Nerv und Frequenz

Überblickskommentar:

Auf der Realebene zeigt sich das lyrische Ich von den aufheulenden Frequenzen des Mofas eines jungen Menschen in einem Hinterhof genervt. Es reflektiert über sichtbare und unsichtbare Frequenzsysteme, die mögliche Nutzung dieser Frequenzen (Materialdefekte, Nierensteine, Unterwassersignale) und überlegt, ob es dem jungen Menschen Geld für einen Fachmann schenken sollte. Auf der übertragenen Ebene steht der junge Mensch für die heutige Menschheit, die die Nutzung der Technik an die Stelle der Transzendenz gesetzt hat. Damit ist die Kommunikation mit der Transzendenz unterbrochen. Das lyrische Ich verweist auf Frequenzen außerhalb der normalen Sinneswahrnehmung, die real existent sind und von der Technik zur Verbesserung des Lebens eingesetzt werden. Der Dichter parallelisiert diese Verbesserungen mit seinem Dichten und versucht so, die Kommunikation mit der Transzendenz wieder herzustellen. Allerdings ist das lyrische Ich sich nicht sicher, ob es dafür geneigte Leser gibt.

Nerv und Frequenz

Junger mensch
denn so viel kann ich
Mit geübt morphologischer
von meinem frühstücksbalkon
Aufmerksamkeit
schräg abwärts

Drei stockwerke durch das kastanienbraun grad noch
5Erkennen
denken Sie eigentlich

Denken Sie oder haben Sie niemals bemerkt
Dass so ein
hinterhof
dass er tatsache
fest gemauert
ein
mega

Schalltrichter
Sie aber seit über fünfunddreißig minuten
Glissando
rauf runter rauf
Sie
10Jagen Ihr
mofa
hifi
durch sämtliche stand
Gasfrequenzen
phonförmiger selbst

Bejahung kommunikations
Abbruch provozierend
und
umweltverneinung

Um hier hören Sie mich ein
dezibelgipfel

15Kreuz zu errichten
auf vierhunderttausend jahren

Ansteigender kohlendioxidkonzentration aber
Ja doch ich weiß
natürlich
man darf nicht vorschnell
und schon
Gar nicht
aus der entfernung
weil selbst
NGC 1275
und das ist doch wirklich was
scheint uns im sichtbaren
20
Spektralbereich ganz unspektakulär
aber man weiß
prozesse

Die röntgenaufnahme erst diese nämlich verrät uns ich sage Ihnen
Prozesse in ihrer nähe von höchst individueller dramatik denn
Offenbar Sie sind ja jung so ganz
unrasierbar
unabgeführt
und das maschinchen
Wohl omis
konfigeschenk
und Ihr taschengeld
25
Nur fürs halbe benzin reichts hin
und Ihr
alphabet

Nicht bis zum dritten gebot oder gar bis zu dem
Nennen wirs
lauschhorizont
wo Gott und
Gehör sich berühren
da drängt treibt bricht ein

Licht aus dem schweigen
ein singen

30
Fordert ein ohr
unerhörtes

Will sich bezeugen und hätt gern auch
Eines
vierstimmigen lieds

Fünfte als
antiphon
der erleuchtung

Sie umgeboren
aber o.k. down to earth
könnte man immerhin

35Ein
schallwandlersystem
das professionell die signale
Ratz fatz
rücksendet
womit man
selbst heimtückische
Materialdefekte detektivmäßig und obendrein therapeutisch
Wenn sichs ergibt allerlei
nierenfruststeine zertrümmern

Oder es bündelt begriffslose
unterwassersignale
wie gesagt

40
Wenn
es sich wenn es wenn wenn
obwohl

Einfacher wär schon
ich würd
Und das heißt jetzt gleich
Doch wär ich
Wär missverständlich
beim
steilabfall
zwischen Ihren

45Und meinen jahren die nicht mehr mit
antioxidantien
die freien

Radikale tatsächlich in schach auch bin ich ja
Jung wie das so schön heißt geselle
und wem

Würde wohl
wenn mein herbst sich mit herzeigt

Dies opfer gefällig sein
gleich jetzt

50
Hinunter mit augenaufschlag
und Ihnen das
Geld für den
fachmann
schenken
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel weist auf das durch die Frequenzen eines Mofas genervte lyrische Ich hin, versteht anderseits den Nerv als Kommunikationsempfänger und die Frequenz als Kommunikationssignal, mit Hilfe derer die Verbindung zur Transzendenz hergestellt werden kann.

