Die Optimierung des Turmspringens

Überblickskommentar:

Zentral für das Verständnis des Gedichtes ist die Sprungbahn. In Versgruppe I vollzieht ein Turmspringer einen Sprung (dreifach gehockter Salto vorwärts aus dem Stand), in Versgruppe II kommentiert eine Art Trainer den Sprung, in Versgruppe III fordert das dichterische Ich zur Wiederholung (Optimierung) des Sprunges auf. Der Versuch, menschliche Leistungen immer wieder zu steigern, entspricht dem Versuch der Überwindung der durch die Materie dem Menschen auferlegten Grenzen und damit einer Annäherung an die Transzendenz. Auf der übertragenen Ebene thematisiert der Vorgang des Springens sowohl die Menschwerdung Christi (als Sprung ins Diesseits) als auch seine Himmelfahrt (als riskante Streckung ins Jenseits). Als weitere Ebene erscheint die Bahn eines Kometen, die mit der Sprungbahn parallelisiert wird. Damit im Zusammenhang steht auch die (traditionell christliche) Lichtmetaphorik.

Die Ebene des Konkreten wird von der Ebene des Transzendenten überlagert, jene entspricht der Bewusstseinsebene des modernen Ich, das sich einer ursprünglichen Begegnung mit der Transzendenz erinnert, und diese der des dichterischen Ich, das die Begegnung wieder einzuholen wünscht. Da hier durch das dichterische Ich die Menschwerdung Christi wiederholt werden soll, kann man von einer imitatio dei sprechen.

 

Die Optimierung des Turmspringens

Diese Arme
, wie du sie ausbreitest,
noch einmal
flügelweit Arme
Turmspringer
um einatmend und mit halbem
Luftruderschlag
dann erneut
Absprung und wieder die
Waden kopfüber umklammernd

zu dreifachem Salto, dass der
gegliederte Leib
schweifsternschön

5
(als ob er da, plötzlich, für eine kleine Zeit

aufglänzte mit verhaltenem Licht)

zusammengefasst sich frei macht
, gesprengt jedes feste System
– ja, das ists, fühlst du, was du erfährst, wie
jenseits der Schwelle

bis zuletzt die
riskante Streckung
, wenn sie dich
10 eintaucht ins
windschiefe Blau
des Bassins
 
und stürzt dich in deine
Krise
. Und
wär
doch
dieselbe

erwartbare Fahrt
senkrechten Fallens
,
schräg überlagert, nicht wahr, von linearer, ins
Waagrechte zielender
Translation

15 zu einem
offenen Bogen
– der, ja, nicht anders als
Knöchelchen oder Perlen
reiht er dich auf mit deinen drei Saltos
auf einen
Faden, unsichtbar
, der auch diesmal bis
hinter den Horizont

dich
gesetzlich verbindet
mit allem, was
parabolisch
dahinfährt und

fuhr und dahinfahren wird
über Feld oder Wald
20 oder bahnfroh durch die
Mechanik des Lichtreichs
:
 
Und nun
spring wieder, dass ich ihn sehe,
schön ausgezogen
, der sonst doch
im Fleisch

heimlich bleibt
wie der
Regenbogen

25 unter den
Kuppeln der Tiefseemuscheln

 

Stellenkommentare:

v.1    Arme … flügelweit Arme: Stellung des Turmspringers mit ausgebreiteten Armen vor dem Absprung, Evokation einer Engelsfigur ebenso wie Evokation des gekreuzigten Christus.

v.1    noch einmal: Hinweis auf Wiederholung einer Ursprungssituation (s.a. erneut v.2), zu deren Nachvollzug die III. Versgruppe mit wieder (v.21/22) auffordert.

v.2    Luftruderschlag: Bewegung des Springers zum Schwungholen. Luftruder sorgen für eine stabile Flugbahn einer Rakete.

v.3    Waden kopfüber umklammernd: Das Schließen der Köperbewegung zur Kreisfigur, zum Salto.

v.4    der gegliederte Leib: „Die Gemeinde Jesu Christi, die Kirche Gottes ist ein vielfach und vielfältig gegliederter Leib“ (Lindemann, Andreas: Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche).

v.4    schweifsternschön: Schweifstern, deutscher Ausdruck für einen Kometen. Hier periodischer Komet (gegliedert in Kern, Koma und Schweif), der nach einer gewissen Umlaufszeit wiederkehrt. Im traditionellen Verständnis Vorbote für ein kommendes Ereignis, s. a. den Stern über Bethlehem.

v.5f:    Hinweis auf das Zeitfenster des Erscheinens eines Kometen, sein kurzes, zurückhaltendes Leuchten und sein scheinbares Vergehen. Zu vergleichen ist: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“ Johannes 16,16.

v.7    zusammengefasst sich frei macht: momentane Befreiung von der Abwärtsbewegung durch das Schließen des Kreises und gesprengt jedes feste System: Öffnung des Kreises in die Streckung und damit wieder in die Abwärtsbewegung. Überlagerung von Aufwärts- und Abwärtsbewegung als Befreiung aus dem System Schwerkraft.

v.8    jenseits der Schwelle: Schwelle als traditionelles Bild für den Übergang ins Jenseits, den Ort der Transzendenz in der christlichen Metaphysik.

v.9    riskante Streckung: Figur für einen Übergang in einen anderen Bereich, der Springende hat in diesem Moment teil an beiden Bereichen.

