Der Westwind bei Taormina

Überblickskommentar:

Innerer Monolog eines -mit einem jungen Mann- am Strand liegenden Philosophierenden. Versgruppe I vergleicht die Mühen des philosphischen Denkens mit den Übungen in der griechischen Palästra, Versgruppe II mit einem Aufstieg zum Ätna, Versgruppe III zeigt, wie sich das Denken der Zone des Todes nähert, und Versgruppen IV und V führen, aus der Ebene der Philosophie in die Realität zurück: Der junge Mann philosophiert nicht, er hört eine Musik-CD über Kopfhörer und kann daher nichts verstehen.

Zugrunde liegt der Mythos von Apoll und Hyakinthos. Die auffallende Schönheit des Hyakinthos erregte die Aufmerksamkeit von Zephyros, dem Gott des Westwindes, und auch Apoll fand Gefallen an dem Jüngling. Ein verhängnisvoller Unfall beim Diskuswerfen – Apoll traf Hyakinthos aus Versehen mit dem Diskus und tötete ihn so – beendete die Liebe frühzeitig. Aus dem Blut, das dabei vergossen wurde, ließ der trauernde Apoll eine Blume, die Hyazinthe, entstehen. In einer anderen Spielart dieses Mythos war Zephyros eifersüchtig auf die Liebe Hyakinthos‘ zu Apoll und lenkte deshalb den Diskus in der Luft ab, so dass dieser Hyakinthos traf und tötete.

Im Gedicht werden übereinandergelegt das Denken des Philosphierenden mit dem Wirken Apolls (des Gottes der Künste), die Schönheit des Hyakinthos mit den blumenkindheiteren Zügen des Jünglings, der Tod des Hyakinthos mit dem Schlaf des Jünglings (bzw. der Desillusionierung des Philosophierenden durch Unerreichbarkeit des Jünglings) und letztlich die Verwandlung des Hyakinthos in eine Blume mit der Verwandlung der Desillusionierung in ein Gedicht. Durch diese letzte Verwandlung wird wie im ‚Tod des Empedokles‘ (s.u. zu v.10) die Natur mit der Kunst versöhnt.

Indem der Mythos in der Gegenwart wieder auflebt, die unterschiedlichen Zeitebenen also verschmelzen, wird die Möglichkeit einer erneuten Annäherung an die verloren geglaubte Transzendenz eröffnet.

Der Westwind bei Taormina


 
Dialektik bei Plato
,
würde ich sagen
, die Mühen
der
Diärese
, ist mehr als zum Geist durchgedrungene
Palästra
, wo schwitzend bei Diskuswurf oder Weitsprung
die Leiber jung und schön in der
Sonne
glühten
 
5wie deiner jetzt,
hingestreckt
hier am Strand, ich würd sagen,
das ist als ob du den
Ätna
da drüben hinaufsteigst –
durch
Orangenhaine
, durch Wald, den Ginsterbereich,
steil dann empor über glasig-poröse
Schlacken

 
und
prüfst, bedenkst jeden Schritt
, bis zuletzt dein Pfad dich direkt
10zum
Krater des Todes
geführt hat: Aber kein Zittern
befällt dich, denn näher dort bist du der
heiteren Ewigkeit

 
über dir, würd ich sagen, wenn hier nicht schon
blumenkindheiter

die Züge dir blühten, seit in der
Schläfenwunde
wieder

der elektronische Diskus
steckt. Apoll und Hyakinthos (A. Kisselew)
 

Stellenkommentar:
 
Titel: Westwind bei Taormina: Zephyros, Gott des Westwindes. Taormina, Küstenstadt auf Sizilien, 40km nordöstlich des Ätnas

v.1 Dialektik bei Plato: Zum ersten Mal findet sich der Ausdruck „Dialektik“ bei Platon. In seinen frühen Dialogen ist Dialektik eine argumentative Form der Gesprächsführung.

v.1 würde ich sagen: Verdeutlichung des inneren Monologs des reflektierenden Ichs

v.2 Diärese: In der Philosophie: eine Begriffszerlegung

v.3 Palästra: Im griechischen Gymnasion war die Palästra zunächst eine mit Sand bedeckte Fläche für das Training und die Wettkämpfe der Athleten, dann aber allgemein Bezeichnung für Sportanlagen mit sie umgebenden Säulenhallen.

v.4 Sonne: Im Begriff der Sonne wird die Form der Diskusscheibe wieder aufgenommen, die Bahn der Sonne kann mit der Wurfbahn des Diskus parallelisiert werden. In Platons Philosophie ist die Sonne Urheberin des Guten, Wahren und Schönen.

v.5 hingestreckt: 1) Der liegende Körper, 2) Vorwegnahme des Todes

v.6 Ätna: s. v.10.

v.7f Orangenhaine … / … Schlacken: Das Hinaufsteigen zeigt den Übergang vom Bereich des Lebendigen zum Reich des Todes.

v.9 prüfst, bedenkst jeden Schritt: Die Gefährlichkeit des Aufstiegs zum Vulkankrater wird parallelisiert mit dem Risiko der geistigen Bewegung, der Philosophie. Sokrates, der Schüler Platons, bezahlt seine dialektische Methode des Denkens mit dem Tod.

v.10 Krater des Todes: Hinweis auf den Tod des Philosophen Empedokles, der sich in den Krater des Ätna stürzt. Hölderlin motiviert den Tod in seinem Stück ‚Der Tod des Empedokles‘ als freiwilliges Opfer für Versöhnung der Gegensätze Kunst und Natur.

v.11f heiteren Ewigkeit / über dir: Gemeint ist der Bereich der Sonne als Symbol der Transzendenz.

v.12f blumenkindheiter / die Züge dir blühten: Die Unbefangenheit/Naivität der Blumenkinder der 70er Jahre wird gleichgesetzt mit der Naturhaftigkeit eines Jüngling. Darüberhinaus wird auf die Verwandlung des Hyakinthos in die Blume hingewiesen.

v.13 Schläfenwunde: tödliche Verletzung des Hyakinthos mit dem Diskus am Kopf. Im Mythos ist die Schläfe nicht erwähnt, sie wird hier als Sitz des Denkens und damit als Verbindung zur Gottheit genannt.

v.14 der elektronische Diskus: Musik-CD, aber auch diskusförmige kleine Kopfhörer
 

Aspekte der Form:

Klassische Sonettform (4/4/3/3). Inhaltlich wird nicht die Ordnung der klassischen Sonettform genutzt (gedanklicher Umschwung nach den beiden Quartetten), sondern die Gliederung Shakespeares: Umschwung vor den letzten beiden Versen, oft eine Pointe, hier eine Desillusonierung.

Die Verse sind generell 5-hebig (Ausnahme ist v.11 mit 6 Hebungen), Vers 14 hat nur 4 Hebungen und zeigt mit der fehlenden Hebung die Wunde durch den Diskus.

Reimschema (unreine Reime): abba cddc efg gfe. Der einzig reine Reim (steckt (v.9) auf direkt (v.14)) hebt pointiert die Verwundung des jungen Mannes hervor.

v.1/5/12 würd(e) ich sagen: Durch Wiederholung der Phrase wird der Hauptteil des Gedichts gegliedert, sowie durch v.1 und v.12 eingeschlossen und von den folgenden Versen abgegrenzt. Hierdurch entsteht eine Nähe zur Sonettform Shakespeares (4/4/4/2). Das ‚würde’ entwickelt sich von einer Floskel (v.1) zum vollgültigen Irrealis (v.12).