v.1 Junger mensch: Der mit dieser Anrede begonnene Satz wird in v.5 mit denken Sie eigentlich fortgesetzt. Die zerstückelte Satzstruktur der folgenden Verse entspricht der Brechung des Blicks durch das Laub. Dass hier nicht das naheliegende ‚Junger Mann’ als Anrede genutzt wird, weist darauf hin, dass hier nicht nur ein spezieller Typus des Menschen, sondern die jüngste, die heutige Ausprägung des Menschen gemeint ist.

v.2f Mit geübt morphologischer … / Aufmerksamkeit: Die Morphologie ist die Lehre von der Gestalt, Struktur und Form der Organismen. Hier wird der Begriff Morphologie angewandt auf das Erkennen eines Prototypen: des unbedachten, auf sich selbst bezogenen, unwissenden Jugendlichen, der stellvertretend für den nur in der Immanenz angesiedelten heutigen Menschen steht.

v.3f schräg abwärts / … kastanienbraun: Der Blick des lyrischen Ich von oben auf den jungen Mann lässt sich mit dem Blick eines Gottes auf die Menschen vergleichen. Das kastanienbraun zeigt die Jahreszeit, den Herbst an.

v.5f denken Sie eigentlich / … bemerkt: Der dreifache Einsatz zeigt lässt sich einerseits als Verärgerung des lyrischen Ich interpretieren, andererseits als Hinweis auf die eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit des Angesprochenen.

v.7 hinterhof: auch lesbar als ironische Charakterisierung des Diesseits

v.7 fest gemauert: Beginn von Schillers „Das Lied von der Glocke“. Im christlich-traditionellen Sinne stellt die Glocke die Verbindung zwischen Gott und den Gläubigen her, indem sie zum Gottesdienst ruft. Hier tritt allerdings der Mofa-Sound an die Stelle der Glocke. Während bei Schiller die Bürgertugenden gepriesen werden, werden hier die Untugenden eines jungen Menschen betont.

v.7 mega: griechisches Adjektiv mit der Bedeutung ‚groß’. Als Vorsatz für Maßeinheiten hat es auch die Bedeutung von einer Million.

v.8 Schalltrichter: Ein Hinterhof ist – wie eine Glocke – ein Verstärker für Signale und ihre Frequenzen (vgl. damit auch v.35 schallwandlersystem). Ironischerweise ist der (der Immanenz zuzuordnende) Hinterhof nach oben geöffnet, während die Glocke (als der Transzendenz zugeordnet) nach unten geöffnet ist.

v.9 Glissando: in der Musik die kontinuierliche (gleitende) Veränderung der Tonhöhe

v.9 rauf runter rauf: Auf der konkreten Ebene wird der Gashebel ‚rauf und runter’ gedreht, sodass das mofa aufheult und wieder verstummt. Auf der übertragenen Ebene wird die Kommunikation zwischen ‚oben und unten’ als zwischen Transzendenz und Immanenz angesprochen: Diese ist hier allerdings gestört.

v.10 mofa: Ein Mofa ist ein einspuriges einsitziges Fahrrad mit Hilfsmotor mit einer Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h. Voraussetzung zum Führen eines Mofas ist ein Mindestalter von 15 Jahren.

v.10 hifi: High Fidelity (engl. ‚hohe (Klang-)Treue’) ist ein Qualitätsstandard für Audio-Wiedergabegeräte. Die Verbindung von hifi mit dem mofa ironisiert die ‚Treue’, die eigentlich der Transzendenz gebührte, und wendet sie auf das Verhältnis des Menschen zur Technik an.

v.10f stand / Gasfrequenzen: ‚Standgas’ ist die geringe Menge Kraftstoff-Luft-Gemisch, die benötigt wird, um einen Motor im Leerlauf zu betreiben. Die frequenzen nehmen das rauf runter rauf von v.9 wieder auf.

v.11f phonförmiger selbst / Bejahung: ironische Formulierung für die Ich-Konstituierung durch das Geräusch. Während früher die Selbstbeglaubigung durch den Bezug zur Transzendenz gewährleistet wurde, verwirklicht der Mensch in der Moderne seine ‚Selbstbejahung’ mit Hilfe der Technik. Evt. auch auf den Dichter zu beziehen: als poetologische Ich-Konstituierung durch Kommunikation mit der Transzendenz ?

