Abverkauf

Überblickskommentar:

Das Gedicht beginnt mit Kindern, die auf einer Decke einen Abverkauf ihrer Spielsachen veranstalten und damit einen Übergang in die heutige Welt der Erwachsenen vollziehen wollen (v.1-4). Das lyrische Ich stellt sich vor, wie sie am Abend ihren Ertrag berechnen (v.5-14) und parallelisiert das mit einer Zinseszinsrechnung, deren Ergebnis unseren ganzen Planeten in Gold aufwiegen würde (‚Josephspfennig‘ s. zu v.9-14). Der Übergang der Kinder in die Erwachsenenwelt wird kontrastiert mit einem echten Übergangsritual der Massai, dem Eunuto (v.15-21). Die Rituale der Massai sind der prärationalen Kinderwelt der Märchen vergleichbar (v.22-26); ihr gegenüber steht die materiell orientierte Erwachsenenwelt (anhand der Beispiele Tupperware Presentation und des Verkaufs Alaskas v.27-31), anhand derer gezeigt wird, dass der heutige Mensch zwar den Preis, aber nicht den Wert der Dinge kennt (32f).  Das lyrische Ich fragt im hohen Ton der Oden Hölderlins, wer die ehemals transzendenzerfüllte ‚goldene Zeit‘ (die Kindheit) wieder zum Klingen bringen kann (v.31-37) und klagt in der Form von „Hyperions Schicksalslied“ über die von der Gier des Geldes beherrschte transzendenzlose Gegenwart (v.39-44). Die Abschlussverse knüpfen an das Eingangsbild des Spielsachenverkaufs an und konstatieren – mit dem Verstummen der Religion im Geschrei des Marktes – den Abverkauf von Seele.
 

Abverkauf


 
Kinder kinder
auf den knien

Auf dem hintern
und das
püppchen

Für
fünf
und zwei englein je Für
sechs

Und das
märchen
für
dreizehn

5
Heut abend
rasch aber 
rafft ihr
die decken zusammen
Und rechnet milchmädchen ihr süßen
und zählt und berechnet

Das marktwunder
mit findigen fingern

Denn unser Herr Jesus bei seiner geburt

So hat man von klein euch erzählt
ja wenn man

10
Hätte wer damals ein pfiffiger ältervater vielleicht
für bloß vier prozent

Einen einzigen pfennig
nur wenn er den seinerzeit

Größer als unser ganzer planet
wär der heut ein
Goldklumpen
jawohl und
auf dem könntet ihr

15
Alle zusammen
ein echtes Eunuto z.b.

Mausnackt
auf dem kreidefels ihrer ahnen
Bemalen die einer dem andern die haut so
Superachtdokumäßige jagdszenen
und endlich
Wenn vorher der gang mit dem holzspeer gut ging
20Dann also her mit der löwenmähne und rauf auf den frisch geschorenen
Buschkriegerschädel
denn
gestern erinnert euch

Gestern
wie wohnte da noch das
froschkönigtum

Wohnte in seinem thron herzförmig

Im morphischen feld
eures püppchens

25
Und träumte das lied in der zauberlaute

In eurer zwei engel
morphischer resonanz

Heut aber ist hier und ist jetzt
und alle
zweikommafünf
sekunden
Weltweit startet irgendwo eine
Tupperware Presentation

Da gilt
es hallo und das holzauge offen
nicht wahr
um nicht
30
Als närrischer zar
der für nur vier zehntausendstel cents
Kurzsichtig die schatzhöhle
unter dem schnee
wer aber

Knowing the price of everything
morgen wenn früh
And the value of nothing
die erste sonne wenn die ach

Ihre goldenen rosen

35
Wer wird sie zum klingen bringen
im heiligen

Organismus
der welt dass
melodisch der

Muskel sich spannt unter der haut
eurer seele nur

Münzbilder
aus

Euren händen rasseln sie
Hyperions Schicksalslied
40
Auf den markt
und
stürzen

Aus ihren rändern
um scheppernd

Den tag zu verschwenden
und
Machen
das nichtsein
stark bis
ein faules

Holz ihn nur fahl noch erhellt

45Selbst die märchenkassette De Fischer un sine Fru
Kaum hörbar schon jetzt

Schweigt die stimme des fischs

Wenn einer den mund so weit

Aufreißen
will
 
wie die fischersfrau

 

