Beziehungsgeflüster

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Suche nach Liebe und Erfüllung parallelisiert mit der Gewalt des treffenden Wortes
 
Die erste und zweite VG zeigen, wie moderne Partnersuche im Internet funktioniert und wie die Menschen ihre Einsamkeit durch sie zu überwinden suchen. Daran knüpft die 3. VG mit dem platonischen Mythos der Kugelmenschen an, die ihr Leben auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte verbringen. Der Misserfolg dieser Suche führt zu Depression und Heillosigkeit (VG 4). Die Vereinigung der getrennten Hälften der Kugelmenschen drückt die heilende Kraft des Eros (der Liebe) aus und spiegelt sich in der Seinskorrespondenz von Wort und Ding wider. Mit der Figur des ins Ziel treffenden Eros identifiziert sich der Dichter, wenn das Gedicht gelingt (VG 5). Die Gewalt, die das treffende Wort hat, kehrt im Märchen ‚Rumpelstilzchen‘ wieder (VG 6) und wird kosmisch demonstriert an der Erschaffung der Welt („und Gott sprach:“ (Gen.1,2)). Sie beginnt mit dem Paradies (VG 8) und wird säkularisiert durch die Suche nach dem Anfang des Universums in der modernen Astronomie (VG 7). Das Paradies mit dem Sündenfall rückt die Abwertung der Frau und der Liebe ins Zentrum und versinnbildlicht dies am Beispiel der Prostitution (VG 9).
 
 

BEZIEHUNGSGEFLÜSTER

 
Dass mindestens
zwei von 100.000 Mitgliedern
Und beide mit hand- sowie gesondert
Noch TÜV-geprüften Zeitgleichonlineprofilen
Nicht zu vergessen für Android Mobil Apps und für iPhone
5
Dass die tatsächlich
wir die kontaktieren dafür gibt es

Gibts algorithmenbasiert Erfolgsquoten
Täglicher Quickpartner die
 
Nur ein paar
CYBERSPACE-Clicks

Und loszischt sofort eine Ladung Signalschrot
10Die mit Wahrscheinlichkeitstreffern haltlose
Einsamkeitshorizonte bepixelt
 
Feinkörnige Materialisation
der Sage

Wo eine Ursprungskugel zerspalten
Halbmensch nach Halbmensch strebt
15
Wegen des Gleichgewichts
auf der Waage

 
STABILER IDENTITÄT − versinkend
In Depression falls er leer ausgeht
So kategorisch
ein Teil des anderen Heil

Durch Seinskorrespondenz wie Wort und Ding
 
20
Sehne

Mir im Kehlkopfbogen spann dich auf des Pfeiles
Ziel mit der Mitte aufgewogen stürz ich
Wenn er sie verfehlt denn
 
Paradigmatisch seit
je Jungfer Müllerin

25Die Stroh zu Gold spinnend richtete
Sie beinah zugrund sich mit Rippenbiest
Heißest du Hammelswade traf aber immerhin
 
Vollwichtig
das Wort dann
bei Hase

Und Fuchs während manch andere durch riesige
30
Strohhalme bis
in das Hintergrundsloch des

KOSMOS hinaus müssen sie lauschen ein blasses
 
Nachrauschen nur einzufangen
Aus
goldener Zeit
da der Herrgott
noch

Antwort auf Adam war
und Eva

35Frage der Schlange
 
Affektappell
wie er spät
wenn wir zögernd

Die Herbert oder Oranien wo
grell devianter

Gewerbefleiß unüberhörbaren
Gruß gurrt und auch unser Eigenheim nachts
40Stumm blieb es steif ohne die Streicheltöne
Von Lust-Phoni-
Yoni
und ach

Tele-
Irene

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel bezieht sich auf die Partnersuche und mit geflüster auf die poetologische Ebene des Gedichtes (VG 5).
 