v.12f kommunikations / Abbruch provozierend: Der Jugendliche verhindert durch den Lärm eine Kommunikation mit dem lyrischen Ich. Auf der übertragenen Ebene scheint es die Technik zu sein, die die ehemals intakte Kommunion von Transzendenz und Immanenz ersetzt.

v.13 umweltverneinung: Durch die ‚Selbstbejahung’ des Ichs und die damit verbundene Technik wird die Umwelt verneint und geschädigt.

v.14f dezibelgipfel / Kreuz: dezibel ist die Maßeinheit der psychoakustischen Größe Lautstärke. Demzufolge ist ein ‚Dezibelgipfel’ ein sehr großer Lärm, ein Kreuz, das dem lyrischen Ich errichtet wird. Damit steht das lyrische Ich hier in der Imitatio Christi.

v.15f auf vierhunderttausend jahren / Ansteigender kohlendioxidkonzentration: In der Gegenwart wird die höchst CO2-Konzentration seit vierhunderttausend Jahren gemessen.

v.17 Ja doch ich weiß: Das lyrische Ich reagiert auf einen möglichen Einwurf des Lesers (nicht etwa des ‚jungen Menschen’). Damit wird durch das Gedicht eine Kommunikation mit dem Leser konstituiert, die mit dem jungen Menschen nicht möglich ist. Dasselbe gilt für das ist doch wirklich was (v.19), scheint uns (v.19), man weiß (v.20), verrät uns (v.21), ich sage Ihnen (v.21) und nennen wirs (v.27).

v.17f: Der Satz ist mit ‚urteilen’ zu vervollständigen.

v.18 aus der Entfernung: hier Drei Stockwerke (v.4), eine allerdings geringere Entfernung als die im folgenden Beispiel (NGC 1275) angeführte.

v.19ff NGC 1275: Die Bezeichnung für eine 230 Millionen Lichtjahre entfernte Galaxie, die eine andere Galaxie verschlingt, wodurch Arme aus leuchtendem Gas (im sichtbaren / Spektralbereich) entstehen, in denen neue Sterne geboren werden (Geburt und Tod s. zu v.22). Die Spiralarme sind beständig, obwohl sie eigentlich durch galaktische Kollision zerstört werden müssten. Der Grund für die Beständigkeit ist ein schwarzes Loch im Galaxie-Zentrum, das nur im Röntgenbereich sichtbar ist.

v.19 und das ist doch wirklich was: Überlagerung zweier Aussagen: Zum einen wird der Erkenntnisbereich der Naturwissenschaften bewundernd hervorgehoben (das ist doch wirklich, vgl. zu v.19ff), zum anderen wird dieser Erkenntnisbereich durch das angefügte was ironisiert.

v.19f im sichtbaren / Spektralbereich ganz unspektakulär: Hier liegt eine figura etymologica zu Grunde: Spektral leitet sich ab von ‚Spektrum‘ (Bild, Erscheinung), unspektakulär von ‚Spektakel‘ (Schauspiel, Augenweide, Anblick, auch Krach, Lärm). Die Erkenntnis der Naturwissenschaft scheint, solange sie im Bereich des Sichtbaren liegt, transzendenzfern zu sein. Erst wenn der unsichtbaren Bereich hinzutritt, offenbart sich das Ganze (holistische Betrachtung der Natur). Die Nebenbedeutung von ‚Spektakel‘ als Krach, Lärm knüpft an den Mofa-Lärm an.

v.22: Die Prozesse in der Nähe von NGC 1275 sind deswegen von höchst individueller Dramatik, weil sie mit Geburt und Tod die Spanne der Zeit eines Individuums markieren. Durch die Überlagerung von Galaxie und Individuum im Gedicht wird der Übergang zu dem einzelnen ‚Jungen Menschen‘ (v.1) wieder hergestellt.

v.23 unrasierbar: Dem jungen Mann wächst noch kein Bart.

