Roadmoving

Überblickskommentar:

Auf der Realebene wird im Verlauf des Gedichtes allmählich enthüllt, dass eine Tandemfahrt mit einer vorn sitzenden Frau und einem dahinter sitzenden blinden Mann beschrieben wird. Zu Beginn der ersten drei Versgruppen wird jeweils die Frau von Dritten charakterisiert und im zweiten Teil der Versgruppen nimmt das lyrische Ich dazu und zu seiner Beziehung zu ihr Stellung. Auf der übertragenen Ebene entspricht die Tandemfahrt dem Verhältnis von lyrischem Ich und der ihn leitenden Muse bzw. dem Verhältnis von Autor, Gedicht und Publikum. In der letzten Versgruppe wird die Beziehung als gewollt, aber auch als alternativlos dargestellt.

Roadmoving


 
Arg
zugeknöpft
sagt man mir
schwierig
Sei
sie
und schlimmer noch ganz
Entemotionalisiert
.
Ich

Denn nur auf
kurzdistanz

5
Hintereinanderher
leben wir beide
Kanns nicht
bestreiten
.
 
Und
hübsch
sagt man mir einigermaßen
Nein gar nicht eher
stieseliger typ dabei schrullig

Diskursfragmentiert
und
mit zähen waden
. Das
10Auch trifft zu weil durch
wahrnehmungsräume
full

Speed
jagt sie meist dass der
fahrtwind

Zerreißt jedes wort
.
 
Und
ich selbst
zugegeben
ich fänd

Manch andere besser nicht diese
sorte

15
Zwanghaft a tergo
. Fußfest jedoch in den pedalen
Leben ob tag ob nacht wie im
steigbügel
Tamerlan
weit

Das angesicht mondgroß offen
im fallenden
Anhauch der Himmel
die hautnah sind sie gleichzeitig

Kaum hörbar fern
 – das ists das wollt ich vor allem
20
Blind
und
somit ohne wahl
.

 

Stellenkommentare:

Titel:    Dem Titel zu Grunde liegt eine Anspielung auf das Filmgenre ‚Roadmovie‘. Die Handlung von Roadmovies spielt auf Landstraßen und Highways, die Reise wird zur Metapher für die Suche nach Freiheit und Identität der Protagonisten. Die in ‚Movie‘ nur anklingende Bewegung wird durch moving wieder verdeutlicht, das lyrische Ich ersetzt allerdings im Gedicht die Suche nach Freiheit und Identität durch die Bewegung als Ziel.

v.1     Arg:  Adverb mit der Bedeutung von ‚sehr‘.

v.1    zugeknöpft:  Bezogen auf Kleidung, übertragen ‚schwer zugänglich‘, schwierig (v.1). Die Beschreibung der Person (sie v.2) geht von außen nach innen (vgl. v.3 Entemotionalisiert) und bewertet die Person immer negativer (schlimmer noch v.2).

v.1    sagt man mir:  Vom lyrischen Ich wird im ersten Teil der Versgruppe (v.1-3) wiedergegeben, wie andere die in Rede stehende Person (sie v.2) einschätzen. Dies trifft ebenso auf den ersten Teil der 2.Versgruppe (v. 7-9) zu. Im ersten Teil der 3. Versgruppe (v.13-15) wird diese Parallelität variiert: Hier stimmt die Einschätzung der Anderen mit der des lyrischen Ich überein. Alle drei Abschnitte werden jeweils durch einen Punkt beendet; dies fällt auf, da in den fünf weiteren Gedichten des Zyklus keine Satzzeichen (Punkt, Komma, Semikolon) verwendet werden.

v.2    sie:  Zunächst suggeriert der Autor, es werde über eine weibliche Person gesprochen, zu der das lyrische Ich in prekärer Beziehung steht. Im Verlauf der Selbstexplikation wird aber deutlich, dass hier auf der übertragenen Ebene der Autor über seine Lyrik spricht.

v.3    Entemotionalisiert:  Modernes Synonym für ‚gefühllos‘, die Wortwahl aus dem Wissenschaftsbereich spiegelt die Distanz zum Gefühl wider.

v.3ff    Ich / … / … bestreiten:  In den Hauptsatz (v.3 + v.6) ist ein begründender Nebensatz (v.4f) in der syntaktischen Struktur eines Hauptsatzes eingeschoben. Diese Verschachtelung verdeutlicht, wie schwierig die Beziehung ist. Diese Bestätigung der Einschätzung der anderen durch das lyrische Ich ist parallel zu Das / Auch trifft zu (v.9f) und zugegeben (v.13) zu sehen.

