Farbspiele

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Symbolisch wird mit den beiden Farben Blau (Unendlichkeit und Erscheinung) (v.1-19) und Gold (prima materia, Substanz) (v.20-24) das Verschwinden der Transzendenz bzw. deren verborgene Fortexistenz in der Gegenwart konstatiert.
 
Die 1. Versgruppe zeigt das Absinken der romantischen Farbe Blau in die mit Lasertechnik ausgestattete Unterhaltungselektronik (z.B. DVD-Player oder Spiele-Konsolen). Die Versgruppen 2-4 beschäftigen sich mit dem geschichtlichen Bedeutungswandel der Farbe Blau von den Griechen über die Römer bis zum Christentum. Das lyrische Ich betrauert mit Blick auf die Sterne in VG 5 den Untergang der Transzendenz und wünscht sich nicht untergehende (zirkumpolare) Sterne. In den VG 6-8 wird die mythische Bedeutung von Gold (Grabbeigaben) ebenso wie dessen ‚Realpräsenz‘ (Fördermenge aus der Erde und liquides Vorkommen im Meer) erörtert. VG 9 kehrt zurück ins bürgerliche Milieu und dessen Versuche, die Tristesse mittels Drogen, Feuerwerk und Nagelschmuck zu überwinden.
 
 

FARBSPIELE

 
Blümelein blau
irgendwie

Wars ja als Bringer bloß Ausfall
Jetzt aber unser
Indiumgalliumnitrid-

Diodenlaser 405nm Blaustrahl
5
Der zaubert
voll abwärtskompatibel
Beliebige Inhalte
dieser gewandte

Abstauber von einem Karriereding
 
Da doch
aus
irisierender Wolkenpracht

Von Griechen
verbannt

10Von Römern als raue
Barbarenfarbe verachtet
 
Schließlich zu
Ultramarin

Purifiziert
tief aus dem Schmuddeltopf
auf-

Stieg Blau auf die
gebenedeiten

15
Schultern Mariens

 
Heut noch
vom TAUSENDÄUGIGEN Argwohn

Der Altgötterregentin abends begleitet
Der diese Nachfolgerin wenig passt
Auf fromm usurpiertem Thron
 
20
Schlaflos lässt mich ein

Trauern nachts auf zum Himmel sehn lass
Dort Sterne mich schauen tags die nicht
Untergehn denn vorbei
 
Ach Goldgaben
wie sie seit
Warnafeldzeiten

25Aus finsteren
Erzteufeschichten

EINHUNDERTACHTUNDSECHZIGTAUSEND

Tonnen
empor sich geläutert

 
Göttermacht
hierher zu laden

Epiphanierend wenn eine
Heldenfaust

30Untiere bestand oder die zarte
Kindbraut den Gatten
 
Fort aber dennoch
währen im wechselvollen

Weltmeer gelöste unendliche SECHS MILLIARDEN
Fließend wie Licht und der Sehnsucht
35Nur ihr sichtbar als Gold
 
Wobei für den Hausgebrauch

Wenns denn liquid zugehn soll tuts
Unserer Sehnsucht Lysergsäurediethylamid auch
Goldener Effektkörperschuss
40Mit Palme Päonie Komet und
wow!

Die Finger und vorn schon am Fuß

Da blühts lapislazuliblau!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Farbspiele: Im Spiel der beiden Farben Blau und Gold kann gezeigt werden, auf welche Weise die Transzendenz in die Immanenz eingespiegelt wird.
 
v.1 Blümelein blau: Anspielung auf die ‚Blaue Blume‘ der Romantik. Sie ist dort ein zentrales Symbol und steht für Sehnsucht und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen. Zitiert wird der Beginn der 2. Strophe („Blümlein blau! Blümlein blau! / Verdorre nicht! verdorre nicht!“) aus dem Lied „Wenn mein Schatz Hochzeit macht“ des Spätromatikers Gustav Mahler.
 
v.1f irgendwie / Wars ja als Bringer bloß Ausfall: Schon der Diminutiv Blümelein zeigt, dass die poetische Kraft des Symbols immer schwächer geworden ist, so dass seine zentrale Botschaft, das metaphysiche Streben, ‚es schon lange nicht mehr bringt‘, schon lange nutzlos ist: ein Ausfall.
 
v.3f Indiumgalliumnitrid- / Diodenlaser 405nm Blaustrahl: Der Laser in Blue-Ray-Disc- und HD-DVD-Laufwerken nutzt das Halbleitermaterial Indiumgalliumnitrid. Im Gegensatz zu anderen Lasern bündeln seine Dioden das blau-violette Spektrum (405nm Blaustrahl).
 
