Unter der Sonne von Woronesch

Überblickskommentar:

Das Gedicht wurde angeregt durch einen Artikel im Tagespiegel vom 16.11.2008 (Der letzte Feldzug).

Das Gedicht verschränkt zwei Ebenen miteinander: eine konkrete, reale Ebene (sei sie  geschichtlich oder naturwissenschaftlich; wichtig ist, dass alle Angaben sich auf einen präzises historisches Ereignis beziehen) und eine transzendente Ebene.

Auf der konkreten Ebene wird dargestellt, wie im Gebiet um Woronesch, im dem während des Zweiten Weltkrieges 1942/43 ein halbe Million Soldaten fielen, Hilfskräfte die Überreste der Gefallenen ausgraben, sie in Speichern sammeln und die Verfallsprozesse betrachten. In einer Pause essen sie und sehen Schwalben zu, die sich zum Zug sammeln. Die letzten drei Versgruppen verlassen die Ebene der konkreten Erzählung und entwerfen im Bild der einzelnen, sich zur Sonne aufschwingenden Mehlschwalbe eine Möglichkeit der Bewältigung der Schrecken des Krieges und den Wunsch nach der Transzendenz und nach dem Kommen der Transzendenz selbst.

Auf der zweiten Ebene wird  also die heutige Transzendenzferne und deren Bewältigung zur Aufgabe des Gedichts. Bilder für die Transzendenzferne sind die Gräberfelder des nationalsozialistischen Vormarschs auf Stalingrad, der Verwesungsprozess der 500.000 gefallenen Soldaten, das auf das rein Naturwissenschaftliche fokussierte Beschreibungsinstrumentarium der 5. und 6. Versgruppe. Bilder für die Transzendenz sind die Sonne, das (Spätsommer)Licht und die Farbe Blau, der mit den Begriffen Gottesgarten, Ton und Hauch kenntlich gemachte Bezug zur Schöpfungsgeschichte, und für die Annäherung an die Transzendenz sind die Bilder des Häufens und des Sich-Aufschwingens zu Sonne gewählt. Der Annäherungsprozess an die Transzendenz ist in ein zyklisches Verständnis der Zeit und der Geschichte eingebettet, Bilder hierfür sind die Jahreszeiten, der Vogelzug und der Hinweis auf einen Äon (alle tausend Jahre). Die Bemühungen des dichterischen Ichs scheinen nicht ausreichend zu sein, eine vollständige Beziehung  zur Transzendenz herzustellen; ein Mitwirken des Gegenübers, der Transzendenz ist notwendig.

Neben diesen Ebenen spielte sicherlich auch ein biographischer Faktor bei der Entstehung des Gedichtes eine Rolle: Der Vater des Autors, der Offizier Fritz Minde, ist im Rußlandfeldzug im Oktober 1943 in der Nähe des Dnjeper gefallen. Die Grabstelle ist unbekannt.

Unter der Sonne von Woronesch

Spätsommerlicht
und ringsum die Stoppelfelder vergilben
vergilben
falb
und
phantomschmerzbedrängt

 
Rippen: so glauben wir wieder: die Rippen
und
drei Tode graben wir tief

5Schenkel: so denken wir wieder: die Schenkel
und dreimal greifen wir Leid
Kiefer: so fragen wir wieder: die Kiefer
und dreifach fügen wir
blind
was uns ungesagt bleibt

Großvater-Tode
feldweit verstreut
10Schwermut ach
über die Erde gekrümmt
nach verstümmelten Namen

manche wohl
orthodox
gläubig
andere die
katholisch
vielleicht
 
Schmerzreste wir klauben sie sorgsam zusammen
wir ordnen Leidbrocken
nach Stiefeln getrennt

15
bis unter den Dachfirst stapeln wir
hier
in aufgelassenen Speichern

was den Todesschrei überstand:
Fleischstützen

zugfest
wie Kupfer
sandsteinbeständig

von Fleisch entblößt und von Atem

Gesichtsschädel ohne Gesicht das Güte

20
oder gerecht im
Zorn

 
ja Aaskäfer sagt man die Fühler keulenförmig mit Haaren
Hinterleibsspitze meist bloßliegend sagt Fleischfliegenmaden
600 Arten v.a. in eiweißhaltigen Substanzen man sagt auch ein wahrer
Gottesgarten muss es gewesen sein für
Mund und After

25von Fadenwürmern etc. durchzieht doch der Darm
den Körper als schnurgrader Schlauch – nun aber
 
teils
Wasser
teils
Harnstoff
teils
Kohlenoxid
das Gesicht
nur Hydro- und Nitro- und Carbo-Konfigurationen
mit
schlafendem
Sauerstoff-Blau
:
unkenntlich
der reine
Ton

