Fühlsache

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich redet als rubbellos (v.2) mit einem Spieler, der sich einen Gewinn verspricht. Es nennt Trostpreise (v.5ff), bezeichnet den Hauptgewinn als ernstfall (v.9), der sich dem Glück verdankt, aber hier nicht eindeutig erkennbar ist, weil auch nieten (v.18) im Spiel sind.
Auf der übertragenen Ebene ist das Rubbellos eine Metapher für das Gedicht und der Spieler steht für den Leser. Dringt der Leser genauer in ein Gedicht ein, kann er ‚Trostpreise’ erhalten (z.B. Gedichte, die gängig gefälschte Gefühle zur Sprache bringen und hervorrufen), oder er kann einen Hauptgewinn ziehen (ein Gedicht, das den Leser aus seiner Alltäglichkeit reißt, eine Zumutung ist und die Verbindung zur Transzendenz wieder herstellt (vgl. zu v.9 und zu v.10)). Allerdings ist dieser Hauptgewinn – anders als in einer Lotterie – schwer entzifferbar: Selbst wenn der Leser eine Verbindung zur Transzendenz fühlt, kann er sich nicht sicher sein, ob dieses Gefühl echt ist oder sich gar dem eigenen kopf verdankt.
 
 

Fühlsache

Kein Zweifel
Sie
zögern korrekt
denn wenn Sie
ein bisschen
Genau hinsehn bin ich ein
rubbellos
das Sie
befühlt

Wie Sie so mit der stets charakteristischen
Individualdistanz
hier vor mir doch für Sie auch gilt

5

Trostpreise
per sofort
z.b. die
gängig gefälschte

Rundfahrt
durchs blau Hindostans
Götter in tierblumenkelchen
Die
sylphen
beim mondscheinrundtanz

Aber
der
ernstfall
wenn Sie der trifft
10
Mühsam
nur lässt er und die ohne rest
Er sich wimpernschlagsacht kaum
entziffern

 
Wie wenn Sie der
inneren hutwand
entlang
Nachts
tasten
nach einem gold
in der sicheren hülle
entlang
Bettelfilzglück
eines fremden

15Das hatte am
mittag
die
marktsonne
Ihnen gespendet
 
Und wissen nun nicht ob was Sie da
fühlen

Mattwarmes
obs gar dem
eigenen Kopf
nur sich dankt
Denn
nieten
auch die spreuleicht sich zerstreuen
Die foppen Sie
handspiegleinklein

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel des Gedichtes bedient sich eines Neologismus. Im Hintergrund ist das Wort ‚Gefühlssache’ mitzuhören. Es wird angekündigt, dass eine ‚Sache’ nicht in erster Linie rational untersucht, sondern ein Zugang über das ‚Fühlen’ zu ihr hergestellt werden soll.

v.1 Kein zweifel: Das Gedicht eröffnet mit einer scheinbaren Gewissheit, die im Folgenden aber sofort aufgehoben wird (Sie zögern v.1). Die Methode des Zweifels begründet seit Descartes das aufgeklärte rationale Denken, das unser modernes Schicksal ist.

v.1 Sie: Der Leser wird von einem lyrischen Ich, das sich in der nächsten Zeile als ein rubbellos bezeichnet, angeredet.

v.1 zögern korrekt: Die Aufhebung der Gewissheit wird mit dem Adverb korrekt, das im Sprachgebrauch eigentlich ‚fehlerfrei, tadellos‘ bedeutet, ironisiert. Der moderne Gebrauch des Wortes für ‚regelkonform‘ schwingt mit, so dass das Zögern wieder zur geltenden Norm erhoben wird.

v.2f denn wenn Sie ein bisschen / Genau hinsehn: Die Moderne definiert sich über das Genau hinsehn und suggeriert damit Exaktheit und Gewissheit. Durch ein bisschen wird diese Überzeugung relativiert. Das Genau hinsehn kann auch als Aufforderung an den Leser interpretiert werden, das Gedicht selbst genauer zu betrachten.

