheint einen Absturz vom nicht mehr tragenden Regenbogen zu markieren.

Das Wort Drum (v.3 und v.11) verweist zusammen mit der grammatischen Struktur (Einschub eines Gliedsatzes) auf Hölderlins Ode „Patmos“ (v.9ff: Drum, da gehäuft sind rings / … / So gib …).

Die Strophen 1 und 2 sind strukturgleich, ebenso die Strophen 3 und 4.

Die kürzende Wiederholung von nachts (v.21) nach Nachts aber (v.17) steigert das Bild der Transzendenzferne und verstärkt den Eindruck der Einsamkeit.

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