v.4    kurzdistanz:  Unübliches Wort zur Charakterisierung von Beziehungen (im Gegensatz zu ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘). Wie sich im Folgenden zeigt, bezieht sich das Wort auf der konkreten Ebene auf die Sitzformation auf einem Tandem. Auf der übertragenen Ebene kann so die Beziehung des Autors zu seiner Lyrik bzw. zur Transzendenz interpretiert werden (vgl. dazu zu v.17ff).

v.5    Hintereinanderher:  Üblicherweise ‚läuft‘ man Hintereinanderher und spricht vom ‚nebeneinander her‘ leben. Die Überlagerung von Bewegung (Roadmoving) und Leben lässt sich als Versuch der unendlichen Annäherung an die Transzendenz begreifen.

v.7    hübsch:  In Bezug auf eine Person ein verniedlichendes Attribut, in Bezug auf Lyrik nur ironisch zu verstehen (eine ‚gefällige‘ hübsche Lyrik scheint das lyrische Ich abzulehnen). Während in der ersten Versgruppe an analoger Stelle eine Steigerung vorgenommen wird (vgl. zu zugeknöpft v.1), wird hier die Charakterisierung stückweise zurückgenommen (einigermaßen (v.7), nein gar nicht (v.8)) und die Person im Folgenden anders beschrieben. Wie in der ersten Versgruppe ist dies wieder eine Charakterisierung durch Dritte (vgl. zu sagt man mir v.1).

v.8    stieseliger typ dabei schrullig:  ‚Stiesel‘ meint umgangssprachlich eine ungeschickte, dumme, schrullig eine unberechbare, eigensinnige Person. Hier werden wieder durch Dritte die Gedichte als ungeschickt und eigensinnig beschrieben.

v.9    Diskursfragmentiert:  ‚Diskurs‘ meint zunächst eine rationale Kommunikation. In der modernen Forschung wird ‚Diskurs‘ definiert als die durch Sprache konstituierte Wirklichkeit einschließlich deren Machtverhältnisse. Die Charakterisierung der Gedichte als ‚diskursfragmentiert‘ trifft auf der grammatisch-syntaktischen Ebene zu: Der Satzbau ist häufig unvollständig, durch Einschübe unterbrochen oder unregelmäßig. Auf übertragener Ebene könnte man sagen, dass der herrschende Diskurs (rationale, ökonomisierte Weltbetrachtung) durchbrochen wird und ein anderer Weltbezug (transzendenter Art) aufscheint.

v.9    mit zähen waden:  Diese Formulierung weist (ebenso wie z.B. Hintereinanderher (v.5) und Fußfest in den Pedalen (v.15)) daraufhin, dass auf der Realebene eine Tandemfahrt beschrieben wird. Auf der übertragenen Ebene ist auf die ‚Versfüße‘ angespielt, die von der Kraft der ‚Waden‘ schwerfällig (‚zäh‘) bewegt werden.

v.10    durch wahrnehmungsräume:  Die Bewegung durch den Raum, die bereits der Titel ankündigt (vgl. zum Titel und auch zu v.5), ist auf der Realebene als Tandemfahrt zu interpretieren. Der Plural verweist auf individuierte Wahrnehmungen (vulgo ‚Weltanschauungen‘), die sich in den Gedichten zeigen. Der Raum als von der Zeit abhängige Größe variiert im historischen Verlauf und produziert einen jeweils charakteristischen herrschenden Diskurs (vgl. zu v.9 Diskursfragmentiert), den das Gedicht sowohl widerspiegelt als auch durchquert.

v.10f    full / Speed:  Die hohe Geschwindigkeit könnte als Bezug auf die sich beschleunigenden Weltbeziehungen der Gegenwart interpretiert werden (vgl. dazu Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung).

v.11f    fahrtwind / Zerreißt jedes wort:  Auf der Realebene ist gemeint, dass eine Verständigung bei hoher Fahrtgeschwindigkeit schwierig ist. Übertragen könnte man annehmen, dass das Tandem (Dichter und Gedicht) die eindeutige Bedeutung der Worte  aufbricht und für neue Dimensionen öffnet. Dann könnte der fahrtwind als ‚pneuma‘, als Transzendenz interpretiert werden.

