Unter dem Abendstern

Überblickskommentar:

In den ersten beiden Versgruppen schildert der Autor die abendliche (Tele-)Kommunikation der entfernt Liebenden auf der Erde. Hierbei überlagern sich technische und emotionale Ebene. Im Mittelvers ändert sich die Personenkonstellation, nicht mehr die Liebenden, sondern Dichter (lyrisches Ich) und Muse (Anadyomene) werden zueinander in Beziehung gesetzt. In Versgruppe 3 knüpft der Autor an den hohen Stil der Lyrik an (s. dazu zur Aspekte der Form), er schildert mit einem Gang durch die Jahreszeiten, auf dem er sich mit einigen Elementen der Natur identifiziert, seine Aufopferung für die Muse. Das Gedicht endet in Versgruppe 4 mit einer Anrufung der Muse als Schutzgöttin des gelungenen Gedichtes, das den Hauch im Raum überdauert.

Unter dem Abendstern


 
Schon die Schwüre allein zwischen sagen wir
Belfast

und
Schanghai
oder Timbuktu
Treueschwüre funklöslich

auf so eine
Membrane
gewispert dazu dann die
Spasmen

elektronischer Kussexplosionen
 oder
Umarmungsspannungen

5aus Kapstadt
feinabgetastet
in Basel einschließlich
der
Interferenzen
von
Kommunikationsphantomen

mit Frequenzmustern von Herzempfang und oszillierender Ahnung
:

Des
Weltäthers
unsichtbar übergewaltiges Strömen

aufgeladen mit Schwingungssignalen von Millionen

10
Fernliebenden kosmisch codiert ein Girren ein Kosen

Jubel Gestammel Geschrei und mittendrin dieses Sehnen

von mir jetzt und dir
– von
deinem Paul
in Pankow
und seiner

Anna-Lisa
in Abu Dhabi du mit hübsch rosigen
Öhrchen jetzt völlig Gehör und
ich dein getreuer

15
Fernmund ich sprech übers Meer
mich schwupp da hinein
denn auch
unsere Sehnsucht ist eine
du weißt von diesen räumigen
Wanderwellen
aus denen Abend für Abend neu
von dir zu mir … ja sie allein ists die nun über mir sich

Anadyomene
erhebt hell aus
magnetischen Schäumen

20
gunstbereit
funkelnd und funkelt doch eher
begehrlich
– –
 
und ich ach hab ich im
März
nicht
willig
ein
Fisch

springend mein
Prachtsilber
erschöpft
dass sich
ihr Leuchten
verstärkt
hab ich im Sommer ein Wald nicht damit
ihr herrlicher

Glanz
sanfter wandelt mein Laub hingestreut
25und später im Jahr hab ich nicht ein eherner Berg
mich abgetragen damit
ihr reineres Scheinen

hier kein Schatten befleckt –
nun aber was bleibt

dem
Blachfeld
wenn sie ihm naht was ists noch als
bloßer

Mund
zu sein der sich aufreißt und
schwerelos Schrei

30
weiß
an dem weißen Strahl
ihres
Nachtaugs
sich bricht:
 
O
oberhalb aller Blütenfrühlinge groß

Göttin
die du das Weltrund beschickst mit den genauen
Echogestalten winterlich lächelnden Lichts

mich im Laut
umarmend mit einem kleinen Tod

35der den
Hauch im Raum überdauert

 
 
Stellenkommentare:

Titel:    Der Titel erinnert an die Arie Wolframs aus Wagners Tannhäuser „O du, mein holder Abendstern“, in der Wolfram beschreibt, wie der Abendstern die Seele Elisabeths aus dem Tal der Erden in den Himmel geleitet. Diese Leitfunktion hat in diesem Gedicht der Abendstern als Muse für den Dichter.

v.1    Belfast:  Belfast steht hier beispielhaft (wie auch Schanghai, Timbuktu, Kapstadt und Basel) für einen Ort von dem Kommunikation ausgeht bzw. an dem sie ankommt.

v.2    Schanghai:  seltenere Schreibweise der chinesischen Hafenstadt Shanghei.

v.2    Treueschwüre funklöslich:  Überlagerung zweier Ebenen: Die emotionale Ebene (Liebe) wird in die Ebene der technische Kommunikation (Telefon/Handy) transformiert.

v.3    Membrane:  Eine Membran ist eine Trennschicht, eine dünne Haut (wie z.B. das Trommelfell des Ohres). In der Kommunikationstechnik dient die Membran zur Umwandlung des Schalls in elektrische Signale (z.B. in Telefonen), und damit zum Senden der Nachricht. Die ältere Wortform ist Membrane, von mittelhochdeutsch ‚Membrane‘ „Pergament“.

v.3f    Spasmen elektronischer Kussexplosionen:  Muskelkontraktion (Kuss), die per Telefon übermittelt wird. Unter Umständen zeigt der Begriff ‚Spasmus‘ als ein Krampfzustand die schmerzhafte Unvollständigkeit der elektronischen Fernbeziehung (Telefonsex!!!). Die Worte Spasmen und Kussexplosionen können auch ‚Spermien‘ und ‚Ejakulation‘ assoziieren (vgl. auch v.34 einen kleinen Tod).

