Berlin, Tauentzien (Heinrich Isecke)

Aus einer mail an den Autor:
(…)
ich bin froh, dass das Gedicht meinen Weg gekreuzt und einen Moment des innehaltenden Verweilens bewirkt hat. Insofern habe ich den Ruf, den es in den ersten drei Worten des ersten Verses als Gedicht auch an den Leser wirft, wohl vernommen. Belohnt wurde ich durch die Freude, die sich im ästhetischen Spiel freier Deutung entwickeln kann.

Dieser Ruf im Gedicht erinnert ja auch an den Ruf des alttestamentarischen Gottes an Adam. Der versteckt sich ja bekanntermaßen, nachdem er verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und nun fürderhin Scham empfindet, die er, zwar nicht mit „BLUEMARINE-Brustprint, Color Algenblüte“, aber doch mit einer Art „Outdoor-Outfit“ bedeckt (das bekannte Feigenblatt Gezweig, mit dem er vor Gott tritt, und dann die von Gott gefertigten „Röcke von Fellen“).

Was ich andeuten will, ist, dass auch eine alttestamentarische Fraktur den Text zu durchkreuzen scheint: Gericht wird schließlich vom lyrischen Ich gehalten, nachdem der Anruf, jetzt „namentlich“, zum zweiten Mal erfolgt ist.

Die Autorität dazu hat sich der Dichter bekanntermaßen blasphemisch mit der Herausbildung der Autonomie der Kunst angemaßt, als Herrscher „der in sich geschlossenen Ganzheit im Kleinen“ in Analogie zur Herrschaft Gottes über bzw., spinozistisch gesprochen, in der Welt als Ganzer. Dieser gedankliche Zusammenhang begegnete mir zuletzt, kurz und wie immer eingängig dargestellt, in Safranskis Goethe Biographie im Referat von Carl Phiilipp Moritz` initialer Schrift „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ (vor allem dort auf S. 359ff), wo auch darauf hingewiesen wird, dass für den Rezipienten „etwas Analoges gilt“:
„Ihn wird das Kunstwerk nur ansprechen, wenn es wirklich nur das Kunstwerk ist, und nicht äußere Rücksichtnahmen und Interessen, von denen er sich leiten läßt.“ (Safranski, S. 360)

Auf die abwesende Anwesenheit des Vaters im Gedicht weist ja übrigens auch das Wort „Brüder“ hin.

Ist das Spiel der Signifikanten im Prozess fortschreitender Metaphorisierung und Metonymisierung erst einmal in Gang gesetzt, ist seine Deutung einem fast unendlichen Verweisungszusammenhang ausgeliefert. Am Ende verweist das Gedicht selbst auf eine Leerstelle des Begehrens, den blinden Fleck der Sprache. Es ist eine Art Stellenbeschreibung eines angekreuzten Punktes, an dem, was da ist, nicht da ist: das Imaginäre. Aber es zeigt, dass da eine Stelle ist.
(…)
(Heinrich Isecke)

Berlin, Tauentzien

Halt, halt! Wohin?
Sagtest du nicht, du selbst,
heut früh,
wir seien, im starken Gleichlauf des Gefühls,
trotz hier ein wenig Rost und dort mehr Öl,
desselben Zukunftsschiffes Doppelschraube? Die

gradlinig durch den

Oberflächenschaum

den Bug – – –
Jetzt aber, wie verdurstend, stürzt
du
seitwärts
in dieses peepshowglitzernde
Stahlglaslifestyletriumphportal: Und, wow,

erscheinst in vollem Outdoor-Outfit wieder,

BLUMARINE
Brustprint,
Color Algenblüte,

die mit Designerfingern an dir zieht …

Ihr

Lippen,
flink, auch wenn er am
Matrosen-Mieder

abspringt, einmal umarmt noch
seinen Namen

und jede Silbe speichelt mit Balsam!