v.13    ich selbst … ich fänd:  Zur Einschätzung Anderer wird (wie in den jeweiligen zweiten Hälften der ersten und zweiten Versgruppe) die Position des lyrischen Ich hinzugefügt.

v.13    zugegeben:  Letztmalige Bestätigung der Einschätzung Anderer (vgl. zu v.3ff).

v.14f    sorte / Zwanghaft a tergo:  Durch die Anspielung auf Sexualität (a tergo) und Neurose (Zwanghaft) ironisiert das lyrische Ich seine Weltanschauung und seine Liebesbeziehung zur Lyrik bzw. zur Transzendenz. Angeknüpft wird an das Bild der Tandemfahrt und die kurzdistanz / Hintereinanderher (v.4f). Das lyrische Ich kann sich (auch weil es Blind (v.20) ist) aus dieser Situation nicht lösen.

v.16    steigbügel:  Der steigbügel entspricht den pedalen (v.15) des Tandems. Parallelisiert wird hier das Bild des Tandem fahrenden lyrischen Ich mit dem Bild des den Pegasus reitenden Dichters und des durch die Steppe reitenden Tamerlans.

v.16    Tamerlan:  Timur (in der abendländischen Geschichtsschreibung besser bekannt als Tamerlan) 1336 -1405. Khan eines Reitervolkes, der die Wiederherstellung des mongolischen Reichs anstrebte.

v.16    weit:  Das Adjektiv bezieht sich auf das Angesicht Tamerlans, vermittelt über die Weite der Steppe, durch die er reitet.

v.17    Das angesicht mondgroß offen:  Das Gesicht Tamerlans wird in mythische Dimensionen gesteigert und zeugt davon, dass er offen für die Transzendenz ist. Diese Offenheit kann auch auf das lyrische Ich bezogen werden.

v.17f    im fallenden / Anhauch der himmel:  Als Gegenbewegung zum Aufblicken des Tamerlan bzw. des lyrischen Ich scheint sich die Transzendenz dem Empfänglichen zuzuneigen. Neben der Bedeutung von ‚pneuma‘ für den Anhauch ist auch die Berührung durch die Muse mitgemeint. Der Plural von himmel könnte auf die im AT gebräuchliche Formulierung ‚Herr der Himmel‘ (für Gott als höchsten Herren) und damit wieder auf die Transzendenz verweisen.

v.18f    die hautnah sind sie gleichzeitig / Kaum hörbar fern:  Das hautnah verweist darauf, dass der Anhauch der himmel (die Transzendenz) ganz nah sein kann, aber die Transzendenz fern ist und für moderne Ohren Kaum hörbar. Dass die beiden Sinneswahrnehmungen (Fühlen und Hören) gleichzeitig eine unterschiedliche Nähe zur Transzendenz zeigen, lässt sich mit ihrer Beziehung zum Bewusstsein erklären: Das Fühlen erfolgt weitgehend unbewusst, das Hören hat über das Wort eine größere Nähe zur Rationalität.

v.20    Blind:  Der hintere Tandemfahrer, das lyrische Ich, ist blind (vgl. auch zu v.9, v.10 und v.14f).  Damit wird nach Fühlen und Hören eine dritte Sinneswahrnehmung genannt. Das Fehlen dieses Sinnes spielt auf das Motiv des blinden Sehers an, der zwar die reale Welt nicht sehen kann, dafür aber einen exklusiven Zugang zum Göttlichen hat. Gleichzeitig wird auch auf den Topos des blinden Dichters (Homer) angespielt.

v.20    somit ohne wahl:  Vgl. auch zu v.14f. Das lyrische Ich ist alternativlos seiner Muse ‚verfallen‘. Es fügt sich freiwillig (das wollt ich vor allem v.19) in dieses Schicksal; dies im Gegensatz zum heutigen Menschen, dessen Lebensentwurf durch Kontingenz oder Autonomie bestimmt ist.
Aspekte der Form:

Das Gedicht enthält als einziges der sechs Selbstexplikationen Punkte als Satzzeichen. Durch die Punkte werden die Versgruppen in jeweils zwei Einheiten geteilt, vergleichbar den auf dem Tandem sitzenden zwei Personen.

Das Reimschema: a/b/a/b/c/c // a/b/a/b/c/d // c/d/a/b/a/b // a/a. Berücksichtigt man die c- und d-Reime nicht, sieht man die Verwandtschft mit dem englischen Sonettschema: Drei Quartette und ein abschließendes Verspaar.

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