30mit dem doch einst alles begann

Blau
das wie
Seen
kühl sich
verflüssigt

Blau
 das wie
Berge
kubisch
kristallisiert

Blau
 das zwischen den
Horizonten
als
Hauch

mittags
sich über uns spannt

35

wenn wir Pelmeni essen am Rain

und schauen den
Mehlschwalben
zu
wie sie geordnet sich sammeln zum Abflug
und warten noch warten wie lange noch auf die sorgliche kleine
 
die alle
tausend Jahre
so heißt es
40von abgeerntetem Feld
häufelt
sie sich ein
Korn

um vom letzten endlich
sich aufzuschwingen zur Sonne
– –
 
und
wie du mich ansiehst leise

sag ich dass über die Jahre vielleicht

nun ja ists dieselbe wohl nicht

45

und du dass womöglich

eine allein nicht ausreicht

 

Stellenkommentare:

Titel:     Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt 1942 bis 1943 nach der Woronesch-Woroschilowgrader Operation 212 Tage lang von der Wehrmacht besetzt und erlitt große Schäden. Vgl. auch Ingeborg Bachmann: An die Sonne, v. 15: „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein …“

v.1    Spätsommerlicht: Eröffnung mit Zeitangabe (vgl. auch Paul Celan: Todesfuge, v.1: „Schwarze Milch der Frühe“ oder auch Johann Wolfgang von Goethe: Ganymed, v.1-3: „Wie im Morgenrot / Du rings mich anglühst, / Frühling, Geliebter!“).

v.2    falb: Die Farbe falb ist die typische Bezeichnung für eine fahlgelbe bis hell graubraune Fell- oder Haarfarbe (siehe auch blond).

v.2    phantomschmerzbedrängt: Unter Phantomschmerz versteht man die Empfindung, eine amputierte oder fehlende Gliedmaße sei immer noch am bzw. im Körper vorhanden. Hinweis auf Fehlendes (konkret: Väter, Transzendenz).

v.4    drei Tode graben wir tief: Paul Celan: Todesfuge, v.4: „wir schaufeln ein Grab“; v.16: „Er ruft stecht tiefer ins Erdreich“.

v.8    blind: auf der Ebene der Realität nicht zu erklären, auf der Ebene der Transzendenz Hinweis auf fehlenden Bezug.

v.9    Großvater-Tode: Einige der Ausgräber sind Enkel der Gefallenen (vgl. Tagespiegel vom 16.11.2008).

v.10    über die Erde gekrümmt: Haltung der Ausgräber

v.10    nach verstümmelten Namen: Versuch der Identifizierung mit Hilfe der Erkennungsmarken. Ebene der Transzendenz: Charakterisierung der Gegenwart, vom Leid gebeugt, Bezug zur Transzendenz versehrt.

v.11 orthodox … katholisch: explizite Nennung zweier Glaubensrichtungen zur Gegenfugung eines noch gelebten Transzendenz-Bezuges.

v.14    nach Stiefeln getrennt: möglicherweise Unterscheidungsmerkmal zwischen deutschen und russischen Soldaten.

v.15    in aufgelassenen Speichern: nicht mehr in Betrieb befindliche Gebäude. Stapelung der Gebeine in ehemaligen Getreidelagern (vgl Tagespiegel vom 16.11.2008).

v.15    bis unter den Dachfirst stapeln wir: hier Hinweis auf den Ort, an dem wir Schwermut, Schmerzreste, Leidbrocken aufbewahren, das Gedächtnis.

v.16    Fleischstützen: i.e. Knochen

v.17    zugfest, sandsteinbeständig: Knochen: „Zugfest wie Kupfer, elastisch wie Eichenholz, druckfest wie Sandstein und biegefest wie Flußstahl – so sollen gesunde Knochen sein.“ (lexi-tv des mdr).

v.18    von Fleisch entblößt und von Atem: Umkehrung der biblischen Erschaffung des Menschen, Formung aus Lehm und Belebung durch Gottes Atem.

v.19f    Gesichtsschädel ohne Gesicht das Güte / oder gerecht im Zorn: Verlust der Ebenbildlichkeit mit Gott, sowohl mit dem Gott des Alten Testamentes (Zorn) als auch mit dem Gott des Neuen Testamentes (Güte)

v.20     Gottesgarten: „Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Mensch, den er geformt hatte.“ (Genensis 2,8). Gleichzeitig Anspielung auf den Gottesacker = Friedhof.

v.24    Mund und After: Hinweis auf Eingang und Ausgang, Leben und Tod

v.27f    Wasser, Harnstoff, Kohlenoxid: Stoffe, die bei Zersetzungsvorgängen entstehen. Parallel hierzu Hydro-, Nitro- und Carbo-Konfigurationen v.30.

v.29    schlafendem … unkenntlich: Zeichen für die Abwesenheit bzw. Unzugänglichkeit der Transzendenz.

v.29    Sauerstoff-Blau: Blau als traditionelle Farbe für die Transzendenz (Farbe des Himmels), Sauerstoff als das das irdischen Leben in Gang setzende Element.

v.29    Ton: doppeldeutig, in der Schöpfungsgeschichte:  AT der Lehm, NT das Wort.

v.31ff    Blau: Auch Operationsname für die Eroberung Stalingrads (Direktive 41 vom 5.April 1942)

v.31ff    verflüssig, kristallisiert, Hauch: die drei Aggregatzustände, fest, flüssig, gasförmig.