v.23 unabgeführt: Auf der Realebene vermutlich ‚Wegen Lärmbelästigung noch nicht von der Polizei abgeführt’

v.24 konfigeschenk: i.e. ‚Konfirmationsgeschenk‘. Auf der Realebene ist die Konfirmation für den jungen Mann lediglich ein mit Geschenken verbundener Übergang ins Erwachsenenleben. Hier tritt die Technik (das maschinchen) an die Stelle des Ereignisses (des Abendmahls). Das Abendmahl im ursprünglichen Verständnis kann als Offenbarung Gottes in dieser Welt verstanden werden, damit könnte der Versbeginn mit Offenbar (v.23) einen Transzendenzbezug herstellen.

v.25 Nur fürs halbe benzin reichts hin: Führt man den Abendmahlsgedanken weiter, könnte man den Kraftstoff, der das maschinchen antreibt, mit dem Abendmahlswein parallelisieren. Die heutige gängige transzendenzferne Auffassung der Konfirmation wird durch das Adjektiv halbe und die Formulierung ‚nur dafür reichts‘ ausgedrückt.

v.25f Ihr alphabet / Nicht bis zum dritten gebot: Das dritte Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ scheint der junge Mann nicht zu kennen, sodass er sein Mofa an einem Sonntag (dem Tag, an dem das Abendmahl gefeiert wird) lärmen lässt. Der Hinweis auf das alphabet evoziert einen weiteren wichtigen Bestandteil des sonntäglichen Gottesdienstes: Das Wort.

v.27f lauschhorizont wo Gott und / Gehör sich berühren: Auf der Realebene könnte der lauschhorizont mit der Hörreichweite technischer Systeme (wie z.B. Sonar und Echolot vgl. zu v. 35) verglichen werden. Hier ist vermutlich der Bereich gemeint, in dem eine Berührung von Transzendenz und Immanenz möglich ist, also das Gedicht. Dieser Bereich ist dem Jungen Menschen nicht zugänglich, weil er – durch die Geräusche seines Mofas (die Technik) verdorben – dieses Gehör nicht mehr haben kann (vgl. zu v.35 und v.39).

v.28 da drängt treibt bricht ein: Die Kraft des Einbruchs der Transzendenz (zu v.29ff Licht) wird hier durch die Verdreifachung des Verbs verdeutlicht.

v.29 Licht aus dem schweigen: Licht ist eine traditionelle Metapher für die Transzendenz. Das schweigen steht für die transzendenzferne Gegenwart. Die Synästhesie als Zusammenziehung zweier unterschiedlicher Wahrnehmungsbereiche überschreitet den Horizont unserer normalen Auffassung der Wirklichkeit. In den folgenden fünf Versen (v.29ff ) bricht die Transzendenz in die Immanenz ein.

v.29f ein singen / Fordert ein ohr: Die Transzendenz will gehört werden. Dass die Transzendenz als singend dargestellt wird, lässt an die ‚himmlische Sphärenmusik’ denken.

v.30f unerhörtes / Will sich bezeugen: Die heute nicht mehr gehörte Transzendenz will Zeugnis ablegen. In bezeugen ist aber auch ‚zeugen’ mitzuhören: Die Transzendenz will neu entstehen, neu geboren werden (vgl. zu v.34).

v.32 vierstimmigen lieds: Der Vierstimmige Satz ist eine besonders häufige musikalische Satztechnik, die auf die Beteiligung von vier Stimmen, im engeren Sinne der vier menschlichen Stimmlagen (Sopran, Alt, Tenor, Bass) abzielt. Als musterhaft gelten heute die vierstimmigen Sätze von Johann Sebastian Bach.

v.32f: Die Transzendenz wünscht sich als Antwort auf ein vierstimmiges Lied eine fünfte Stimme, die von einem ‚Erleuchteten’ als Gegengesang gesungen werden soll. Der ‚Erleuchtete’ kann als der vom ‚Licht berührte’, als der Dichter verstanden werden, das Antiphon als das Gedicht. Diese poetologische Interpretation könnte noch fortgeführt werden, indem man das vierstimmige Lied als Analogon zum vierfachen Schriftsinn (der Lehre vom vollständigen Schriftverständnis) versteht.

v.33 antiphon: Antiphon bedeutet Gegengesang oder Wechselgesang. Der Begriff bezeichnet sowohl eine Art des Musizierens (Antiphonie) als auch spezifische Stücke in dieser Art, insbesondere in der Kirchenmusik.