Dann bahrt

ihn
auf bei seinen Brüdern.
Stellenkommentar:

v.1 Halt, halt! Wohin?: „Den apokryphen Petrusakten nach begegnete der Apostel Petrus auf seiner Flucht aus Rom Christus und fragte ihn „Quo vadis, Domine?“ („Wohin gehst du, Herr?“) und erhielt zur Antwort „Venio Romam iterum crucifigi.“ („Nach Rom, um mich erneut kreuzigen zu lassen“). Daraufhin kehrte Petrus um, wurde in Rom gefangengenommen und gekreuzigt.„ Diese Situation wird in den apokryphen Akten des Paulus und der Thekla beschrieben.“ (Wikipedia)
Verweis auf den Kreuzweg der beiden Figuren und den Weg zur Kreuzigung, den beide in gewisser Weise gehen

v.1 Sagtest du nicht, du selbst: In der emphatischen Wiederholung der Anrede wird auf das „Selbst“ des Gegenübers gezielt wie auch weiter unten (13) im „Namen“ keine beliebige Bezeichnung, sondern der mit dem Sein identische „Name“ des Anderen aufgerufen ist. (s.u.)

v.5 Oberflächenschaum: auch sexuell konnotiert: Sperma

v.6 den Bug – – –: Das hier im konventionellen Sprachgebrauch nahe liegende ausgelassene Wort „pflügt“ verweist in diesem Kontext auch auf den Geschlechtsakt.

v.7. seitwärts: Abwendung, Richtungsänderung: „seitwärts“ im Unterschied zu „gradlinig“ (5): „Kreuzweg“

v.10 BLUMARINE: deutlicher Hinweis auf den Matrosen „Querelle“ aus dem gleichnamigen Roman von Genet und die filmische Adaption von Fassbinder; vgl. auch den noch deutlicheren Hinweis weiter unten: „Matrosen-Mieder“ (12)
„Der windige Matrose Querelle ist eine apokalyptische Figur, der alle verfallen, denen sie begegnet. Im Netz von Sexualität, Sehnsüchten und menschlichen Phantasien gewinnt Querelle keinen fassbaren Halt.“ (Wikipedia)
„Der Roman „Querelle“ (…) ist das funkelnd-gleißnerische Porträt des Matrosen Querelle, der in den dunklen, nebelverhangenen Wällen der Festung Brest sich hingibt, dem Polizisten Mario; dort, wo er verscharrt, wen er ermordet; dort, wo er versteckt die Beute seiner Raubzüge; dort, wo er verbirgt den, den er liebt, der gemordet hat, den er verrät.“ (Fritz J. Raddatz: „Genet: Querelle.“ Aus: DIE ZEIT Archiv, Jg. 1980, Ausgabe 13.)
„Die Gestalten Genets können sich der Schönheit nur nähern, indem sie sie vernichten, können lieben nur, indem sie die Liebe verzehren (also morden oder verraten); ihr Eros ist züngelnd-verzehrendes Feuer, das aus einem Krater von Haß und Selbsthaß hervorbricht – und ihr Leben ist ein ständiges Stückchen Sterben (oder Töten). >Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen.<“ (Raddatz, a.a.O.)
„Ihr sagt, ich sei homosexuell und ein Dieb – ich sage: ich bin der Homosexuelle, der Dieb.“ (Genet)
„Die Gewalt dieses Gegenentwurfs wird eben dadurch deutlich: eine verwendete Moral, eine eigene – nicht teuflische, das bliebe zu nahe am vorgegebenen Modell – Theologie gleichsam neuer Formeln, die aus Gewaltätigkeit Zärtlichkeit, aus der Prostitution Reinheit gewinnt und – als Mord Heiligkeit: eine Theologie des Verbrechens. Nie zuvor ist diese Welt überzeugender verworfen worden: indem sie einfach bejaht wird, nicht angeklagt, sondern angenommen.
Der Akt des Verbrechens – benachbart immer dem Liebesakt, wie Eros und Tod einander benachbart sind – ist ein Akt der Befreiung, mehr noch: der Transsubstantiation. So, wie für Genet das Wunder des in Brot und Wein verwandelten Leibes des Herrn darin besteht, daß es sich schließlich – chemisch untersucht – doch nur um Brot und Wein handelt, also nur eine metaphorische, keine wirkliche Verwandlung eingetreten ist, so liegt für ihn umgekehrt das Wunderbare seiner Verbrecher, Huren und Strichjungen darin, daß sie verwandelt sind. Das Profane ist das Wunder – und das Wunder bleibt profan. Se déhumaniser – sich entmenschlichen, heißt sich befreien, heißt sich dem Göttlichen anverwandeln.“ (Raddatz, a.a.O.)

