Berlin, Tauentzien

Überblickskommentar:

Dem Gedicht liegt der Hylas-Mythos zugrunde. Hylas war der jugendliche und sehr schöne Freund des Herakles, den er beständig begleitete. Er blieb als Waffenträger bei Herakles, als dieser sich den Argonauten anschloss. Gemeinsam suchten sie nach dem goldenen Vlies. Die Wege von Hylas und Herakles trennten sich in Kleinasien, an der Küste von Mysien: Beim Wasserholen zog die Nymphe Dryope mit ihren Schwestern Hylas in ihren Quellteich. Herakles stürzte sich „Hylas, Hylas“ rufend in die Wälder, suchte lange,  blieb aber erfolglos. Weil die Argonauten nicht warten wollten, zogen sie ohne Herakles weiter.
Auf der konkreten Ebene geht ein vermutlich älterer Mann mit einem jüngeren (möglicherweise nach einer Liebesnacht (heut früh)) auf dem Tauentzien spazieren. Der Jüngere kauft ein und kehrt neueingekleidet zurück. Dem Älteren wird die Differenz in der Lebenseinstellung schmerzhaft bewusst, er verzichtet auf die Beziehung und hebt sie auf die poetologische Ebene.
Die Begriffe (Print, Lippen, Namen, Silben) weisen auf die poetologische Dimension hin: Der Dichter ruft Verlorenes, Mythisches ins Bewusstsein zurück und schreibt dem Vorgang der Verwandlung in Sprache damit eine heilende Funktion zu.
Der Übergang von Herakles/Hylas-mythos zum Spaziergang eines Älteren mit dem Geliebten auf dem Tauentzien und der von der Argo zum modernen Schiff sowie der vom See zum Einkaufstempel skizziert den Übergang vom mythischen Zeitalter zum technisch-wissenschaftlichen und damit einen Verlust von Dimensionen jenseits der Rationalität.

Berlin, Tauentzien

Halt, halt! Wohin?
Sagtest du nicht
, du selbst, heut früh,
wir seien, im starken
Gleichlauf
des Gefühls

trotz hier ein wenig
Rost
und dort mehr
Öl
,
desselben
Zukunftsschiffes Doppelschraube
? Die
 
5gradlinig durch den
Oberflächenschaum

den Bug – – – Jetzt aber,
wie verdurstend
, stürzt
du
seitwärts
in dieses
peepshowglitzernde

Stahlglaslifestyletriumphportal
: Und, wow,

erscheinst
in vollem
Outdoor-Outfit
wieder
,
10
BLUMARINE-Brustprint, Color Algenblüte

die mit Designerfingern an dir zieht
Hylas und die Nymphen

Ihr Lippen
, flink, auch wenn er
am Matrosen-Mieder

abspringt
,
einmal umarmt noch seinen Namen

und jede Silbe
speichelt mit Balsam
!

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Dann bahrt ihn auf bei seinen Brüdern.

 

Stellenkommentar:

Titel:   Benannt wurde der Tauentzien nach dem preußischen General Bogislav Friedrich Emanuel von Tauentzien. Die Tauentzienstraße ist die am höchsten frequentierte Shoppingmeile der Stadt. Im Wort klingt gleichzeitig das Ziehen eines Zuges (s. Argonauten im Überblickskommentar) an.

v.1    Halt, Halt! Wohin?:  Anklang an den Suchruf des Herakles (Hylas, Hylas). Mit Beginn des Gedichtes wird das Auseinanderdriften zweier Positionen verdeutlicht.

v.1/2    Sagtest du nicht … Gleichlauf des Gefühls: (vergeblicher) Versuch, den sich Entfernenden auf eine gemeinsame beglaubigte Position zurückzuholen.

v.2    Gleichlauf:  Begriff aus der Nachrichtentechnik, eine Synchronisation wird zwischen Sendestation und Empfangsstation hergestellt und aufrechterhalten, sodass alle gesendeten Daten vom Empfänger auch richtig erkannt werden.

v.3    Rost  / Öl:  Hinweis auf den Altersunterschied der beiden Personen (Rost=Alter, Öl=Geschmeidigkeit der Jugend).

v.4    Zukunftsschiffes Doppelschraube:  Die turboelektrische Doppelschraube ist eine Antriebsform maschinengetriebener Schiffe. Im Begriff ‚Zukunftsschiff‘ überlagert sich die Hoffnung auf eine gemeinsame persönliche Entwicklung mit der bereits erfolgten technischen Entwicklung der Schifffahrt. Die Metaphern aus dem Bereich der Nautik (Rost/Öl/Zukunftsschiff/Doppelschraube/Bug) verweisen zwar auf das mythische Schiff Argo, sind aber der technischen Entwicklung angepasst.