v.34 Sie umgeboren: Der in v.32 begonnene Satz (und (die Transzendenz) hätt gern auch) kann einerseits mit v.33 (Eines vierstimmigen lieds …) fortgesetzt werden, andererseits aber auch mit v.34 (Sie umgeboren). Diese Lesart knüpft an die Aussage von v.30f an, dass die Transzendenz sich auch in diesem Jungen Menschen neu inkarnieren möchte. In der christlichen Interpretation wäre umgeboren die Umschaffung des Alten Adam in den Neuen Menschen.

v.34 aber o.k. down to earth: ironische Reaktion des lyrischen Ichs in modernem Jargon: Nach dem Ausflug in die übergeordnete Transzendenz (v.28-34) kommt der Dichter wieder auf die Erde zurück. Das o.k. scheint ironisch anzudeuten, dass das Bedürfnis der Transzendenz nach Inkarnation nicht so einfach zu befriedigen ist.

v.35 Ein schallwandlersystem: Ein Schallwandler ist ein Gerät, das akustische Signale als Schallwechseldrücke in elektrische Signale, genauer gesagt elektrische Spannung umwandelt oder umgekehrt. Beispiele von Schallwandlern sind das Mikrofon, der Sensor und der Tonabnehmer als Schallempfänger sowie der Lautsprecher als Schallerzeuger (vgl. auch v.8 Schalltrichter). Auf der übertragenen Ebene könnte man das schallwandlersystem als das Gedicht verstehen, in dem der Dichter die signale der Transzendenz der Immanenz professionell übersetzt und vermittelt bzw. an die Transzendenz rücksendet.

v.36 Ratz fatz: umgangssprachlicher Ausdruck für einen fast zeitlosen Vorgang

v.36f womit man … / … detektivmäßig: Der Halbsatz kann vervollständigt werden mit ‚entdecken kann‘. Es gibt mehrere Verfahren zur zerstörungsfreien Werkstoffprüfung (z.B. Röntgen- und Isotopentechnik, Ultraschall, Akustische Resonanzanalyse). Auf der übertragenen Ebene deckt das Gedicht Defizite der Moderne auf.

v.38 Nierenfruststein zertrümmern: Mit Ultraschall (einem weiteren Frequenzbereich) können mit Hilfe der ‚Extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie‘ Nierensteine zertrümmert werden. Auf der übertragenen Ebene ist das Gedicht in der Lage, Defizite der Moderne (z.B. frust) zu therapieren.

v.39 unterwassersignale: Angespielt wird auf die U-Boot-Kommunikation, die in einem sehr langen Frequenzbereich stattfindet. Auf der übertragenen Ebene umfasst das Gedicht auch vorrationale (begriffslose) Signale der Transzendenz, die subliminal (unterwasser) aufgenommen werden.

v.39 wie gesagt: poetologisches Resumée der zuvor über das Gedicht getroffenen Feststellungen, gleichzeitig aber auch ironisierende Floskel, die die poetologischen Aussagen im Hegelschen Sinne aufzuheben scheint

v.40: verkürzende Wiederholung der Redewendung Wenn sichs ergibt (v.38). In jenem Vers war die Redewendung als möglicher Kontakt zwischen der Transzendenz und der Immanenz zu interpretieren (vgl. auch zu v.37f), die Verkürzung weist auf die sich immer weiter vergrößernde Distanz zur Transzendenz hin. Die vierfache Verkürzung lässt sich mit dem ‚vierstimmigen lied’ (v.32) in Verbindung bringen: Die fünfte fehlende Wiederholung wäre das antiphon der erleuchtung (v.33).

v.40 obwohl: Konjunktion des nicht hinreichenden Gegengrundes: Die Möglichkeit des lyrischen Ich, ‚einfach‘ zum Jungen Mann hinunterzugehen (v.41 und v.50), wird durch die in den v.44-49 genannten Gründe verhindert.

v.41f Einfacher … / … gleich: Der Satz wird mit v.50 fortgeführt. Das ‚Einfach‘ könnte hier als Einheit von Transzendenz und Immanenz verstanden werden, die das lyrische Ich jetzt gleich vollziehen möchte. Die konjunktivische Formulierung zeigt aber die Schwierigkeit der unio mystica an.

v.44 Wär missverständlich: Wiederaufnahme des Themas der Kommunikationsstörung (zwischen lyrischem Ich und Jungem Mann bzw. Transzendenz und Immanenz) (vgl. z.B. v.12f).

