Südstück

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Die transzendenzlose Gegenwart soll durch ein Pfingstereignis, das in die Sprache tritt, wieder belebt werden.
 
Die erste Versgruppe (VG) schildert eine ausgetrocknete, öde, Schmerz verursachende Gegend, die in mattgrauem Licht liegt (wie der Hades der griech. Mythologie). Dies kann als Bild für eine transzendenzlose Gegenwart verstanden werden. Die 2. VG suggeriert einen in dieser Landschaft lebenden Menschen (vergleichbar dem Tantalus im Hades), dessen Wahrnehmungs- und Sprachfähigkeit so eingeschränkt ist, dass er unfähig ist, die Transzendenz zu erfassen. Die 3. VG bringt mit dem Pfingstereignis und der Herabkunft der Transzendenz die Erlösung. Die Kursiva parallelisieren zunächst Tantalus und dessen unstillbaren Hunger mit dem gegenwärtigen Menschen (v.6, 12), erhoffen und erbitten sich aber vom Dichter das den Hunger stillende Gedicht, den goldenen Kern! (v.18f).
 
 

SÜDSTÜCK

 
Verzerrt überall
in Schmerz-
Interferenzen
von
Gegenschein
und
Gestirn
mattgraues Granatbaumgeäst

Vergeblichkeitssignatur
trocken-
5Gefallener Hegeregionen
 
Zweige im Wechselwind −

 
Fehlstellen
aber durchsetzt ist
Das visuelle System
Und generiert
Notbrücken-

10Schaltungen einer
Zu kurzen Zunge
 
Frucht immer wieder fern −

 
Pfingstliches Licht
in Schwing-
Kreisen wenn es herabtanzt
15Über den Staub der
Planetentreppe

Zweibeinig
Ursa Maior

Am Ring des Saturn
 
Vogel vor Hunger blind

Sing mir den goldnen Kern!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel Südstück bezieht sich möglicherweise nicht nur auf die in der 1.VG beschriebene ausgetrocknete Landschaft, sondern evt. auch auf einen an der Südspitze der Halbinsel Mani vermuteten Eingang zum Hades (das Kap Tenaro auf dem Peloponnes).
 
v.1ff: Beschrieben wird der Zustand heutiger Menschen im Kosmos (v.1 über-All). Auffällig ist, dass sie als Subjekte nicht vorkommen. Sie werden – vergleichbar der ebenfalls ungenannten, mythischen Figur des Tantalus (s. zu v.6) – von wellenförmigen Schmerzen (v.1f) geplagt: Getrieben vom Verlust der Transzendenz und der Erinnerung an die Liebe (vgl. v.3 mattgraues Granatbaumgeäst) versuchen sie vergeblich (v.4) ihren Hunger am Granatbaum (v.3) und ihren Durst in den trockenen … regionen (v.4f) zu stillen.
 
v.2 Interferenzen: Interferenz wird das Phänomen der Überlagerung von zwei oder mehr Wellen genannt. Es gibt die destruktive Interferenz (die Wellen löschen sich gegenseitig aus) und die konstruktive Interferenz (die Wellen verstärken sich gegenseitig). Hier ist vermutlich an die konstruktive Interferenz zu denken: an den sich verstärkenden Schmerz, verursacht durch Wellen von Hunger und Durst.
 
v.2 Gegenschein: In der Astronomie ist der Gegenschein, das Zodiakallicht, eine schwach leuchtende permanente Erscheinung längst der Ekliptik, die durch Reflexion und Streuung von Sonnenlicht an Partikeln der interplanetaren Staub- und Gaswolke entsteht. Auch das Licht des Mondes, das er ja von dem Gestirn Sonne empfängt, kann als Gegenschein bezeichnet werden. Der Begriff Gegenschein erinnert auch an das Höhlengleichnis Platons, in dem die irdischen Menschen die Gegenstände nur als Schatten (mattgrau v.3) wahrnehmen können.
 
v.3 mattgraues Granatbaumgeäst: Wenn der Schein der Sonne (das Licht) nicht direkt auf Gegenstände fällt, erscheinen diese grau und matt wie in einer Unterwelt. In der griechischen Mythologie ist der Granatapfel mit der Unterwelt zweifach konnotiert: Zum einem muss Persphone, da sie sechs Kerne eines Granatapfels gekostet hat, in der Unterwelt bleiben und zum anderen greift Tantalus stets vergeblich nach den Ästen eines Granatapfelbaums (u.a. anderer fruchttragender Bäume). Darüberhinaus ist der Granatapfel in vielen Kulturen ein Fruchtbarkeits- und Liebessymbol.
 