v.10 Brustprint: Vgl. dazu folgende nach Raddatz zitierte Stelle aus „Querelle“: „Als Querelle am tiefsten erniedrigt war – durch den Bordellwirt Nono, der ihn hergenommen hatte –,schien er seinem ihn begehrenden Offizier an Deck schön wie ein surreales Heiligenbild: „Damals bräunte seine Haut jener Goldton, der dem Teint der Blonden eigen ist. In einem arabischen Garten hatte er einige mit Mandarinen beladene Zweige gebrochen, und da er beim Gehen freie Hände haben wollte, um sich unbeschwert in den Schultern wiegen zu können, hatte er die Mandarinenzweige in den Ausschnitt seiner weißen Jacke gesteckt, wo sie unter der schwarzseidenen Krawatte hervorlugten und um sein Kinn strichen. Der Anblick dieser Zweige war für den Offizier eine jähe Enthüllung Querelles. Dieses aus seiner Jacke sprießende Laubwerk war sicherlich das, was der Matrose an Stelle eines Felles auf seiner breiten Brust trug. Vielleicht war jeder dieser verborgenen, köstlichen Zweige mit glänzenden, runden, süßen Hoden behangen (sic)“ (Raddatz, a.a.O.)
Im Gedicht ist der Auftritt der Figur nach ihrer Verwandlung im Vergleich zur aufgerufenen Vorlage von Genet entmystifiziert, profaniert und zugleich entsinnlicht. Der Brustschmuck ist sublimiert in abstrakte Zeichen [Sprache („Brustprint“) und Farbe („Color“), verwandelt in ein massenhaft gefertigtes modisches Designer-Outfit. Das Individuelle verschwindet. Von dieser Seite droht nur noch der Untergang im Profanen der Massenkultur (vgl. Anm. zu „Algenblüte“).

v.10 Color Algenblüte: Wikipedia: „Als Algenblüte (gelegentlich auch Wasserblüte) bezeichnet man eine plötzliche, massenhafte Vermehrung von Algen oder Cyanobakterien (Blaualgen) in einem Gewässer. Durch die Algenblüte färbt sich die Wasseroberfläche grün, in besonderen Fällen auch blau oder rot (Rote Flut oder Rote Tide), das Wasser wird trüb und „wolkig“. Ursache ist meist eine Überdüngung des Gewässers mit Phosphat.
Im engeren Sinn spricht man von Algenblüten bei der Massenentwicklung jeweils einer einzelnen Algenart bzw. Cyanobakterienart, die sich durch ihre Fähigkeit auszeichnet, sich unmittelbar an oder unter der Wasseroberfläche anzusammeln. Das kann, wie bei verschiedenen Cyanobakterienarten (Microcystis sp., Oscillatoria sp., Anabaena sp. etc.) durch Auftrieb geschehen, oder, wie bei etlichen begeißelten Algenarten (Karenia brevis, sp., Oocystis sp. etc.) durch aktives Aufsuchen der Oberfläche. Das Augentierchen Euglena sanguinea kann dabei die Oberfläche feuerrot färben, eine Oscillatoria-Art (O. rubescens) blut- bis himbeerrot, eine Microcystis-Art himmelblau. Die Bezeichnung „Blüte“ liegt dann nahe.
Bei Algenblüten wird das Licht bereits an der Oberfläche stark geschwächt, so dass nur noch bis zu geringen Tiefen ausreichend Licht für die Photosynthese vorhanden ist. Darunter wird sowohl durch die absinkenden Algen als auch durch die vermehrt wachsenden Konsumenten Sauerstoff verbraucht. Näheres hierzu siehe Ökosystem See. Weiterhin produzieren die Algen und Cyanobakterien häufig toxische Substanzen, die für Lebewesen im See und auch Badende gefährlich sein können (zum Beispiel Microcystine).“
Die Farbe „Algenblüte“ vertritt im Blick auf das Vorbild „Querelle“ die Mandarinenzweige. Sie lockt mit ihrer Oberfläche (irreführendes schönes Farben-Design; falsche „Blüte“) und zieht „mit Designerfingern“ in das darunter liegende lichtschwache, toxisch angereicherte, sauerstoffarme lebensfeindliche Gewässer. Die Farben ihrer „Blüte“ entwickeln sich erst bei „massenhafter Vermehrung“. Die Alge entwickelt ihre verblendende Blütenwirkung nur in der Masse, stirbt als einzelne ab und wird schließlich °durch die (in diesem Milieu) vermehrt wachsenden (Algen-)Konsumenten“ gefressen. Der Tod droht hier von der Seite des Profanen im Aufgehen in der Massenkultur. (s.o.)