v.5f Der zaubert voll abwärtskompatibel / Beliebige Inhalte: Der romantische Begriff zaubert ironisiert den Glauben an die Technik. An die Stelle des metaphysischen Strebens der Romantik werden voll abwärtskompatibel / Beliebige Inhalte gesetzt. Als ‚Abwärtskompatibilität‘ wird die Verwendbarkeit neuerer Versionen eines technischen Objekts zu den Anwendungsbedingungen einer früheren Version bezeichnet.
 
v.6 dieser gewandte / Abstauber von einem Karriereding: Die Lasertechnik, die Karriere in der Unterhaltungsindustrie gemacht hat, ist ein ‚abgestaubtes‘ Produkt der physikalischen Grundlagenforschung,
 
v.8ff: Mit v.8 beginnt eine Satzkonstruktion, die bis v.19 reicht. Der Hauptsatz erreicht den Gipfel in den v.13-15, mit dem Aufstieg des Blau auf die Schultern Mariens. Angefügt sind mit den v.16-19 noch zwei Nebensätze, die mit dem Argos und der griechischen Göttin Hera wieder zum Anfang des Satzes, der griechische Göttin Iris, zurückführen.
 
v.8 irisierender Wolkenpracht: Iris ist eine Gottheit der griechischen Mythologie. Sie ist die Personifikation des Regenbogens. In der Mythologie hat sie meist die Funktion einer jungfräulichen, geflügelten Götterbotin, vorzugsweise der Göttin Hera. Der Regenbogen zeigt sich u.a. vor Regenwolken. Das romantische Bild verweist auf den Bereich der Transzendenz.
 
v.9ff: Für die Griechen war Blau keine eigenständige Farbe, das heutige Dunkelblau war für sie Purpur, das Hellblau wahrscheinlich Grün. Weder kannten sie in einem Regenbogen die Farbe Blau noch war für sie Blau die Farbe des Himmels.Im antiken Rom galt Rot als die Farbe der Edlen; Blau war die raue Barbarenfarbe, denn die Kelten verdankten ihre blaue Kriegsbemalung der blaufärbenden Pflanze Waid. Erst im frühen, christlichen Mittelalter bekommt Blau in der Farbsymbolik eine positive Bedeutung.
 
v.12 Ultramarin: Ultramarin ist eine dunkelblaue Farbe, die aus dem Halbedelstein Lapislazuli (vgl. v.42) hergestellt wird. Das beste Vorkommen dieses Edelsteins liegt in Afghanistan; er wurde im Mittelalter über Venedig (ultra marin: über das Meer) importiert. In Ultramarin klingt der Name Mariens (v.15) schon an.
 
v.13 Purifiziert: lat. purificare „saubermachen, reinigen, läutern“. Das Reinigen der liturgischen Gefäße nach der Kommunion wird als Purifikation bezeichnet. Der Begriff taucht auch in ‚Purgatorium‘ (Fegefeuer) auf, in dem die Seelen geläutert werden.
 
v.13 tief aus dem Schmuddeltopf auf- / Stieg: Hiermit ist nicht nur die negative Bewertung der Farbe Blau durch die Antike gemeint, sondern auch der Aufstieg der Seelen in den Himmel, nachdem sie im Purgatorium Purifiziert worden sind.
 
v.14 gebenedeiten: Das Wort gebenedeit (deutsch: ‚gesegnet‘; vom Infinitiv ‚benedeien‘) ist die germanisierte Form des lateinischen Partizips ‚benedictus‘ (zum Infinitiv ‚benedicere‘). Prägnant wird es im ‚Ave Maria‘ verwendet: „Du bist gebenedeit unter den Weibern“.
 
v.15 Schultern Mariens: Traditionell wird Maria seit dem Mittelalter mit einem blauen Mantel um die Schultern dargestellt. Die Schultern haben insofern eine symbolische Bedeutung als sie die Last (wie Atlas) bzw. die Sünden der Welt (wie Christus) tragen.
 
v.16ff: Angespielt wird auf den tausendäugigen Riesen Argos, der im Auftrag der eifersüchtigen Götterregentin Hera die Geliebte des Zeus,die in ein Kuh verwandelte Io, begleitete und bewachte. Die Nachfolgerin der Altgötterregentin (Hera) ist Maria, die deren Thron fromm usurpiert und die als ‚maris stella‘, als Abendstern, aufgeht und vom Sternbild ‚argo navis‘ begleitet wird. Hier findet mit der Sternenfarbe Gold der Wechsel von der die ersten 4 Versgruppen dominierenden Farbe Blau zur die folgenden Versgruppen beherrschenden Farbe Gold statt. Gold könnte für die ‚prima materia‘ stehen, Blau für die Unendlichkeit.
 
