turbonisches taglied

Überblickskommentar:

Das Gedicht berichtet anknüpfend an die Form des Tageliedes vom Erwachen eines Paares. Der Mann erzählt zwei Traumsequenzen, dann schlägt er vor, Souvenirs wegzuräumen und die nächste Wochenend-Reise zu planen.
Auf einer darunter liegenden Ebene wird eine – auch durch Reisen verursachte – bedrohliche Umweltbelastung thematisiert (Schmelzen des Arktis-Eises, Vordringen der Wüsten). Gleichzeitig wird die Verdrängung des Schuldbewusstseins dargestellt, damit der moderne Lebensstil aufrecht erhalten werden kann.
 

turbonisches taglied


 
last minute
liebste wach auf

voll pulsturbulenzen die nacht
dass die
die tragende fläche

treibeis
auf dem du schreiend und über dir raubtierstolz

ein
gestirn mit bärpranken
ein
endzeiträcher

5
glutstrahlen ins eis hab ich dir da
emittiert
bis es
– last

 
last minute liebste wach auf
denn plötzlich stromlinienrumpf
mondhoch
ein
Baobab

mit
schuppigem
zweigzeug das diese brust flugs umwand

meinen mund
dong dong
hast du dir gegen die
konische kapseln

10
erstickt bin ich ausstießen sie
non stop
– last

 
last minute liebste
steh auf

sieh dort vom sideboard die souvenirs

schon gestern wollten wir die in den unterschrank

wo platz ist und sauber und
staubt uns nichts ein

 
15komm liebste last minute steh auf
denn dein frühstück wie stets wirds mich
stabilisieren

ach ja und das weekend da mach dir gleich mal gedanken
Stockholm
wär super oder
Bahrain

 

Stellenkommentare:

Titel: Das Tagelied ist eine höfische Gattung der mittelalterlichen Lyrik, die primär inhaltlich definiert ist und die Situation des geheimen Beisammenseins und des Abschieds zweier Liebender beim Tagesanbruch nach einer verbrachten Liebesnacht thematisiert. In der Tradition werden die Liebenden durch den Merker bedroht. Durch die leichte Abänderung in taglied und den Zusatz turbonisches (s.u. zu v.1) wird bereits im Titel auf die Ironie der Situation hingewiesen. Die obligate Bedrohung der Liebenden erfolgt hier auf  einer anderen Ebene.

v.1:    Der erste Vers wird in v.6 wörtlich und in den v.11 und 15 variiert wiederholt.

v.1    last minute: Neben dem Hinweis auf die Dringlichkeit des Aufstehens auch Assoziation zu Lastminute-Reisen. Damit wird (wie bereits durch turbonisches im Titel) auf die Metaphernebene ‚Flugreisen’ verwiesen. Dies geschieht auch mit  turbulenzen (v.2), tragende Fläche (‚Tragfläche’ v.2), strahlen … emittiert (v.5), stromlinienrumpf (v.6), flugs (v.8), ausstießen  (von Schadstoff v.10), non stop (v.10) und den möglichen Flugzielen (Stockholm und Bahrain v.18) für das weekend (v.17). Darüber hinaus verweist last minute darauf, dass die Zeit zur Rettung der Umwelt fast abgelaufen ist.

v.1    liebste wach auf:  Weckruf, der in einem Tagelied ironisch wirken muss: Dort sollten die Liebenden gerade nicht geschlafen haben! Hier weckt der Mann die Frau.

v.2    voll pulsturbulenzen die nacht:  Charakterisierung einer unruhigen Nacht, im Folgenden setzt der Bericht einer Albtraumsequenz ein. Zur Metaphernebene ‚Flugreisen’ s. zu v.1.

v.2f    die tragende fläche / treibeis:  Neben der ‚Tragfläche’ (s. zu v.1) das Bett der Partner, das zum Ausgangspunkt der ersten Traumsequenz wird: zur Eisscholle. Durch den Umbruch zu treibeis wird die sichere Unterlage aufgelöst, das Du steht schreiend darauf.

v.2-5:    Die Traumsequenz: Einem in der Arktis auf einer Eisscholle treibenden, anscheinend bedrohten weiblichen Wesen werden durch ein männliches Raubtier, das über ihm stolz steht, Strahlen injiziert. Die grammatischen Brüche und der unvollständige Satzbau zeigen das Traumartige. Gemeint ist der Albtraum der Zerstörung der Umwelt, hier die Zerstörung der Arktis, durch die moderne Lebensweise. Es schwingt auch die Vorstellung eines Beischlafes (Mann auf Frau) mit.

v.4    gestirn mit bärpranken:  Gemeint könnten entweder das Sternbild ‚ursa major’ (der grosse Bär) oder das Sternbild ‚ursa minor’ (der kleine Bär) (beide eigentlich weiblich) sein. Beide Sternbilder sind zircumpolar. Der Name der ‚Arktis’ ist vom griechischen ἄρκτος (‚Arktos’ für Bär) abgeleitet.

