Einstrahlungen

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Einstrahlungen als Erinnerungen der Seele (Abendfalter) an ihre Herkunft aus der Transzendenz und als Zeichen, an denen die Seele den Weg aus der Materie zurück zum Ursprung finden kann.
 
Das Gedicht verschränkt philosophische und religiöse Elemente miteinander: 1) Das dem (vom ‚bösen‘ Demiurg geschaffenen) Menschen innewohnende geistige ‚gute‘ Prinzip, der Funken, der den Rückweg zur geistigen Vollkommenheit, ermöglicht (Gnosis). 2) Der Weg des Individuums zurück zur ursprünglichen Einheit: von der Materie über die Seele, den Geist und das Sein zurück zur Einheit, zum transzendenten Absoluten (Plotin). 3) Die Vollendung der Menschheitsgeschichte am Berg Zion: an dem Frieden wird und alle Völker Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln (Jes. 2,4) machen (Judentum). Diese Elemente konkretisieren sich in Bildbereichen der Natur: Fels und Flora, Falter und Lava, Wolken und Blitze. 4). Auf einen Kreislauf des Lebens wird mit Ähre angespielt (Mysterien von Eleusis, s. zu v.18f).
 
 

EINSTRAHLUNGEN

 
Der äußerste
Fels
Ein dunkles Wagnis
Und Aufwärtswandlung
Ins oberirdische Farben-
5 Gewebe von
Florenzonen

 
Unter des Frühmonds Pflugschar –

 
Und dann
Abendfalter

Die auf mäandander Duftspur
Trübungseffekte da ist viel
10Vorläufiges: Wie es wandert
Zum Leuchtband des Lavadeltas
 
Unter des Spätmonds Sichel –

 
In den
Passatwolken
aber
Konfigurale
Erregungsmuster
15
Stabile Blitze
– die
Spielen mit blühenden Flügeln – die
Spielen noch nicht und nicht mehr
 
Mondernte bin ich – schneidbar

Bis auf der Ähre Licht
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Die Einstrahlungen als Spuren der Transzendenz in der ‚Materie‘: das Licht der Sonne (der Transzendenz), das der Mond (v.6, 12, 18) weiterleitet; das Leuchtband des Lavadeltas (v.11); die Stabile(n) Blitze (v.15) In den Passatwolken (v.13).
 
v.1ff: Die erste Versgruppe vollzieht eine Bewegung vom dunklen Unterirdischen Ins oberirdische Farben- / Gewebe. Diese Bewegung wird parallelisiert mit der Aufwärtswandlung eines gnostischen Funkens von der äußerst verdichteten Materie (dem Fels), über die pflanzliche Ebene (Florenzonen) und der Fauna (dem Abendfalter als Symbol der menschlichen Seele) bis zur Rückkehr in den rein geistigen Bereich, in das Pneuma.
 
v.5 Florenzonen: Die ‚Florenzone‘ ist ein Fachbegriff der Geobotanik und ist gleichbedeutend mit ‚Vegetationszone‘.
 
v.6: s. zu v.18f. Auch Anspielung auf Jes. 2,4 „Schwerter zu Pflugscharen“.
 
v.7ff: Die Abendfalter, die für die menschlichen Seele stehen, folgen einer ätherischen Spur, die – mäandernd durch ‚Trübungen‘ und Vorläufiges – zu einem ‚Delta‘ führt. So wie ein Fluss mit einem Delta in das Meer mündet, so vervollständigt sich das menschliche Leben mit dem Tod in der Transzendenz. Das verdeckte Bild eines Vulkans, der ausbricht, verweist mit dem Leuchtband seiner Lava auf die Spur dieser Transzendenz im Irdischen (vgl. zum Ausbruch zu v.1ff). Der ‚Abend‘, die Trübungseffekte und viel / Vorläufiges (das Nicht-End-Gültige) beziehen sich auf eine Spätzeit, die Moderne, in der nur noch Spuren der Transzendenz wahrnehmbar sind.
 
v.7 Abendfalter: Die Schmetterlinge werden häufig in Tag- und Nachtfalter unterteilt, eine Gattung ‚Abendfalter‘ existiert nicht. In der Tradition ist der Schmetterling ein Symbol für die Seele. Die Wandlung der Puppe zu einem Falter kann als Aufwärtswandlung (s. v.3) verstanden werden.
 
v.12: s. zu v.18f. Auch Anspielung auf Jes. 2,4 „Spieße zu Sicheln“.
 
v.13ff: Die dritte Versgruppe umspielt die Einstrahlungen der Transzendenz in die in der Materie gefangene menschliche Seele (mit blühenden Flügeln v.16). Die Passatwolken stehen für das Pneuma (den Geist), durch das die Seele ganzheitlich (konfigural) und blitzartig erregt wird. Das Transitorische der menschlichen Existenz in der Materie wird durch das Spielen der blühenden Flügel (die noch nicht in der Materie angekommen bzw. nicht mehr in der Materie gefangen sind) symbolisiert.
 
v.13 Passatwolken: Der Passat ist ein Windsystem, das in den Tropen bzw. Subtropen rund um den Erdball auftritt. Als eine mögliche Herkunft wird italienische ‚passata‘ (Überfahrt) angenommen.
 
v.14 Konfigurale: Ganzheitliche Wahrnehmung (die Figur als solche ganz erfassen), im Gegensatz zur analytischen Wahrnehmung.
 
v.15 Stabile Blitze: contradictio in adiecto: Da der Blitz definitionsgemäß ein kurzzeitiger Lichtbogen zwischen Wolken und Erde ist, widersprechen sich hier Adjektiv und Substantiv. Die contradictio in adiecto ist, wie auch das Paradoxon, ein übliches Stilmittel zur Kennzeichnung transzendenter Ereignisse.
 
v.18f: Das zu Grunde liegende Bild des menschlichen Lebens als transzendenzferne Nacht (vom Frühmond (v.6) bis zum Spätmond (v.12)) wird mit dem Bild des Lebens als Weizenanbau (von der Aussaat (Pflugschar v.6) bis zur Ernte (Sichel v.12)) kombiniert. Das Leben schließt mit dem Tod (der Mondernte (v.18)), der alles beendet − bis auf den göttlichen Funken (Ähre Licht (v.19)).Durch die Anspielungen auf Jes. 2,4 (s. zu v.6) wird das individuelle Lebensende mit der Vollendung der Menschheitsgeschichte parallelisiert. Daneben steht die Ähre in den Mysterien von Eleusis für einen Kreislauf von Tod und Neuanfang. Hier symbolisieren die Samen der Kornähre den göttlichen Funken, durch den aus der Erde ein lebendiger Körper aufersteht, und zur Welt kommt, um dereinst zu sterben, zu Erde zu werden. Dabei kehrt die Seele zu ihrem Ursprung zurück, um irgendwann erneut ausgestreut und aus einer irdischen Mutter zur Welt gebracht zu werden. Dies wird im Mythos von Demeter und Persephone versinnbildlicht.