v.44 steilabfall: Gemeint ist sowohl der große Altersunterschied zwischen lyrischem Ich und Jungem Mann als auch die Distanz zwischen Transzendenz und Immanenz. Darüber hinaus ist auch an das Herabsteigen Christi und seine Inkarnation zu denken.

v.45f antioxidantien die freien / Radikale: Antioxidantien sind chemische Verbindungen, die eine unerwünschte Oxidation anderer Substanzen gezielt verhindern. Freie Radikale sind hochreaktive Sauerstoffverbindungen, die im Körper gebildet werden und in verstärktem Maß durch UV-Strahlung, Schadstoffe in der Luft und Chemikalien entstehen. Ihr Vorkommen im Übermaß erzeugt Zellschäden und gilt als mitverantwortlich für den Alterungsprozess.

v.47 Jung wie das so schön heißt geselle: Die Trennung des Wortes ‚Junggeselle‘ durch den Einschub zeigt, dass das lyrische Ich sich trotz seines Alters jung fühlt. Dass es sich als ‚Junggeselle‘ apostrophiert, ermöglicht eine erotische Dimension im Verhältnis zum Jungen Mann. Mitgedacht ist auch das Verhältnis zwischen Christus und seinen ‚Jüngern‘. Die Floskel wie das so schön heißt verweist auch auf die poetologische Ebene: Das lyrische Ich als Dichter empfindet sich im Vergleich zur Transzendenz als tatsächlich noch jung und als geselle (also als noch kein Meister).

v.48 wenn mein herbst sich mit herzeigt: Neben dem Verweis auf das Alter des lyrischen Ich (mein herbst) zeigt das mit, dass hier wie in v.47 das Verhältnis zur Transzendenz mitgemeint ist.

v.49 Dies opfer gefällig sein: Das opfer, das das lyrische Ich auf der Realebene bringen könnte, wird erst in v.50f genannt: Die Geldspende an den Jungen Mann. Auf der übertragenen Ebene wird an das Opfer Christi angeknüpft, mit dem der Neue Bund zwischen Gott und Menschen gestiftet wird. Hier allerdings wäre das Opfer des lyrischen Ich niemandem gefällig, weil der gegenwärtige Mensch nicht mehr in den transzendenten Bezügen lebt.

v.49 gleich jetzt: Hiermit wird das jetzt gleich (v.42) wieder aufgenommen und bildet damit einen Chiasmus (Kreuzstellung). Die Worte lassen sich allerdings auch auf wem / Würde … / Dies opfer gefällig sein gleich jetzt (v.47ff) beziehen. Damit scheint sich das lyrische Ich die Möglichkeit offen zu halten, dass das Opfer später doch jemandem gefällig sein könnte.

v.50 Hinunter mit augenaufschlag: Neben dem Flirten des lyrischen Ich mit dem Jungen Mann ist hier das Öffnen des göttlichen Auges gemeint, ein Bild für das Sich-Offenbaren der Transzendenz. Das Hinunter gemahnt an das Herabsteigen Christi in die Immanenz bzw. an das Ausschütten der göttlichen Gnade.

v.51 fachmann: Auf der übertragenen Ebene ist derjenige, der die Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz herstellen kann, der Dichter mit seinem Gedicht.

 
Aspekte der Form:

Die sonst in diesem Gedicht nicht üblichen Reime gebot / Gott (v.26/27), bricht / Licht (v.28/29), schweigen / bezeugen (v.29/31), ohr / ungeboren (v.30/34) weisen auf die in diesem Bereich besondere Beziehung zur Transzendenz hin.

v.10: Die Verssprünge v.10, 11 12, 14 zerstückeln die Komposita und versinnbildlichen damit die Kommunikationsstörungen der Moderne. Die dabei fehlenden Bindestriche verdeutlichen die fehlende Verbindung zur Transzendenz.

v.30 Ohr unerhörtes: Figura etymologica. Überlagerung zweier Lesarten: ‚ein unerhörtes Ohr’ (Transzendenzferne des modernen Menschen) und ‚unerhörtes will sich bezeugen’ (Transzendenznähe des Dichters). Der Zeilensprung nach unerhörtes gibt dieser Ambivalenz Ausdruck.

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