v.1ff: Die erste VG beschäftigt sich mit der algorithmenbasierten modernen Partnersuche über TÜV-geprüfte Online-Partnervermittlungen (wie z.B. ElitePartner oder Parship), in denen die Profile der Suchenden zusätzlich von Mitarbeitern hand-geprüft werden. Dass es angeblich zu hohen Erfolgsquoten (‚9 von 10 Parship-Paaren bleiben zusammen‘) kommt, soll durch die Zeitgleichonlineprofile gewährleistet werden. Das Wortungetüm sugggeriert ironisch, dass ‚Gleich zu Gleich‘ sich ohne Zeitverzug online findet (‚Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship‘.) Daneben gibt es sogenannte Singlebörsen, die kurzfristige Sexualkontake (Quickpartner) vermitteln.
 
v.5: Der Satzbruch nach tatsächlich, die Wiederholung des die und die rhetorische Figur der Anadiplosis (gibt es / Gibts) verdeutlichen das ironische Erstaunen des lyrischen wir über das Zueinanderfinden von Partnern mit Hilfe von Online-Partnervermittlungen.
 
v.8ff: Anknüpfend an die Singlebörsen rückt die 2. VG den Sexualkontakt (v.9, durch den Menschen ihre Einsamkeit und Haltlosigkeit zu bekämpfen versuchen, ) in den Vordergrund. Sie hoffen, dass sich im virtuellen Raum (CYBERSPACE) durch die eingestellten Bilder (Ladung Signalschrot und bepixelt) die Wahrschlichkeit eines Treffers erhöht. Diese ‚feinkörnigen Schrotschüsse‘ werden als Materialisation (v.12) eines geistigen Konzepts, der Sage von den Kugelmenschen (s. zu v.12ff), interpretiert.
 
v.12ff: Der 3. VG liegt der Mythos von den Kugelmenschen (Ursprungskugel) aus Platons Symposion zu Grunde. Dort erklärt Aristophanes die Liebe (Eros): Ursprünglich hatten die Menschen kugelförmige Rümpfe mit zwei Köpfen, vier Armen und vier Beinen. Es gab drei Geschlechter: Menschen, deren einer Teil männlich und der andere weiblich war, Menschen mit zwei weiblichen Teilen und solche mit zwei männlichen Teilen. Da die Kugelmenschen übermütig wurden, zerschnitt Zeus sie in zwei Hälften. Diese Halbmenschen leiden aber seitdem unter ihrer Unvollständigkeit; jeder sucht die verlorene andere Hälfte. Die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit zeigt sich in Gestalt des erotischen Begehrens, der Liebe.
 
v.15ff: In der Psychologie nimmt man an, dass die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson einen Menschen aus dem Gleichgewicht bringen, eine Störung seiner stabilen Identität verursachen oder eine Depression auslösen kann.
 
v.18f: Im Mythos des Kugelmenschen ist die Liebe eine Grundform (kategorisch) des Seins, weil jeder Teil des anderen Heil ist. Wort und Ding (Geist und Materie) gehören zwar unterschiedlichen Seinsformen (Kategorien) an, antworten aber auf einander (-korrespondenz). Die Verbindung der Teile zur Einheit wird durch den Reim von Teil auf Heil hörbar gemacht.
 
v.20ff: Das mit Wort und Ding angesprochene poetologische Thema wird in den folgenden Versen in das Bild des mit Pfeil und Bogen zielenden Eros übersetzt (Sehne, -bogen, Pfeil, Ziel). Das lyrische Ich identifiziert sich als Dichter mit Eros: trifft er mit seinem ‚geflügelten‘ Wort (dem Pfeil) das Ziel (die Mitte), dann ist die Korrendondenz von Wort und Ding, das Gedicht, gelungen (vgl. dazu z.B. Hölderlins Gedicht ‚An die Parzen‘). Das Misslingen des Gedichtes wird als Sturz interpretiert (symbolisiert durch den fehlenden Reim auf Ziel).
 
v.24ff: Die 6.VG umspielt das Grimmsche Märchen ‚Rumpelstilzchen‘. Das Märchen zeigt paradigmatisch und zeitlos (seit je) die Menschen antreibenden Seinskräfte (hier die Gier: Stroh zu Gold) und die Gefährdungen (richtete / Sie beinah zugrund). aber auch das Gelingen mit dem treffenden Wort (Rumpelstilzchen). Dass Rumpelstilzchen sich nach der treffenden Benennung durch die Jungfer Müllerin ‚mitten entzwei reißt‘, ist als ironischer Kontrapunkt zum Entzweischneiden der Kugelmenschen im Mythos (s. zu v.12ff) zu interpretieren.
 