v.4f: Die Lebenswelt der heutigen Menschen ist durch die Vergeblichkeit geprägt, Transzendenz zu erreichen. Vor dem Abfall von der Transzendenz war die Schöpfung (ein Paradies, eine Hegeregion) fruchtbar und trug die Signatur des Schöpfers. Nach der Vertreibung aus diesem Paradies wirkt die Welt wie trocken- / Gefallen.
 
v.6: Zusammen mit v.12 erinnert das Bild der Zweige im Wechselwind (v.6) und der Frucht immer wieder fern (v.12) an den antiken Mythos des Tantalos. Zur Strafe dafür, dassTantalos die Götter versucht hat, wurde er in einen See der Unterwelt verbannt. Über ihm hingen Zweige eines Obstbaumes, die immer wieder zurückwichen, wenn er von seinen Früchten essen wollte, und wenn er aus dem See trinken wollte, wichen die Wellen vor ihm zurück. So muss er ewig vergeblich versuchen, seinen Hunger und Durst zu stillen.
 
v.7ff: Auch in dieser Versgruppe kommt der Mensch als Subjekt nicht vor. Während in der vorhergehenden Versgruppe die Stellung des Menschen allgemein im Kosmos betrachtet wurde, nimmt diese Versgruppe zunächst sein visuelles System in den Blick. In diesem System wird der Blinde Fleck als die Stelle des Gesichtsfelds bezeichnet, die der Mensch nicht wahrnimmt, weil dort Rezeptoren fehlen (Fehlstelle(n)). Zur Überbrückung dieser Fehlstelle wechselt das lyrischen Ich in das System Sprache (Zunge) und nutzt das Gedicht als Notbrücken- / Schaltung (s. zu v. 9f), mit dessen Hilfe es sich der Transzendenz allerdings nur annähern kann (wegen seiner Zu kurzen Zunge – i.e. der Immanenzverhaftetheit).
 
v.9f Notbrücken- / Schaltungen: Eine ‚Brückenschaltung‘ dient in der Energietechnik zur Wandlung von Stromarten (Wechselstrom in Gleichstrom) und zur Änderung von Frequenzen. Analog könnte man das Gedicht als Instrument bezeichnen, mit dem der Schmerz der konstruktiven Interferenz (s. zu v.2 Interferenzen) gemildert werden kann.
 
v.12: s. zu v.6
 
v.13ff: Das Pfingstereignis (ApG 2,1ff) steht für ‚resonante‘ Kommunikation: Den Jüngern verleiht der Heilige Geist Zungen, die sie zur Panlingualität befähigen (vgl. im Gegensatz dazu v. 11 Zu kurzen Zunge). Das indirekte Licht des Gegenscheins wird durch das direkte Pfingstliche Licht zur Epiphanie des Transzendenten ‚vollendet‘. Schwing- / Kreise(n) sind resonanzfähige elektrische Schaltungen; sie symbolisieren hier das Herabtanzen des Lichtes in die Immanenz (vgl. damit das „stufenweise herab“ Fluten des Lichtes (Goethe, Faust II, v.4796ff)). Der Staub der Planetentreppe verweist auf die interplanetaren Staub- und Gaswolken, die den Gegenschein verursachen.
 
v.15 Planetentreppe: Angespielt wird auf das alte Bild vom Tanz der Planeten (mit der Erde im Mittelpunkt). Im Hintergrund steht die gnostische Vorstellung, wie der göttliche Funken aus dem Einen bis hinunter in die dunkle Materie herabsteigt (hier über die Planetentreppe).
 
v.16f: Das Sternbild Ursa Maior (in Deutschland bekannt als der ‚Große Wagen‘) beruht auf einer Erzählung der griechischen Mythologie: Die von Zeus geschwängerte Nymphe Kallisto brachte einen Sohn (Arkas) zur Welt. Die eifersüchtige Hera verwandelte Kallisto in eine Bärin. Um sie vor dem Jäger Arkas, der die Mutter nicht erkannte, zu schützen, versetzte Zeus sie als Sternbild an den Himmel. Neben dem Bild der Am Ring des Saturn herabsteigenden Bärin bieten sich weitere religiöse Assoziationen an: der zu Pfingsten herabkommende Heilige Geist (in Gestalt der Taube vgl. dazu zu v.18f), das Herabsteigen des gnostischen Funkens (vgl. zu v.15) und das Bild der ‚Großen Mutter‘ aus den ur- und frühgeschichtlichen Kulturen.
 
v.18f; Mit dem Hunger wird der Mythos des Tantalus (vgl. zu v.6) und mit dem Vogel das christliche Pfingstereignis mit der Taube (vgl. v.13ff) wieder aufgenommen. Der ’singende blinde Vogel‘ steht für den Dichter, der für das lyrische Ich die Transzendenz (den goldenen Kern) im Gedicht herabrufen soll.