v.4    Umarmungsspannungen:  Überlagerung der beiden Ebenen (s. v.2 zu Treueschwüre).

v.5    feinabgetastet:  Statt des Körpers des Gegenüber wird hier die Membran des elektronischen Mediums abgetastet: Empfang der Nachricht.

v.6    Interferenzen:  Überlagerung von zwei oder mehr Wellen, her Schallwellen. Löschen sich die Wellen dabei gegenseitig aus, so spricht man von destruktiver Interferenz. Verstärken sich die Amplituden, so spricht man von konstruktiver Interferenz.

v.6    Kommunikationsphantomen:  Durch die elektronische Kommunikation entsteht die Gestalt des Liebenden als Phantom.

v.7:    Überlagerung der beiden Ebenen (s. v.2 zu Treueschwüre). Ein oszillierendes System  ist ein dynamisches System, das zwischen zwei oder mehreren Zuständen in mehr oder minder regelmäßiger Form hin und her wechselt, hier zwischen Erfüllung und Enttäuschung. Herzempfang lässt an den dt. Physiker Heinrich Hertz denken. Hertz entdeckte mit dem ersten hertzschen Oszillator die Existenz der elektromagnetischen Wellen. Er wies nach, dass sie sich auf die gleiche Art und mit der gleichen Geschwindigkeit ausbreiten wie Lichtwellen Am 11. November 1886 gelang ihm im Experiment die Übertragung elektromagnetischer Wellen von einem Sender zu einem Empfänger.

v.8    Des Weltäthers:  Der Äther (griech. aithär für der (blaue) Himmel) ist eine Substanz, die im ausgehenden 17. Jahrhundert als Medium für die Ausbreitung von Licht postuliert wurde. In der griechischen Mythologie ist der ‚Äther‘ Personifikation des „oberen Himmels“, in der abendländischen Lyrik wird er häufig als Personifikation der obersten Gottheit genannt. Einsteins Relativitätstheorie macht Anfang des 20. Jahrhunderts das Konzept des Äthers überflüssig.

v.8ff:    Die Verse 8 – 11 laden den ganzen Kosmos, den ‚Weltäther‘, mit emotionalen Äußerungen, mit Liebesschwüren auf.

v.12    von mir jetzt und dir:  Vom wir (v.1) wird jetzt zum Ich und Du, zur individuellen Liebesbeziehung übergeleitet. Vgl. auch v.16 (von dir zu mir). Verdeckt werden hier bereits Dichter und Muse genannt.

v.12f    deinem Paul … und seiner / Anna-Lisa:  Durch die Possessivpronomen werden die Liebenden der Anadyomene als Schutzgöttin der Liebe zugeordnet.

v.14f    ich dein getreuer / Fernmund ich sprech übers Meer:  Dargestellt wird eine individualisierte Liebesbeziehung zweier getrennter Liebender. Diese wird zugleich überlagert durch die Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und der Muse; Das lyrische Ich  bezeichnet sich hier als Fernmund (so zu sagen als ‚Fernsprecher‘), der die ferne Muse anruft. Damit wird erstmals die poetologische Dimension des Gedichtes deutlich.

v.16    unsere Sehnsucht ist eine:  Nicht nur das lyrische Ich sehnt sich nach der Muse, sondern auch Anadyomene nach dem Dichter.

v.17    Wanderwellen:  In der Physiologie ist eine Wanderwelle eine von Nobelpreisträger Georg von Békésy beschriebene Welle im Innenohr. Sie entsteht durch den Eintritt von Schall in das Innenohr und lenkt durch Druckschwankungen die Basilarmembran aus. Wanderwellen bewegen sich im Raum (im Gegensatz zu stehenden Wellen).

v.18:    Mittelvers des Gedichtes. Hier ist ein Wendepunkt, erstmalig wird mit dem Personalpronomen sie, die Muse genannt. Damit geht das Gedicht von den Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau über zur ‚Liebesbeziehung‘ zwischen Dichter und Muse.

v.19    Anadyomene:  Anadyomene gehört traditionell nicht zu den neun Musen der Antike, wird im folgendem aber vom Dichter als Muse angerufen.

v.19    magnetischen Schäumen:  Wieder Überlagerung von zwei Ebenen, hier Mythos und Technik.

v.20    gunstbereit … begehrlich:  Die Muse ist nicht nur bereit Inspiration zu geben, sondern braucht auch die Hinwendung des Dichters. Diese Figur spielt auf einen Gedanken Hölderlins an, bei ihm sind die Götter auf die Menschen angewiesen. (vgl. z.B. Hölderlin, „Der Rhein“ v.109-114: „Die Seligsten nichts fühlen von selbst, / Muß wohl, in der Götter Namen / Teilnehmend fühlen ein Anderer, / Den brauchen sie; …“).

v.21    März:  Mit dem Monat März beginnt im Gedicht ein Gang durch die Jahreszeiten (Sommer, später im Jahr (Herbst) und Blachfeld (Winter)).