v.28 Vollwichtig: Eigentlich ein Begriff aus dem Münzkunde für ‚das volle vorgeschriebene Gewicht habend‘. In der Jungendsprache (‚voll wichtig‘) die Bedeutung einer Sache unterstreichend.
 
v.28f bei Hase / Und Fuchs: Redewendung für ‚am Ende der Welt‘
 
v.30ff: Mit ihren Teleskopen (riesige / Strohhalme, Wiederaufnahme des Dingsymbols Stroh (v.25)) versuchen die Astronomen bis zum Ende des Universums zu lauschen, um den Anfang des / KOSMOS zu verstehen. Sie fangen dabei die kosmische Hintergrundstrahlung ein, die kurz nach dem Urknall entstanden ist (ein blasses / Nachrauschen). Möglichlicherweise deutet die Formulierung Hintergrundsloch auf die Leerstelle hin, die eine naturwissenschaftliche Erklärung gegenüber einer religiösen Schöpfungsgeschichte aufweist.
 
v.33: Mit goldener Zeit wird v.25 Stroh zu Gold wieder aufgenommen. Aus goldener Zeit verweist auf eine sinngebende Weltanschauung, wie sie in Märchen, Mythen oder Religionen vertreten wird. So erschafft der Herrgott in jener Zeit, am Anfang, die Welt nur durch das Wort (Joh. 1,1).
 
v.33f da der Herrgott noch / Antwort auf Adam war: Nur in einer nicht-säkularisierten Welt, in der der Herrgott noch existiert, kann Adam auf die Frage nach dem Sinn seines Daseins Antwort erhalten. In einer säkularisierten Zeit ist die Sinnfrage, die sich der Mensch stellt, nicht mehr mit Herrgott zu beantworten. Insofern scheint es, als sei in transzendenzferner Zeit der Herrgott als blasses / Nachrauschen nur einzufangen.
 
v.34f und Eva / Frage der Schlange: Der Sündenfall, der durch die Frage der Schlange in Gang gesetzt wird, führt zur Unterscheidung von Gut und Böse. In der katholischen Kirche wird daher traditionell Eva (die Frau) als grundsätzlich offen für das Böse gesehen. Mit dem Sündenfall wird die christliche Abwertung der Sexualität begründet (Sie „wurden gewahr, dass sie nacket waren“ Gen.3,7) und der Frau die Rolle der Verführerin zugewiesen. Zugleich wird mit der dann folgenden Vertreibung aus dem Paradies der Tod, das Ende der goldene(n) Zeit, begründet.
 
v.36 Affektappell: In der Rhetorik kann die ‚peroratio‘ und das ‚prooemium‘ (der Schluss und der Anfang einer Rede) einen Affektappell, mit dem an die Emotionen des Publikums appelliert wird, enthalten. Auch in diesem Gedicht wird er spät, in der letzten Versgruppe zitiert und richtet sich nicht an das lyrische Ich, sondern wie auch in der ersten Versgruppe an ein ‚lyrisches wir‘, also an das Publikum.
 
v.36ff: Die letzte Versgruppe variiert das Thema der ersten VG: die Partnersuche. Hier findet sie auf dem Hamburger oder Berliner Straßenstrich (Herbert oder Oranien(burger)straße) statt oder im Eigenheim als Tele-sex (Telefon bzw. Television).
 
v.37f grell devianter / Gewerbefleiß: Das angeblich älteste Gewerbe der Welt (die Prostitution) wird hier aus der bürgerlichen Sicht als abweichend (‚deviant‘) bezeichnet.
 
v.41 Yoni: tantrischer Begriff für die weiblichen Genitalien
 
v.42 Irene: Griechisch-lateinisch ‚die Friedliche‘. Hier auch als ironischer Anklang an Selbst-‚Befriedigung‘ zu interpretieren.