Stellenkommentare:

Titel:    Als Abverkauf wird vor allem im Einzelhandel ein Aktionsverkauf bezeichnet, bei dem zeitlich, räumlich oder sortimentsbezogen besondere Kaufanreize (Rabatte, Preisausschreiben o.ä.) geboten werden. Mit Abverkauf wird mitunter auch herkömmlicher Warenverkauf bezeichnet, um dem Kunden zu suggerieren, dass es sich um ein günstiges Kaufangebot handeln würde.

v.1         Kinder kinder:  Angesprochen werden kniende bzw. sitzende Mädchen (vgl. v.6), die auf decken (v.5) ihr altes Spielzeug (püppchen (v.2), zwei englein (v.3) und eine märchenkassette (v.45)) feilbieten. Ironisch meint man mit dem Ausruf ‚Kinder, Kinder‘ Erwachsene, die sich kindisch verhalten. Gottfried Benn charakterisiert in dem Gedicht „Der Broadway singt und tanzt“, mit dem Schlussvers „Kinder ! Kinder !“ die unreife amerikanische Unterhaltungsindustrie und grenzt sie gegen die europäische Kultur ab.

v.1    auf den knien:  Traditionell ist das Knien eine Demutsgeste (z.B. im Gebet), bei der sich der Kniende einem Mächtigeren (freiwillig oder unfreiwillig) unterwirft.  Hier zeigt das lyrische Ich also Kinder, die sich schon früh dem Markt unterwerfen (bzw. ihn anbeten).

v.2    Auf dem hintern:  Die Benutzung des umgangssprachlichen Begriffs Auf dem hintern (statt des Verbs ‚sitzen‘) deutet auf eine negative Bewertung des Verkaufsvorgangs hin.

v.2    püppchen:  Die Bezeichnung der Puppe als püppchen weist auf die Kindersprache hin (ebenso wie englein (v.3)).

v.3f    fünf … sechs / … dreizehn:  Von den Kindern festgelegte Verkaufspreise.  5 + 2 x 6 + 13 = 30. Die Zahl 30 gemahnt an die dreißig Silberlinge, für die Judas Christus ‚verkaufte’.

v.4    das märchen:  Gemeint ist eine märchenkassette (v.45), auf der sich wahrscheinlich die Grimmschen Märchen „Von dem Fischer und syner Fru“ (Nr.19) und „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ (Nr. 1) befindet (vgl. v.22 und v.51ff).

v.5    Heut abend … rafft ihr:  Auf übertragener Ebene wird die Gegenwart als Spätzeit charakterisiert, in der das Materielle‚ das Geld-Raffen dominiert.

v.6    Und rechnet milchmädchen ihr süßen:  Der Begriff „Milchmädchenrechnung“ bezeichnet eine auf Trugschlüssen oder Illusionen beruhende Rechnung. Der Begriff geht vermutlich auf die Fabel „Die Milchfrau“ von Johann Wilhelm Ludwig Gleim zurück. Erzählt wird die Geschichte einer Bauersfrau, die sich auf dem Weg zum Markt bereits vorstellt, was mit dem Erlös für die Milch alles machbar wäre, dann aber die Milch verschüttet. Diese Herkunftserklärung zielt insbesondere auf den Aspekt des Selbstbetruges ab.

v.6f    Und rechnet … und zählt und berechnet / Das marktwunder:  Suggeriert wird hier einerseits die Berechenbarkeit des Marktes, dagegen steht andererseits die ‚Unberechenbarkeit‘ des Wunders. Damit wird einem immanenten Bereich (dem Markt) ironisch eine transzendente Qualität (das Wunder) zugesprochen. Zudem klingt der Mythos des ‚Wirtschaftswunders‘ an.