v.21    Fisch:  Der Dichter identifiziert sich nacheinander mit einem Element der Fauna (Fisch), der Flora (Wald) und des Landes (Berg). Was am Ende bleibt ist eine Öde, ein Blachfeld.

v.21f    willig …/ … erschöpft:  Im Schöpfungsprozess verausgabt sich der Dichter mit allen Naturgaben willig.

v.22    Prachtsilber:  Auf der konkreten Ebene ist die silbern schimmernde Bauchunterseite von Fischen gemeint. Im übertragenem Sinne steht es für den poetischen Schmuck, so wie auf dieser Ebene das Laub für das Blatt eines Buches steht und der eherne Berg für das Blei eines Stiftes.

v.22ff    ihr Leuchten … /…  ihr herrlicher / Glanz… / … ihr reineres Scheinen:  Konkret das Licht des Abendsterns, der Venus. Im übertragenen Sinne vgl. zu v. 22 Prachtsilber. Benutzt werden die Steigerungsstufen Positiv und Komparativ.

v.27    nun aber was bleibt:  Mit zu hören sind die beiden letzten Verse von Hölderlins Hymne ‚Andenken‘: „Und die Lieb‘ auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

v.28    Blachfeld:  Älterer Begriff für ’Brache‘, ein Feld, das in der Landwirtschaft, nachdem es einmal kultiviert war, aus wirtschaftlichen oder regenerativen Gründen nicht genutzt wird. Im übertragenen Sinne bezieht sich Blachfeld auch auf die von der Moderne und dem Kommerz ausgeplünderte, ‚unpoetische‘ Sprache. Dem widerspricht nicht, dass die beiden letzten Versgruppen auf einen besonders hymnischen Ton (s. dazu unter Aspekte der Form zu den Tönen der Versgruppen) gestimmt sind: Der Dichte rekultiviert die Sprache aus der lyrischen Tradition.

v.28f    bloßer / Mund zu sein:  Reduktion des Dichters auf den Mund. Angespielt wird auf Rilkes ‚Sonette an Orpheus‘ (1.Teil Nr. XXVI) „ein Mund der Natur“.

v.29    schwerelos Schrei / weiß: Auf der konkreten Ebene gibt es nur einen tonlosen Schrei. Durch die hier genutzte Synästhesie wird in der Romantik traditionell der Zugang zum Unendlichen, der Transzendenz eröffnet.

v.30    weiß an dem weißen Strahl:  Der Schrei des Dichters bricht sich am Strahl der Muse.

v.30    Nachtaugs:  Gemeint ist der Abendstern.

v.31f    oberhalb aller Blütenfrühlinge groß / Göttin: Venus wird angerufen als Erscheinungsform der Transzendenz, die außerhalb der Zeit steht. Es beginnt (im Hölderlin‘schen Sinne) ein neuer Göttertag, ein neuer Zugang zur Transzendenz.

v.33    Echogestalten winterlich lächelnden Lichts:  Die in der ‚öden‘ Gegenwart (winterlich) vom Dichter als Echo der Transzendenz (das ‚lächelnde Licht‘) zurückgespiegelten ‚Antworten‘: die Gedichte!

v.34    umarmend mit einem kleinen Tod:  Hinweis auf den (dichterischen) Zeugungsvorgang. Einziger nicht gereimter Vers (s.u. zum Reimschema).

v.35    Hauch im Raum überdauert:  Das Gedicht als Hauch evoziert das lebensspendende Pneuma (die Inspiration), es steht außerhalb des Raumes wie die Göttin außerhalb der Zeit.

 

Aspekte der Form:

Das Reimschema ist das übliche: a/b/a/c/b/d/c/… . Nur Vers 34 kleiner Tod endet ungebunden (die mögliche Bindung an groß (v.31) ist nicht echt: groß verbindet sich mit großer (v.28).

Die Versgruppen  (7/12/10/5) enden mit signifikanten Interpunktionszeichen, Gruppe 1 und 3 mit Doppelpunkt (die Erwartung/Sehnsucht schürend), Gruppe 2 mit zwei Gedankenstrichen (für die Zweierbeziehung). Die letzte Versgruppe aber endet im Offenen ohne Schlusszeichen.

Das Gedicht nutzt zwei Tonlagen, einen nüchternen, beschreibenden Ton in den ersten beiden Versgruppen, einen hymnisch preisenden in den beiden folgenden Versgruppen. Dies ist vergleichbar dem genus humile und dem genus sublime der rhetorischen Tradition.

v.1ff    Belfast: Die Auswahl der Orte folgt dem Prinzip der Assonanz: Belfast – Basel, Schon – Schwüre – Schanghai, Timbuktu – Treueschwüre, Kapstadt – Kussexplosionen.

v.10f:    Besonders poetische Assonanzen und Alliterationen mit c, g, k, o, und i. Vgl. auch den ö-Laut in v.14.

v.12f:    Die Eigennamen alliterieren mit den Ortsnamen. Anna-Lisa weist klanglich bereits auf Anadyomene (v.19) voraus.

v.18:    Zum Mittelvers s. oben v.18.

v.20:    Der Vers ist chiastisch geordnet: gunstbereit funkelnd … funkelt … begehrlich.

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