v.31ff    Seen, Berge, Horizont: Tiefe, Höhe, Breite, die drei Dimensionen des Raumes.

v.34    mittags: Sonne im Zenit, maximale Einwirkung der Transzendenz.

v.36    Mehlschwalben: Zugvögel, Verbreitung in ganz Eurasien. Eine christliche Bedeutung kommt der Schwalbe durch eine Fabel zu, nach der sie mit dem Saft von Schöllkraut ihren Jungen das Augenlicht gab. Darum galt sie als Symbol der Augenöffnung der Verstorbenen beim Jüngsten Gericht. Etwas mystischer betrachtet verkörpert die Schwalbe aber auch das Bedürfnis des Menschen der Kälte der Welt zu entfliehen und die Wärme zu suchen, genau so wie es die Schwalbe macht, wenn der Winter naht. In gewisser Weise symbolisiert sie so das Entfernen vom Irdischen, um das Himmlische zu finden (www.wildcatwiki.org/index.php/Schwalbe).

v.39    tausend Jahre: Der Kirchenschriftsteller Origenes weissagte, dass es sechs Weltalter geben werde. Jedes Zeitalter würde tausend Jahre dauern. In dem siebten Weltalter, in dem wir uns befinden, würde die Welt zugrunde gehen. Hier aber keine teleologisch heilsgeschichtliche orientierte Zeitauffassung, sondern eine durch das alle angedeutete zyklische heilsgeschichtliche Zeitauffassung.

v.40    häufelt: um etwas die Erde erhöhen und etwas aufstapeln.

v.40    Korn: Nahrungsgrundlage, aus der Mehl, Brot und Pelmeni hergestellt wird. Konnotativ mit gemeint Brot als spirituelle Nahrung. Vgl. das Gleichnis vom Sämann (Mt. 13,1-23): Das auf fruchtbaren Boden fallende Samenkorn ist Symbol für den im Glauben verankerten Menschen.

v. 41    sich aufschwingen zur Sonne: Symbol für die Vereinigung mit der Transzendenz

v.42    wie du mich ansiehst leise: vgl. Anmerkung zu v.1, Johann Wolfgang von Goethe: Ganymed, v.1-3: „Wie im Morgenrot / Du rings mich anglühst, / Frühling, Geliebter!“).

v.43f:    Ansatz und Abbruch eines Gesprächs, die Neuaufnahme erfolgt unvollständig. Grammatische Figur des Anakoluths.
v.45:    hier zu ergänzen: und du sagst.
v.46:    Anspielung auf das Sprichwort „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“. Vgl. auch Anm. Zu v.36.

 

Aspekte der Form:

Das Gedicht ist verdeckt strukturiert durch Vierer-Versgruppen, die um die mittlere Versgruppe aus 6 Versen angeordnet sind (2+6 / 4 / 4+4/ 6 / 4 / 4 / 4 / 3+3+2), also die Versgruppen I und II (2+6) entsprechen den Versgruppen IX, X und XI (3+3+2). Die Entsprechung der Versgruppen III, IV mit den Gruppen VI, VII, VIII ist evident. An der Achse des Gedichtes (v.23 / v.24) steht ein zentraler Begriff: wahrer / Gottesgarten.

Der Dichter hat ein eigenes Reimschema entwickelt, das mit unreinen, sich an den Vokalen orientierenden Reimen arbeitet (z.B. vergilben (v.1)  auf Rippen (v.3) und bedrängt (v.2) auf Schenkel (v.5)). Das Schema sieht i.A. wie folgt aus: a b a c b d c e d f e … In diesem Gedicht wird das Schema in den Versgruppe I – IV durchgehalten, wobei das letzte Wort Zorn ohne Reimbindung ist. Dies kann als Hinweis auf die Transzendenzferne verstanden werden. Die Mittelgruppe (V) ist ausschließlich auf den Vokal A gereimt, also den ersten Buchstaben des Alphabets, möglicherweise ein Hinweis auf den Anfang der Schöpfung (v.24 Gottesgarten). In den Gruppen VI und VII reimen die ersten und letzten Verse der Gruppe aufeinander, in der Versgruppe VI reimen die mittleren Verse aufeinander, in der Gruppe VII reimt kristallisiert nicht, Hauch ist durch das dreifache Blau gebunden, hier möglicherweise ein Hinweis auf Transzendenznähe. Die Versgruppen VIII – XI weisen umarmende Reime auf ( a b b a ), dies sicherlich auch als Hinweis auf eine Nähe der Transzendenz.

Im Gedicht spielen Gliederungen in dreier Einheiten (z.b. Rippen, Schenkel, Kiefer) ein große Rolle.

v.13 Schmerzreste wir klauben sie sorgsam zusammen: Grammatische Parallele zu Celan, Todesfuge v.1: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich …“. Die abschließende Versgruppe besteht wie die Todesfuge aus zwei Versen.

v.38 und warten noch warten wie lange noch: Veranschaulichung des Inhalts durch Repetitio und konjunktional adverbiale Verbindungsglieder.

 

 

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