v.7    mit findigen fingern:  Metapher für Geldgier. Denken kann man auch an den ‚Erfindungsreichtum‘ des Marktes, der noch die letzte Ressource findet, ‚mit langen, findigen Fingern die Mutter Erde bestiehlt‘ und sie ‚gnadenlos‘ ausbeutet.

v.8    Denn unser Herr Jesus bei seiner geburt:  Aufgenommen wird mit der geburt das Motiv der Kinder (hier Jesus als Gotteskind in der Krippe) und in Verbindung mit dem marktwunder die biblische Erzählung, wie Jesus die Wechsler aus dem Tempel austreibt. Das vereinnahmende Possessivpronomen unser konstituiert ironisch einen Transzendenzbezug, der der Gegenwart abhanden gekommen ist. Die begründende Konjunktion Denn unterstellt zunächst einen nichtvorhandenen Kausalzusammenhang mit dem Vorhergehenden. Der nachfolgende Gedanke einer Geldanlage bei Jesu Geburt (vgl. v.13-19) rechtfertigt dann die Konjunktion.

v.9    So hat man von klein euch erzählt:  Die Geldanlage wird hier als Märchen, das man Kindern erzählen kann, dargestellt. Das fehlende ‚auf‘ (in ‚von klein auf‘) legt nahe, dass den Kindern damit nur ‚Kleinigkeiten‘, nicht etwa große Zusammenhänge beigebracht, erzählt werden.

v.9f    ja wenn man / Hätte wer damals ein pfiffiger ältervater vielleicht:  Der dreifache Ansatz zeigt die Irrealität der Geldanlage, verweist aber auch auf die Findigkeit und Pfiffigkeit der Ratio bis zurück z.B. zu einem fiktiven Anlageberater (pfiffiger ältervater), der im Gegensatz zu dem christlichen Vater-Gott nicht den Geist im Menschen inkarniert (bei Christi Geburt), sondern Geld investiert.

v.9-14    für bloß vier prozent / Einen einzigen pfennig … Goldklumpen:  zu ergänzen wäre ‚angelegt’. Das Gedankenexperiment vom ‚Josephspfennig’ geht zurück auf Richard Price und illustriert in der Zinsrechnung das Wachstum eines über einen langen Zeitraum angelegten Vermögens durch Zinseszinsen. Geld, das Zinseszinsen trägt, wächst anfangs langsam; da aber die Rate des Wachstums sich fortwährend beschleunigt, wird sie nach einiger Zeit so rasch, dass sie jeder Vorstellung spottet. Ein Pfennig, ausgeliehen bei der Geburt unsers Erlösers auf Zinseszinsen zu 4 %, würde schon jetzt zu einer größeren Summe herangewachsen sein, als enthalten wäre in einer größeren Erde als unser ganzer planet (v.12), völlig aus gediegenem Gold.

v.14f    auf dem könntet ihr / Alle zusammen: zu ergänzen wäre ‚sitzen’.

v.15-21 ein echtes Eunuto z.b. / … / Buschkriegerschädel:  Bei dem Stamm der Massai in Kenia werden die Lebensabschnitte durch Übergangsrituale  markiert. Das Eunuto-Ritual beginnt mit einer Wanderung zum Ritualplatz, auf der die Krieger entrindete Holzstöcke statt der Speere tragen. Die Männer sammeln sich an einem heiligen Kreidefelsen und bemalen sich gegenseitig mit Mustern, die ihre Jagdtaten darstellen. Nachdem ihnen ihre Mütter die Haare geschoren haben, werden sie von den Ältesten mit Honigbier und Kuhmilch besprüht und anschließend in den Kreis der Ältesten aufgenommen mit den Worten:  „Legt eure Waffen nieder und benutzt stattdessen euren Kopf und eure Weisheit“. (National Geographic Deutschland 10/1999, Artikel „Massai – Der Schritt zur Reife“ C. Beckwith, A. Fisher). Dieses Übergangsritual wird parallelisiert mit dem Verhalten der Kinder (vgl. zu v.1), die mit ihren Verkaufsbemühungen in die Welt der Erwachsenen eintreten.

