Über die Natur

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Entstehung von geistigem Leben über die Natur hinaus
 
Der Titel verweist auf die Entstehung des Lebens und auf die Evolution der Lebewesen, wie sie sich der Philosoph Empedokles vorgestellt hat. Die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln zeigt die VG 1 mit der Modifizierung von Leben durch Genmanipulation. Die VG 2 stellt die Erzeugung von virtuellem Leben durch Animationstechnik dar. In der VG 3 findet ein poetologischer Durchbruch in eine metaphysiche Welt statt. Die Kursiva beschäftigen sich mit der Transformation von Ding in Zahl und Zahl in Ding sowie der Differenz zwischen beiden. Im platonischen Dualismus werden Dinge als physikalische, Zahlen als metaphysische Gegenstände verstanden. Der Sprung in das Gedicht überwindet den Dualismus.
 
 

ÜBER DIE NATUR

 
Neu kombiniert
die Codes
Die Ketten transgen verlängert
Vielvliesformate

Serienprogramm
reifungs-

5Blockierter
Zielorganismen

 
Dinge die Dinge als Zahl −

 
Und
digital
mit Animationsapparaten
Mit Großbildtechniken eingekreuzt
Pixelkyklopen

10
Vollautomatisch
sich propagierend
Per Reproduktion im Fleisch
 
Zahlen die Zahlen als Dinge −

 
Blutrot
aber nachts die
plutonische

Knospe der Feuerträume
15Die schon den Gesteinshorizont
Durchstößt:
Höhlt
das Ein-
Auge des Inselgehirns
 
Dazwischen wie Spalt

− dass ich springe
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Peri phýseōs, „Über die Natur“, ist der Titel eines Werkes des antiken Philosophen Empedokles. Mit seiner Philosophie versucht er, zwei gegensätzliche Weltdeutungen zu verbinden: die Lehre des Parmenides, der nur dem Vollkommenen und Unveränderlichen (z.B. Zahlen) Wirklichkeit zuspricht (wie später auch Platon), und der Lehre des Heraklit, für den Sein und Werden unauflöslich verknüpft sind (Dinge). Der Titel spielt auch darauf an, dass heute Wissenschaft und Technik über die Natur hinaus weitere Welten schaffen können.
 
v.1f: Thema der VG ist die Modifizierung (Neu kombiniert) der DNA-Ketten des genetischen Codes, die durch sogenannte ‚Transgene‘ verlängert werden. Die in das Genom eingeschleusten Gene werden als Transgene bezeichnet.
 
v.3 Vielvliesformate: Vlies ist ein Stoff, der aus Fasern begrenzter Länge gebildet wurde. Er wird hier als Symbol für die neuentstandene Textur (-formate) der umfangreichen (Viel-) DNA benutzt.
 
v.4 Serienprogramm: Zur Modifizierung der DNA sind serielle Arbeitsverfahren notwendig.
 
v.4f reifungs- / Blockierter: Ein Begriff aus der Krebsforschung: In der Entwicklung einer Zelle zu einer Krebszelle wird die zelluläre Differenzierung in einem frühen Stadium der ‚Reifung blockiert‘, so dass sich die unausgereifte Zellen autonom und unkontrolliert teilen können. Die Hoffnung besteht, dass die ‚Reifungsblockierung‘ durch Gentechnik verhindert werden könnte.
 
v.5 Zielorganismen: In der Gentechnik bemüht man sich darum, den Genpool von Pflanzen so zu modifizieren, dass sie nur gegen bestimmte Schädlinge (Zielorganismen) restisten werden. Die Gefahr besteht, dass auch Nicht-Zielorganismen betroffen sind.
 
v.6: In der modernen Naturwissenschaft (also auch in der Gentechnik) sind die Gegenstände der Forschung (Dinge) nur dann zugänglich, wenn sie vermessen werden können (Zahl). Der sprachlichen Verdoppelung (Dinge … Dinge) entspricht dem Transformationvorgang in der Gentechnik.
 
v.7f: Über Zahlen (insbesondere Null und Eins) wird digital eine virtuelle Welt geschaffen. Mit Hilfe von Animationsapparaten (PC und Spielekonsolen) können Figuren auf Großbildschirmen lebendig (‚animiert‘) dargestellt werden. eingekreuzt ist ein Begriff der traditonellen Züchtung und kreiert einen Gegensatz zu Gentechnik (VG 1) und Animationstechnologie (VG 2), spielt aber auch den v.11 (Reproduktion im Fleisch) an.
 
v.9 Pixelkyklopen: In der griechischen Mythologie sind Kyklopen Giganten mit nur einem Auge auf der Stirn. Kyklopen kommen häufig in Computerspielen vor. Sie werden dort mit Hilfe von Bildpunkten (Pixel) generiert.
 
v.10f: Die mit Hilfe von Animationen geschaffenen Figuren werden im Gehirn des Computerspieler ‚reproduziert‘, sie werden ‚inkarniert‘ (von ‚carne‘, das Fleisch), sie breiten sich dort aus (propagieren sich).
 
v.12: Mit der Animationstechnik entstehen aus Zahlen Figuren (Dinge). Hier entspricht die sprachliche Verdoppelung (Zahlen … Zahlen) dem Transformationsvorgang in der Animationstechnik.
 
v.13ff: Es überlagern sich drei Bildebenen: Die nächtlichen Feuerträume, die sich öffenende rote Knospe und der Ausbruch eines Vulkans (Gesteinshorizont / Durchstößt). Mit allen wird symbolisch auf die Entstehung eines geistigen Gebildes (z.B. des Gedichtes) verwiesen.
 
v.13 plutonische: Der Plutonismus war um 1800 eine Vorstellung, der zufolge die Erde (Gesteine, Gebirge, Kontinente) ursprünglich durch eine Zentralfeuer (Vulkanismus) entstanden ist. Ihr stand die Schule des Neptunismus gegenüber, wonach Gesteinsschichten durch Sedimentablagerung aus Wasser entstehen.
 
v.16f: Die Höhle des einäugigen Kyklopen Polyphem ist nach Euripides der Ätna auf der Insel Sizilien. Das Inselgehirn könnte auf den Dichter und das Ein- / Auge auf sein Sehertum verweisen. Das Höhlt erinnert an den Durchbruch des Geistes zur Wahrheit in Platons Höhlengleichnis.
 
v.18f: Angespielt wird auf den Tod des Empedokles, der der Legende nach sein Leben mit einem Sprung in das Feuer des Ätna beendete. Das lyrische Ich vollzieht diesen Sprung symbolisch nach; es nimmt die Möglichkeit wahr, mit seinem Gedicht in den Spalt zwischen Zahlen und Dingen, zwischen Vollkommenes und Werdendes zu springen.