v. 12 Lippen: Organ des Sprechens und des hier im Referenzbereich der Aussage enthaltenen Akts des Fellatio, in dessen Lippenformierung das Sprechen hier dargestellt wird („Ihr Lippen… umarmt… seinen Namen“). Das Sprechen selbst wird hier noch als triebbesetztes sinnliches Tun gezeigt („speichelt mit Balsam“), dem es um das magische Aussprechen des phallischen „Namens“ geht, der mit dem Sein (wie im Taufakt) unabtrennbar verbunden ist im Sinne des Ideals eines romantischen (Aus-)Sprechens von Welt. Hier wechselt der Adressat der Ansprache (des An-Spruchs) hin zum Sprecher selbst (vom „du“ zu den „Lippen“), jedoch in der ihm entfremdeten Form seiner entäußerten Sprechorgane („Lippen“). Im Sprechakt der Verinnerlichung in der Selbstansprache, die das gesamte Gedicht grundsätzlich darstellt, ist hier noch der Widerstand in der versuchten Gegenbewegung in die materiale Welt erkennbar. Der („Algen“-) Tod soll aufgehalten werden, bevor er dann schließlich doch im Taufakt der poetischen Formgebung in der endgültigen „Namen“-Zuweisung im Gedicht durch das lyrische Ich selbst als literarischer Form-Tod bewirkt wird: Im -gegenüber der Formvorgabe des Sonetts – überzähligen 15. Vers in einer eigens eingerichteten Strophe wird er (möglicher Doppelbezug auf das „du“ und den „Namen“) im Areal der Signifikanten „bei seinen Brüdern“ „aufgebahrt“, wo er auf die Leerstelle des Begehrens verweist.
Die im Gedicht dargestellte Bewegung einer zunehmenden Verinnerlichung wird gekreuzt durch die Gegenbewegung einer zunehmenden Entfernung (des „du“).

v.12 Matrosen-Mieder: s.o., Hinweis auf Querelle

v.13 seinen Namen: Der modische „Matrosen-Mieder“ wirkt wie ein Panzer gegenüber dem Versuch eines Anrufs in der Adamitischen (Jakob Böhme/Walter Benjamin) Namenssprache. (s.o.) Der An-ruf prallt ab.
Das vorher in der zweiten Person angesprochene Gegenüber rückt in die entferntere Position der dritten Person („seinen“).

v.15 ihn: grammatikalisch möglicher Doppelbezug auf Poss. Pron. („seinen“) und Subst. („Namen“) (s.o.) ermöglicht Doppeldeutung: In der Form gelungenen poetischen Sprechens ist das Sein des Umdichteten aufgehoben und zugleich erledigt (endgültig geformt/getötet). In der Form des Gedichts wird er bei seinen Gedichtbrüdern „aufgebahrt“, nachdem er im Akt des Dichtens „gekreuzigt“, dadurch aber in dieser Form vor dem profanen Tod im Konventionellen bewahrt wurde. Der Akt des Dichtens ist eine Art Kreuzgang mit Sterben und Verlusten. Das lyrische Ich, das hier selbst den Akt der literarischen Lebensbewältigung in der Metaphorik des Todes artikuliert („bahrt ihn auf“), rettet im Gedicht den Verweis auf die Leerstelle des nicht erfüllten und letztlich unerfüllbaren Begehrens.
In gewisser Hinsicht ist der im Bild vom Matrosen aufgerufene „mythisch-metaphysische Überschuss“ Querelles, an dem der im Gedicht zitierte Begleiter des lyrischen Ichs gemessen wird, im lyrischen Ich als Dichter, als den es sich selbst im Gedicht zu erkennen gibt, aufgehoben.

(Heinrich Isecke)

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