v.16    Mausnackt:  Unübliche Wortbildung zur Verdeutlichung der völligen Nacktheit. Die Massai werden durch Tiervergleiche charakterisiert (s. auch v.20 löwenmähne), um ihre Nähe zur Natur zu betonen.

v.18    Superachtdokumäßige jagdszenen:  Super8 ist ein Schmalspurfilmformat, das früher häufig für Dokumentationen genutzt wurde.

v.21f    gestern erinnert euch / Gestern:  Das ‚Gestern’ bezeichnet die Zeit, in der die Kinder noch an Märchen und Mythen glaubten. Im Zusammenhang mit  Heut abend  (Gegenwart, vgl. zu v. 5) und mit damals sowie seinerzeit (v.10 und 11, der religiösen Zeit) bezeichnet gestern eine mythische Zeit.

v.22    froschkönigtum:  Auch das Grimmsche Märchen „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ zeigt einen Übergang von einer Entwicklungsstufe zur anderen: vom Frosch zum Prinzen.

v.23    Überlagerung zweier Bilder: ‚Der König herrscht auf seinem Thron’ und ‚Das Märchen wohnt im Herzen der Kinder’.

v.24    Im morphischen feld:  Als morphisches Feld bezeichnete der britische Biologe Rupert Sheldrake ein hypothetisches Feld, das als „formbildende Verursachung“ für die Entwicklung von Strukturen sowohl in der Biologie, Physik, Chemie, aber auch in der Gesellschaft verantwortlich sein soll. Das in den Versen 22-26 beschriebene ‚morphische Feld’ zeigt seine formbildende Potenz in den kindlichen Strukturen, die gekennzeichnet sind dadurch, dass das Märchen noch lebendig ist, dass die Puppe noch eine Ausstrahlung hat und nicht unbeseelt ist und dass die Engel noch reagieren.

v.25:    Anspielung auf das Gedicht „Wünschelrute“ von J.F.v.Eichendorff: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ An die Stelle der Eichendorff’schen ‚Wünschelrute’ tritt hier in der Metapher der zauberlaute das Gedicht, das als Instrument dazu dient, die verborgenen transzendenten Dimensionen der Dinge zu wecken. Diese poetologische programmatische Aussage bildet nicht zufällig den Mittelvers des Gedichtes.

v.26    morphischer resonanz:  Ein morphisches Feld soll laut Sheldrake eine Kraft zur Verfügung stellen, welche die Entwicklung eines Organismus steuert, sodass er eine Form annimmt, die anderen Exemplaren seiner Spezies ähnelt. Ein Rückkoppelungsmechanismus namens ‚morphische Resonanz’ soll sowohl zu Veränderungen an diesem Muster führen als auch erklären, warum etwa Menschen während ihrer Entwicklung die spezifische Form ihrer Art annehmen. Hier bilden die zwei engel den ‚Rückkopplungsmechanismus’, der die Menschen mit der Transzendenz verbindet.

v.27    Heut aber ist hier und ist jetzt:  Die in den vorhergehenden Versen geschilderte Erinnerung an frühere, kindliche, noch Transzendenz verbundene Zeiten wird vom lyrischen Ich abrupt beendet: die Gegenwart ist beherrscht von Waren und ihrer Darbietung.

v.27    zweikommafünf:  ironische Anknüpfung an v.3 fünf und zwei. Gleichzeitig wird der zentrale Vers 25 ‚dezimiert’ zu 2,5.

v.28    Tupperware Presentation: Tupperware ist ein Markenname, unter dem das gleichnamige US-amerikanische Unternehmen mehrheitlich aus Kunststoff bestehende Küchen- und Haushaltsartikel auf privaten Partys vertreibt. Laut Firmenangaben fanden im Jahr 2006 weltweit 11,9 Millionen solcher Verkaufsveranstaltungen statt, also ca. alle zweikommafünf sekunden. Mit diesen Privatverkaufsveranstaltungen ist der zu Beginn des Gedichts geschilderte Spielsachenverkauf der Kinder vergleichbar.