v.20ff: Das lyrische Ich betrauert – Schlaflos wie der Riese Argos -, dass die Sterne, die es nachts an die Transzendenz erinneren, tagsüber nicht zu sehen sind; es wünscht sich Sterne, die tags zu sehen sind und die wie die zirkumpolaren Sterne nicht Untergehn. Die Sterne verweisen auf die Verbundenheit des lyrischen Ich mit der Transzendenz. Die Verbundenheit spiegelt sich in Mythos und Religion, ist aber heute untergegangen.
 
v.23f denn vorbei // Ach Goldgaben: Die mythische Bedeutung von Grabbeigaben aus Gold (vgl. zu v.24) ist wie die Verbundenheit mit der Transzendenz ‚begraben‘ worden.
 
v.24 Warnafeldzeiten: Auf dem Gräberfeld von Warna (am Schwarzen Meer im heutigen Bulgarien) wurden zahlreiche Goldfunde aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. gemacht.
 
v.25 Erzteufeschichten: Der Begriff verbindet Erzschichten und Teufe. Teufe ist die bergmännische Bezeichnung für die Tiefe. Sie gibt an, wie tief ein Punkt unter der Erdoberfläche liegt.
 
v.26: In der gesamten Geschichte der Menschheit wurden bis 2010 schätzungsweise 168.000 Tonnen Gold gefördert.
 
v.27 empor sich geläutert: Parallel zur v.13 Purifiziert (s. dort). Darin, dass das Gold nicht etwa geschürft wird, sondern sich selbst an die Oberfläche ‚läutert‘, zeigt sich diese ‚prima materia‘ als Göttermacht.
 
v.28f hierher zu laden / Epiphanierend: Epiphanie bezeichnet das Erscheinen einer Gottheit in dieser Welt. Dem entspricht, dass das Element Gold nicht auf der Erde entstanden ist, sondern wie alle Elemente, die höherwertig als Eisen sind, aus Sternexplosionen bzw. -kollisionen in die Erde (hierher) gelangt sind. Der Wechsel von Blau zu Gold (s. zu v.16ff) ist zugleich ein Wechsel von Erscheinung zu Substanz.
 
v.29ff Epiphanierend wenn eine Heldenfaust / … / … den Gatten: Am Schwarzen Meer liegt (wie das Warnafeld v.24) das Reich Kolchis, aus dem der mythische Held Jason – nachdem er mit seiner Heldenfaust Untiere (zwei feuerspeiende Stiere und einen Drachen) bestanden hat – das Goldene Vlies entführt. Auf der Flucht begleitet ihn seine Helferin, die Kind– und Jungfrau Medea. Um diese den ihn verfolgenden Kolchern nicht ausliefern zu müssen, hält er mit ihr auf dem Goldenen Vlies das Brautlager. Als Ehefrau und damit sein Eigentum muss er sie den Kolchern nicht ausliefern.
 
v.32ff: Nicht nur in der Erde (vgl. zu v.25 Erzteufeschichten) ist Gold vorhanden, sondern auch in dem wechselvollen / Weltmeer. Die Schätzungen reichen von 15.000 Tonnen bis zu unendliche SECHS MILLIARDEN (Reader’s Digest 1992, S.74). Dieses Gold symbolisiert die verdeckte Anwesenheit der Transzendenz (Fort aber dennoch währen) in der Gegenwart, es ist allerdings nur der Sehnsucht nach Transzendenz (Fließend wie Licht) sichtbar als Gold.
 
v.36ff: Anknüpfend an die häusliche Unterhaltungselektronik (Hausgebrauch) in VG 1 kehrt das Gedicht ins ‚biedermeierliche‘ Wohnzimmer zurück. Die dort herrschende Starre und Langeweile soll durch LSD (Lysergsäurediethylamid) bzw. andere Drogen (Goldener Effektkörperschuss) verflüssigt (‚liquidiert‘) werden. Die Drogen dienen als Placebo gegen die Sehnsucht nach der Transzendenz (vgl. v.34), damit riskiert aber der ‚Sehn-süchtige‘, dass ein Goldener … schuss ihn tötet. Der Verlust des transzendenten Bezugs wird hier nur scheinbar durch die in den Himmel geschossenen Effektkörper mit passiven Aufstieg (Feuerwerk mit den Effekten Palme Päönie Komet) kompensiert.
 
v.40 wow!: Ausruf des Erstaunens, nicht nur über das Feuerwerk, sondern auch über den im folgenden ‚blühenden‘ Nagelschmuck.
 
v.41f: Exessiver Drogenkonsum führt unter Umständen zu einer Blaufärbung der Finger- und Zehenspitzen. Das Blümelein blau des Eingangsverses kehrt von den Schultern Mariens (v.15) in den Schlussversen auf Finger- und Fußnägel lapislazuliblau! (vgl. zu v.12) zurück. Die romantische Sehnsucht brennt sozusagen immer noch auf den Nägeln.