v.2 bin ich ein rubbellos: Ein Rubbellos besteht aus einem Papierträger mit Aufdruck und einem maschinell aufgebrachten Aufkleber, der auf einer transparenten Folie eine leicht wegzurubbelnde Schicht aus gummiähnlicher Substanz besitzt. (Das erste Rubbellos in Europa wurde 1978 von der Loterie Romande aus der Schweiz ausgegeben.) Die Identifizierung des lyrischen Ich mit einem Rubbellos ist eine Metapher, die das rubbellos mit dem Gedicht gleichsetzt: So wie man die Schicht aus gummiähnlicher Substanz wegrubbeln muss, um zum eventuellen Gewinn zu gelangen, muss man die Oberfläche des Gedichtes durchdringen. Das Los als solches ist auch ein Symbol für das Schicksal.

v.2 das Sie befühlt: Pointiert wird hier die Aktivitätsrichtung umgedreht: Normalerweise ‚untersucht‘ der Leser das Gedicht bzw. das Los. Hier wird der Leser vom Gedicht ‚befühlt‘. Das Genau hinsehn steht für die rationale Dimension, das ‚Befühlen‘ für die das nur Rationale überschreitende Dimension. Vergleichbar ist diese Umkehrung mit Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ (v.13f), in dem es von dem Torso heißt: „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht“.

v.3f stets charakteristischen / Individualdistanz: Das moderne Individuum ist dadurch charakterisiert, dass es zur ursprünglichen Einheit des Seins Distanz geschaffen hat.

v.4f doch für Sie auch gilt // Trostpreise: Das moderne Individuum erhält statt der Einheit des Seins nur Trostpreise, von denen einer in den folgenden Versen genannt wird.

v.5 per sofort: flapsige Zusammenziehung aus dem Mittel per (der Kommunikation) und der Beschleunigung (sofort) durch die Technik

v.5 gängig gefälschte: Durch die g-Alliteration mitverursachte ungewöhnliche Formulierung für ‚meistens gefälschte’. Das gängig zugrundeliegende Verb ‚gehen’ steht im Gegensatz zum die Strophe schließenden rundtanz (v.8). Das ‚Gefälscht’ entlarvt die Trostpreise als dem Verblendungszusammenhang der Warenwelt zugehörig.

v.6ff: Auf der Realebene werden die Trostpreise ironisiert, die in Lotterien gewonnen werden können: Rundfahrten mit Verkauf von z.B. Blumenvasen und Kitschbildern. Auf der übertragenen Ebene weisen die ‚Fahrt ins Blaue’, ‚Hindostan’ (alte Form für Hindustan=Indien), die Götter, die ‚Kelche’ und die sylphen auf das spirituelle Bedürfnis der Leser hin.

v.8 sylphen: Sylphen sind mythologische Naturgeister, die dem Element Luft zugeordnet sind.

v.9: Auf der Realebene: Wenn das Rubbellos der Hauptgewinn ist. Übertragen: Wenn der Leser vom tieferen Sinn des Gedichtes getroffen wird bzw. wenn sich das Schicksal, das Los dem Menschen offenbart.

v.9 ernstfall: Die Bezeichnung des ‚Hauptgewinns’ als ernstfall weist darauf hin, dass die Begegnung mit dem tieferen Sinn bzw. dem Schicksal nicht ungefährlich ist, weil sie den Leser in seiner alltäglichen Gewohnheit/Gewissheit verstört.

v.10f: Der ‚Hauptgewinn’ ist nur Mühsam erreichbar, er erschießt sich nie ohne rest im Diesseits und kann nur vorsichtig einen kurzen Augenblick wahrgenommen werden. Damit ist die Transzendenz gekennzeichnet.

v.11 entziffern: Von der arabischen Herkunft des Wortes ist nicht nur ‚Ziffer’ abgeleitet, sondern auch ‚Chiffre’, die auf einen zugrundeliegenden Geheimtext verweist.

v.12 inneren hutwand: Auf der Realebene das Band im Inneren des Hutes, in dem etwas versteckt sicher aufbewahrt werden kann. Übertragen: das im Inneren des Schädels liegende Gehirn als Ort des Bewusstseins.

v.13 Nachts: Hier steht die Nacht für die Transzendenzferne, in der nach der Erleuchtung (gold) gesucht wird.