v.29    Da gilt es … nicht wahr:  Ironischer Kommentar zu den bei Verkaufsveranstaltungen üblichem Begrüßungsritual (hallo) und der dort herrschenden Schnäppchenmentalität (‚Holzauge sei wachsam’). Das nicht wahr stellt einerseits satirisch den Konsens unter den Teilnehmern her, andererseits ist es eine Anmerkung des lyrischen Ich zur Nichtigkeit solcher Veranstaltungen.

v.30f    Als närrischer zar … / … unter dem schnee:  Der Zar Alexander II. verkaufte Alaska für 7,2 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten. Dieser Kauf wurde mit einem Quadratmeterpreis von nur 0,0004 Cent (vier zehntausendstel cents) einer der billigsten Landkäufe der Geschichte. Der Ankauf war gleichwohl in den USA sehr umstritten, der Rohstoffreichtum Alaskas (Schatzhöhle unter dem schnee) wurde erst später bekannt. Kurzsichtig steht im pointierten Gegensatz zum holzauge offen (v.29).

v.31ff    wer aber / … wenn früh / … die erste Sonne wenn die ach / Ihre goldenen rosen / wer wird sie zum klingen bringen:  Diese Fragen werden vom lyrischen Ich im hohen, klagenden Ton der Oden Hölderlins gestellt. Wie er fragt das lyrische Ich nach einem, der die transzendenzlose Zeit (Gegenwart, Heut abend v.5) überwindet und früh (Zukunft, Beginn einer neuen ‚Götterzeit‘) durch Anrufung der aufgehenden Sonne (Helios/Apoll) und ihrer Strahlen (goldenen rosen (v.34)) die Dinge wieder zum Klingen bringt. Die Frage ist natürlich rhetorisch: Gefragt ist der Dichter.

v.32f    Knowing the price of everything … / And the value of nothing:  Oscar Wilde, „Lady Windermeres Fächer“, 3. Akt: „A cynic is a man who knows the price of everything and the value of nothing.“ (Ein Zyniker ist jemand,  der den Preis von allem kennt, aber keinen Wert anerkennt). Der Gegensatz von price und value entspricht dem Gegensatz von Materialismus und Idealismus.

v.35f    im heiligen / Organismus der welt:  Im Gegensatz zu Auffassung der Moderne, dass die transzendenzlose Welt ein bloßes unverbundenes  Sammelsurium von Gegenständen sei, wird die erhoffte neue ‚Götterzeit‘ (vgl. zu v.31ff) als heiliger, lebendiger Organismus begriffen.

v.36f    melodisch der / Muskel sich spannt unter der haut:  Während des Schlafes ist die Muskelspannung (Muskeltonus) reduziert, während sich im Wachzustand die Muskeln spannen. Der Schlaf ist hier als transzendenzferne Gegenwart zu sehen, das Aufwachen als durch den Dichter und die Melodie der Dichtung herbeigerufenes Nahen der Götter.

v.37f    unter der haut eurer seele nur / Münzbilder:  Was ‚unter die Haut geht‘ ist das ‚uns‘ stark Bewegende. Auch die moderne  Seele hat ihre eigene Bilderwelt: das ‚Münzbild’ prägt das Bewusstsein der Moderne und ist als Geld das Äquivalent der Dinge.

v.38ff    aus / Euren händen rasseln sie / Auf den markt:  Das ‚Rasseln‘ steht, wie auch das ‚Scheppern‘ (v.41) im Gegensatz zur Melodie der Dichtung (vgl. zu v.36f). Das Bild des aus den Händen fallenden Geldes evoziert die biblische Erzählung der Tempelaustreibung: Jesus vertreibt die Wechsler und Händler mit folgenden Worten aus dem Tempel: „Schafft das weg von hier! Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Kaufhause!“ (Joh. 2,13-16). Im Gegensatz hierzu hat die Moderne aus einer transzendenzerfüllten Vergangenheit eine transzendenzlose Gegenwart, den Markt gemacht. Die Verse korrespondieren mit den Versen 6f: und zählt und berechnet / Das marktwunder mit findigen fingern.