v.5    Oberflächenschaum:  Kulturkritische Metapher, die Gegenwart wird als oberflächlich und aus Schaum bestehend gekennzeichnet, die gemeinsame Fahrt soll diese Oberflächlichkeit überwinden.

v.6    wie verdurstend:  Hylas wollte, als er verschwand, Wasser aus einem nahegelegenen Teich holen.

v.7    seitwärts:  den Kurs verlassend, Gegensatz zu gradlinig (v.5).

v.7    peepshowglitzernde: mit  ‚glitzernd‘ wird die Oberfläche des Teiches, aus dem Hylas Wasser holen will, evoziert, gleichzeitig wird auf den verführerischen Glanz, die Oberflächlichkeit der Gegenwart (s. zu v.5) verwiesen. ‚peepshow‘ charakterisiert die einseitig nach Sex strebende, voyeuristische Neigung des sich Entfernenden.

v.8    Stahlglaslifestyletriumphportal:  Stahl und Glas als zwei kalte Materialien; ‚Lifestyle‘ (stark auf Hedonismus, Luxus und Konsum ausgerichtet) als Substitut für das frühere ‚Lebensziel‘ (in der heilsgeschichtlichen Auffassung); ‚Triumphportal‘ als Siegeszeichen der Moderne. Die Zusammenziehung dieser Begriffe zeigt die Megalomanie der Moderne. Gemeint ist vermutlich das Gebäude Nike Town am Tauentzien.

v.9    erscheinst … wieder: im Gegensatz zur mythischen Vorlage erscheint hier der Jüngere wieder, allerdings verwandelt.

v.9f    Outdoor-Outfit … BLUMARINE-Brustprint, Color Algenblüte: Begriffe, die die modische Kleidung des Verwandelten charakterisieren und damit auf dessen Oberflächlichkeit hinweisen. Die Dopplung des ‚Out‘ ist ebenfalls Zeichen für die Äußerlichkeit. Mit ‚Marine‘ und ‚Algen‘ wird auf den Seebereich verwiesen, in dem Hylas (s.o.) versinkt. ‚Blumarine‘ Luxusmode-Label von Anna Molinari.

v.11    mit Designerfingern an dir zieht: Auf der mythischen Ebene wird das Ziehen der Nymphe Dryope gezeigt. Hier klingt auch Goethes Gedicht „Der Fischer“ an: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin / Und ward nicht mehr gesehn.“ (Schlussverse).

v.12f    Ihr Lippen … einmal umarmt noch seinen Namen: Bild für den (Abschieds-)Kuss und gleichzeitig der Ruf des Herakles nach Hylas. (s.a. oben  Überblickskommentar zur poetologischen Dimension).

v.12f   am Matrosen-Mieder / abspringt: Vergleichbar einem Stein, der auf der Oberfläche eines Sees aufditscht.

v.14    speichelt mit Balsam: Anklang an biblische Wunderheilungen: Speichel als heilender Balsam (z.B. Tobias (2.Buch Könige) und Christus (Johannes-Evangelium)), der wieder sehend macht.

v.15:    Der Aufgebahrte ist sowohl der im Gedicht Angeredete als auch auf poetologischer Ebene dessen Name. Seine Brüder sind im mythologischen Bereich Ganymed und Hyakinthos (s. Epheben-Episoden I und III). Der Schlussvers betrauert das Ende einer Liebesbeziehung und den Verlust der mythischer Bezüge in der Gegenwart. Seine Funktion als Kommentar wird deutlich durch die Überzähligkeit (s. Aspekte der Form: zur Sonettform).

 

Aspekte der Form:

Das Gedicht ist ein Sonett mit einem zusätzlichem 15. Vers. Reimschema ist abba / cddc / eff / egg. Der 15. Vers (Brüdern) reimt mit seinem ü/i-Klang auf mehrere Verse (Mieder / Blüte / Mieder /stürzt / Gefühl / früh); dadurch wird seine Sonderstellung sowohl hervor- als auch aufgehoben.

v.1: Die zerstückelte Syntax des 1. Verses spiegelt die Trennung der Entwicklungswege.

v.4/5.: Der Verssprung und die Ellipse, der unvollständige Satz, verdeutlichen die Gestörtheit der Beziehung.

v.6: Die Gedankenstriche zeigen das Zerreißen der Beziehung.

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