v.10    windschiefe Blau: Blau als traditionelle Farbe der Transzendenz, windschief, weil das Pneuma (der Geist) über den Wassern weht.

v.11    Krise: Gebrauch des Begriffs in der Medizin als Höhepunkt eine Krankheitsverlaufs mit der Möglichkeit der Heilung des Unheils (Andeutung der eschatologischen Dimension des Weltgeschehens).

v.11    wär: Konjunktiv als Zeichen für die Offenheit der Krise.

v.11f    dieselbe / erwartbare Fahrt: Hinweis auf den schon stattgefunden habenden und wiederkehrenden Bogen des Springens. Mit Fahrt wird eine Kometenbahn (s.o.) mit  einer Sprungbahn parallelisiert.

v.12ff    senkrechten Fallens … offenen Bogen: Darstellung des Sprungs als Parabel, die sich aus zwei unterschiedlichen Bewegungen (Bereichen) zusammensetzt: Der Absprung ins Waagerechte wird nach dem Höhepunkt durch die Schwerkraft übergeführt ins senkrechte Fallen. Die genauere Analyse des Sprungs offenbart im höchsten Punkt der Parabel einen Überlagerungszustand, der auf die quantenphysikalische Überschreitung der Dimension klassischer Physik anspielt.

v.14    Translation: (physikalische Definition:) Eine Translation (auch reine Translation) ist eine Bewegung, bei der sich alle Punkte des bewegten Körpers in dieselbe Richtung bewegen. In der sprachlichen Praxis die Übertragung in eine andere Sprache, ebenfalls Anspielung auf die mittelalterliche Idee der „translatio imperii“, derzufolge ein Weltreich ein anderes ablöst, damit auch Andeutung des letzten Weltreiches, in dem Christus wieder erscheint.

v.16f    Knöchelchen oder Perlen…Faden…unsichtbar: Parallelisierung des unsichtbaren Bogens des Sprungs mit dem unsichtbaren Faden, auf den Perlen (s.u. v.25 Tiefseemuscheln) oder Knöchelchen zu einer Kette aufgereiht werden.

v.17    hinter den Horizont: gemeint ist ein Jenseits.

v.18    gesetzlich verbindet: Verbindung des Bereiches der Transzendenz mit dem Diesseits durch die umfassende Theorie der Quantenphysik und durch göttliche Gesetze.

v.18    parabolisch: Zunächst ist die Bahn einer Parabel (Sachebene: Sprung, Übertragungsebene: Komet als kosmische Erscheinung bei der Geburt Christi) gemeint. In der Literatur ist die Parabel eine gleichnishafte Erzählung, der es um die Vermittlung von Fragen der Moral und ethischen Grundsätzen geht, welche durch Übertragung in einen anderen Vorstellungsbereich begreifbar werden. Die Parabel ist eine Aufforderung zum Erkennen.

v.18f    dahinfährt … fuhr … dahinfahren wird: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als die Gesamtheit der Zeit (vgl. Ps. 90,1-6: „dahinfahren“ und „von Ewigkeit zu Ewigkeit“).

v.20    Mechanik des Lichtreichs: Gemeint ist mit Lichtreich sowohl das Reich Christi als auch der Bereich, in dem ein Komet sichtbar wird, als auch die Quantenmechanik des Lichts (Ausgangspunkt der Quantentheorie).

v.23    schön ausgezogen: (i.e. den Bogen) s.o. v.4 schweifsternschön. Durch die Zusammenstellung von schön ausgezogen und im Fleisch in einem Vers wird die Schönheit des menschlichen Körpers, in dem ein göttlicher Funke wohnt, evoziert.

v.23f    im Fleisch / heimlich bleibt: Inkarnation des Göttlichen (vgl. v.17: unsichtbarer Faden).

v.24    Regenbogen: Hinweis auf den Neuen Bund Gottes mit den Menschen nach der Sintflut (Gen 9,12-17).

v.25    Kuppeln der Tiefseemuscheln: Bereich, in den der Springer eintaucht. Durch den Vergleich wird das verborgene Göttliche im Menschen gleichgesetzt mit der Perle in einer Muschel, das Schimmern der Perle entspricht dem Regenbogen am Firmament, das wie eine Kuppel sich über die Welt spannt.
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht (in Analogie zum dreifachen Salto) aus drei Versgruppen und drei Satzperioden. Die Unterbrechungen der syntaktischen Gefüge (v.5f, v.8 und v.15-17) entsprechen den drei Saltos.

Das Reimschema sieht auch in diesem Gedicht für die ersten beiden Versgruppen wie folgt aus: a b a c b d c e d f e …
In der letzten Versgruppe sind die Verse 21 (zu v.18) und 23 (zu v.20) gebunden, der Vers 22 weist einen Anklang zu Tiefsee in Vers 25 auf, der Vers 23 ist durch den Binnenreim ausgezogen in Vers 24 gebunden.

Der Verssprung von v.13 auf v.14 (ins / Waagrechte) verdeutlicht die Überlagerung von senkrechter und horizontaler Bewegung.

Der nur aus zwei Silben bestehende Vers 21 (Und nun) macht den Moment des Abspringens graphisch nachvollziehbar.

Der Doppelpunkt am Ende der Periode v.15-20 (der, ja … Lichtreichs) verdeutlicht den offenen Bogen (v.15).

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