v.13 tasten: analog zu befühlt (v.2).

v.13 in der sicheren hülle: Die Umhüllung für die Transzendenz ist der Monstranz vergleichbar.

v.14 Bettelfilzglück: Übereinander gelegt sind hier das Betteln, der Filzhut und das Lotterieglück. Das Warten des Bettlers auf eine Spende in seinem Hut bzw. das Ziehen des Loses aus einem Hut entspricht der Möglichkeit, dass der Leser im Gedicht eine Spur der Transzendenz findet.

v.14 eines fremden: Hinweis darauf, dass die Transzendenz der Gegenwart fremd geworden ist.

v.15 mittag: Vom Mittag wird im Plusquamperfekt gesprochen (hatte … gespendet, sonst steht das gesamte Gedicht im Präsens), d.h. der Mittag wird als Vorvergangenheit, als Transzendenznähe, als Gegensatz zur Nacht verstanden.

v.15 marktsonne: Der Markt ist hier als das mittelalterliche Zentrum gedacht, an dem auch die Kirche lag. Die Sonne entspricht dem Gold.

v.16: Die Ratio kann das Fühlen nicht erfassen, sie steht als Wissen im Gegensatz zur ‚gefühlten‘ Transzendenz.

v.17 Mattwarmes: Die Wärme der Sonne (die Nähe der Transzendenz) ist heute (Nachts) nur noch herabgemindert spürbar.

v.17 obs gar dem eigenen Kopf nur sich dankt: Angespielt wird auf die moderne Auffassung, dass die Transzendenz nur ein Hirngespinst sei. Auf das Gedicht bezogen, lässt es den Leser im Ungewissen, ob er das Gedicht als Interpret versteht oder nur sich selbst darin spiegelt.

v.18: Die in der Lotterie enthaltenen Nieten sind wie Spreu (Der ernstfall (v.9) bzw. das gold (v.13), sind wie das Korn, der Weizen. Im Hintergrund leuchtet ‚Die Spreu vom Weizen trennen‘ (nach Mt. 3,12) auf). Das Gedicht, das dem Leser ermöglicht, eine Verbindung zur Transzendenz zu fühlen, wäre wie Korn. Ein Gedicht, in dem der Leser nur eigenes fände, wäre wie Spreu; es diente nur der Zerstreuung.

v.19 handspiegleinklein: Ein Rubbellos hat die Größe eines Handspiegels. Angespielt wird auf das Märchen „Schneewittchen“ mit dem Spruch „Spieglein, Spieglein an der Wand“. Dies verweist nochmals darauf, dass der Leser möglicherweise nur sich selbst im Gedicht findet (vgl. zu v.17).

Aspekte der Form:

Das Reimschema: a/b/a/b // a/b/a/b // a/x/a // a/b/c/c // b/a/d/d. Der Mittelvers 10 ist scheinbar eine Waise (ungereimt), wird aber durch den Binnenreim (lässt/rest) gebunden. Die beiden Schlussverse reimen unrein (streuen/klein), dies wird aber wiederum durch die Binnenreime (spreu – streuen und lein – klein) kompensiert.

v.1ff: Der Sprachgebrauch der ersten fünf Verse ist durch Unschärfe gekennzeichnet (zögern korrekt, bisschen genau, Wie Sie so, per sofort, gängig gefälscht). Dieser scheinbar nachlässige Umgang mit der Sprache spiegelt die Unsicherheit, die ein Lotteriepieler empfindet, bevor klar ist, ob er einen Gewinn oder eine Niete gezogen hat.

v.4 hier vor mir: Der Satz wäre z.B. mit ‚sitzen‘ zu ergänzen. Der Abbruch des Satzes verweigert der Dimension des Rationalen die Vollständigkeit.

v.10 Mittelvers des Gedichtes: Die Mittelstellung wird auch durch das regelmäßige Metrum unterstrichen: 3 Daktylen mit einer zusätzlichen Hebung am Versende (- u u – u u – u u -). Zusammen mit dem folgenden Vers entsteht sich sogar ein Hexameter, dem allerdings ein zusätzlicher Versfuß angefügt ist.

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