v.40f    stürzen / Aus ihren rändern:  Mit dem Begriff ‚Ränder‘ wird gezeigt, dass das Geld zwar im Zentrum einer am Markt orientierten Welt steht,  im heiligen / Organismus der welt (v.35f) aber nicht das Zentrum bildet. Mit dem ‚Stürzen‘ wird auch der Niedergang der Geldwirtschaft beschrieben.

v.42    Den tag zu verschwenden:  Die ursprüngliche christliche Vorstellung eines sinnvoll genutzten Tages war: Ora et labora et lege, Deus adest sine mora („Bete und arbeite und lies, Gott ist da ohne Verzug“). Die Gegenwart betet das Geld an und lässt es arbeiten.

v.48    das nichtsein:  Das Nichtsein bildet den philosophischen Gegensatz zum Sein, im religiösen Sinne zum Absoluten.

v.48f    ein faules / Holz ihn nur noch fahl erhellt:  Angespielt wird auf das Antimärchen, dass in Büchners Woyzeck erzählt wird: Ein verwaistes Kind sucht Trost im Himmel, kommt zum Mond, der aber nur ein „Stück faul Holz“ ist. Das Antimärchen ist in der Literaturwissenschaft ein Paradigma für Sinnentleerung und Transzendenzlosigkeit . Die Gegenwart, die hier als ‚fahl erhellter‘ Tag beschreiben wird, steht im Gegensatz zur erhofften Zukunft, die durch die aufgehende Sonne (v.32f) erleuchtet wird.

v.45    Selbst die märchenkassette:  zu ergänzen wäre vermutlich ‚hilft nicht mehr, die goldene Zeit zurückzuholen‘.

v.46ff:    Im Märchen „Von dem Fischer und syner Frau“ werden die zunehmend unmäßigeren Wünsche (‚den Mund weit aufreißen‘) der fischersfrau von einem Butt erfüllt, bis sie sich wünscht, Gott zu sein. Im Gedicht wäre die Fischersfrau gleichzusetzen mit der Unmäßigkeit des Kapitals, das die Religion verdrängt. Deswegen ist die Botschaft  des Christentums kaum noch hörbar, es Schweigt die stimme des fischs. Der Fisch ist das traditionelle Christussymbol.

v.49    will:  Zu erwarten wäre der einfache Indikativ (aufreißt) ohne Modalverb (will). Die im will bekundende Absicht zeigt, dass die Kinder zwar schon dem Markt verfallen sind, sich aber noch in einem Übergangsstadium befinden.

 

Aspekte der Form:

Das Gedicht beginnt mit 4 fallend angeordneten Versen, diese Form wird in v.38-44 fortgesetzt. Dadurch wirken die ernüchternden Verse 45-49 wie ein resümierender Epilog.

v.1ff:    Die Wiederholung (Kinder kinder), die Alliteration (Kinder kinder … knien) und die Vokalbindungen (-i- und –ü-) erinnern an Kinderverse.

v.25:    Der mittlere Vers des Gedichtes gibt ein poetologisches Resümee (v. zu v.25).

v.31ff    wer aber / … wenn früh / … die erste Sonne wenn die ach / Ihre goldenen rosen / wer wird sie zum klingen bringen:  Auch formal eine Anlehnung an den hohen Ton der Oden Hölderlins: Einschübe und Inversionen, Wiederaufnahme der Anrufung und der Konjunktion,  emotionale Betonung (ach).

v.39ff:    Das Versbild, das durch die Anordnung das ständige Herabrasseln der Münzen versinnbildlicht, ist dem Versbild in Hölderlins Gedicht „Hyperions Schicksalslied“ vergleichbar: dort wird damit das Fallen der Menschen „ins Ungewisse hinab“ gezeigt. Der mahnende Ton wird durch die versteckten Reime verstärkt: a) händen (v.39), rändern (v.41), verschwenden (v.42) und b) markt (v.40), stark (v.43) (Reimschema a/b/a/a/b).

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