v.4    endzeiträcher:  Die Rolle des militanten Christus, der nach der Vorstellung evangelikaler Sekten als Endzeiträcher alle Ungläubigen ausrottet. Zu denken ist auch an Michelangelos Darstellung des Christus mit erhobener Rechte (bärpranken v.4) als Richter im Fresko des Jüngsten Gerichts in der Sixtina.

v.5    emittiert:  Hinweis auf Schadstoffemissionen. Parallel dazu steht in v.10 ausstießen. Gleichzeitig Hinweis auf das Licht, das die Sterne emittieren.

v.5    bis es –:  Zu ergänzen ist ‚schmolz‘, der fehlende Reim auf v.3 raubtierstolz. Die Ersetzung des reinen Reims durch das Wort last verweigert sich einer harmonisierenden Betrachtung.

v.7-10: Bericht einer zweite Traumsequenz: Ein im tropischen Afrika hoch aufragender Baum wird von gigantische Brüste umwunden, Fruchtkapseln drohen das männliche Wesen nahezu zu ersticken. Wiederum zeigen die grammatischen Brüche und der unvollständige Satzbau das Traumartige.  Wiederum wird auf den Albtraum der Umweltzerstörung, hier auf das Vordringen der Wüsten, verwiesen. Zu Grunde liegt ebenfalls das Bild eines Beischlafs [Frau auf Mann].

v.7    mondhoch:  Parallelstelle zum gestirn (v.4), diesmal als weiblicher Himmelskörper, als Luna gedacht. Die mythische Größe des Baums macht ihn zum Weltenbaum.

v.7    Baobab:  Der Afrikanische Affenbrotbaum, auch Afrikanischer Baobab genannt, gehört zu den bekanntesten und charakteristischsten Bäumen des tropischen Afrika. Die lateinische Bezeichnung ist ‚Adansonia digitata’, der Zusatz ‚digitata’ spielt auf die Form der Blätter an, die sich aus fünf bis neun Einzelblättchen zusammensetzen, welche entfernt an die Finger einer menschlichen Hand erinnern. Die Früchte haben Kapselform.

v.8    schuppigem:  Möglicherweise Anspielung auf die Schlange des Paradieses, das Böse.

v.9    dong dong … konischen Kapseln:  Die Doppelung des Glockentons und die konischen Kapseln assoziieren die weibliche Brust (vulgär: Glocken). Mit dem dong dong wird auch das archaische Kommunikationsinstrument Afrikas, die Trommel, in Verbindung gebracht.

v.10    non stop –:  Der fehlende reine Reim wäre hier ‚sand‘ auf v.8 umwand. Damit wird auf das Vordringen der Wüste verwiesen.

v.11    steh auf:  Die Variante von v.1 zeigt, dass die Frau inzwischen erwacht ist.

v.12-14:  Hier wird vom Traumbericht und der Metaphernebene ‚Flugreisen’ auf die Realebene übergeleitet: Der Blick des Paars fällt auf ein sideboard, auf dem Reiseandenken stehen. Die Absicht, diese besser im unterschrank zu verstauen, kann als Versuch, ‚Schuldbeladenes’ ins Unbewusste zu verdrängen, interpretiert werden. Dies betrifft sowohl die sexuellen Konnotationen (s. zu den Traumsequenzen v.2.5 und v.7-10) als auch möglicherweise das schlechte Gewissen wegen der durch die Flugreisen verursachten Umweltbelastungen. Darauf deuten hier wieder die Satzbrüche und Vokabeln wie sauber und staubt uns nichts ein.

v.14     staubt uns nichts ein:  Im Gegensatz zum Vordringen der Wüsten, wo der Sand alles zudeckt.

v.16    stabilisieren: Nicht nur ein Begriff für die Stärkung nach einer ‚turbonischen’, turbulenten Nacht, sondern ebenfalls auch dem Metaphernbereich ‚Flugreisen’ zuzuordnen.

v.18    Stockholm … Bahrain: Mit beiden Städten werden die beiden geographischen Bereiche der Traumsequenzen wieder aufgenommen: der Norden und der Süden.

v.16-18:  Offensichtlich funktioniert die Verdrängung (s. zu v.12-14): Das Verhältnis wird stabilisiert, die nächste Flugreise fürs Wochenende wird geplant.

 

Aspekte der Form:

Das Gedicht ist – lässt man die jeweils ersten Verse (v.1, v.6, v.11 und v.15) weg – ein klassisches Sonett mit dem im italienischen Sonett obligatorischen Umschwung nach den Quartetten (v.11). Auch das Reimschema ist – bis auf den Wechsel zwischen den Quartetten – ebenfalls traditionell: abab / cdcd / efg / efg, wobei jeweils der Reim in v.5 und in v.10 vom Leser zu ergänzen ist. Bis auf den Endreim (ein / Bahrain) gibt es sonst scheinbar nur unreine Reime.

Die Sprache der Terzette unterscheidet sich deutlich von der der Quartette: Während die Quartette durch Metaphernreichtum, Neologismen und Satzbrüche geprägt sind, sind die Terzette durch ausgesprochen prosaische Sprache gekennzeichnet.

 

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