Treffpunkt Seekrug

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht vollzieht zwei große gedankliche Bewegungen: In den ersten beiden Versgruppen wird der Blick auf von einer Libelle ausgehend auf eine geologische Formation gerichtet, um dann in eine platonische Reflexion über die Seele zu münden (Versgruppe 3). In den Versgruppen 4 und 5 geht der Blick von mythischen zum modernen Menschen (insbesondere zu Männern), um dann in den ersten 4 Versen der 6. Versgruppe mit Erkenntnissen der Quantenphysik den Zugang zum transzendenten Raum (z.B. der Seele) für die Moderne wieder zu eröffnen. Das Gedicht mündet mit der 7.Versgruppe in den philosophischen Blick auf das Sein: alles Seiende ist Eins und Unsterblich. Es endet in einer ironischen Schlusspointe, die an den ersten Vers anknüpft und damit das Gedicht zu einer Einheit rundet. Das ganze Gedicht beschreibt das Warten auf ein Gegenüber (sei es ein Mensch, sei es ein Gott).

Treffpunkt Seekrug


 
Von links aber inzwischen wo noch ein Tisch unbesucht ist
Irisierendes plötzlich grellgrünlichblau
trifft dich
Libellengeknister

Vollwelt
in den
heimlich
halbierten Augen
d.h.
5unten Zuflucht und Rast und
der gefügige Raum

darüber ein Himmel aus Jagd- und Begattungsräuschen
 
wie
Glimmer aufglitzernd
oder ein
Gneis

Augengneis
mit dem
Porphyroblastenblick

oder
Acasta
vielleicht
weil er als erster unkeusch

10so fand man heraus hart wurde über der
Urfeuerwelle

und seither am Bärensee bei diesen
Dogribs
liegt
liegt dort und glitzert seit
vier Milliarden Jahren

 
Und nun gar die Seele

erinnerst du dich
15seinsförmiger noch sei die Seele geartet
als alles Ding
 
Enkidu
z.B. der mit dem Tiergesicht
Enkidu der mit Gazellen vom Steppengras frisst
bricht auf dass er
mit einem Größeren ringt

20
Gilgamesch
vor den Pfosten zum Hochzeitssaal
und stierbreit wie er
Schädel auf Schädel
presst
ists Götterblut das küsst er ihm von den Lippen
 
Leichtgewicht
Yves Rocher
aber und alle
diese men
total revitalizer
Lancome
25Vichy Shiseido da ist keiner so
hip

der sich wenigstens bis zum
Eichstrich
erhebt
auch Biothermtypen auf rund
fünfzehn vom Hundert
kommen die
leicht die kein
Copperfield
aus der Tube kriegt

 
Teilmengen
nur eben
30selbst
kleiner als klein

Teilmengen gibt es nicht
in Wahrheit nicht meint die
Teilchendoktrin

es gibt nur gibt stets nur das Eine

 
Unsterblich

35
setz dich
nun wieder hin
auf ein drittes Bier und gedulde dich
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Möglicherweise dient der Biergarten der Gaststätte Seekrug im Südwesten von Berlin am Südostufer vom Groß Glienicker See als Kulisse.

v.3 Libellengeknister: Gemeint ist eine grünlichblaue Libelle (vielleicht eine Blaugrüne Mosaikjungfer), deren Flügelschlag die Farben zum Irisieren bringt und das Geräusch von Geknister verursacht.

v.4 Vollwelt: Zunächst aus der Sicht der Libelle sowohl der Wasserbereich (unten mit Zuflucht und Rast) und der Luftbereich (darüber mit Jagd und Begattung). Übertragen aus der Sicht des Menschen könnte die Realität (unten) und die Transzendenz (Himmel) gemeint sein.

v.4 heimlich: Verweis auf die Nichtsichtbarkeit der Transzendenz, der normale Blick sieht nur die Realität.

v.4 halbierten Augen: Libellen haben zwei meistens annähernd halbkugelförmige Facettenaugen (bestehend aus ca. 28.000 Einzelaugen). Zwischen den Komplexaugen liegen auf der Kopfoberseite außerdem drei kleine Punktaugen, die wahrscheinlich als Gleichgewichtsorgan (Horizontdetektor) und zur Kontrolle schneller Flugbewegungen dienen.

v.5 der gefügige Raum: Syntaktisch ist nicht eindeutig entscheidbar, ob sich der gefügige Raum auf Zuflucht und Rast bezieht oder auf ein Himmel aus … . Beides scheint möglich zu sein, daher kann man den ganzen Raum als aus beiden Bereichen zusammengefügt verstehen, die Fuge wäre der Horizont.

v.7 Glimmer aufglitzernd: Nimmt das irisierende Licht der Libellenflügel aus v.2f wieder auf. S. auch v. 12 glitzert.

v.7 Glimmer … Gneis: Glimmer gehören zu den häufigsten gesteinsbildenden Mineralen und sind wichtige Bestandteile vieler magmatischer (z.B. Granite) und metamorpher (Glimmerschiefer, Gneise) Gesteine.

v.8 Augengneis: Natursteinsorte, die bei dem Ort Steinbach vorkommt. Wiederaufnahme des Augenmotivs aus v.4. Angespielt wird auf Einsprengsel in der Iris.

v.8 Porphyroblastenblick: Mineralneubildungen bei der Metamorphose können zu großen Kristallen heranwachsen, die von einer feinerkörnigen Matrix aus anderen Mineralien umgeben sind. Diese großen Kristalle nennt man Porphyroblasten, sie erwecken häufig den Eindruck eines Auges.

v.9 Acasta: Der Acasta-Gneis oder Acasta-Gneis-Komplex (nach dem nahe gelegenen Acasta River) ist eine Gesteinseinheit des Archaikums im Nordwesten Kanadas. Die Gesteine des Acasta-Gneises treten rund um den Acasta River im Siedlungsgebiet der Dogrib-Indianer zutage, östlich des Großen Bärensees und nördlich des Little Crapaud Lake. Die Gesteinsformation wird auf ein Alter von etwas unter 4 Milliarden Jahre geschätzt und ist damit vermutlich die älteste feste Gesteinsformation der Welt. Die Forschung geht davon aus, dass sich auf dem noch flüssigem, heißen Erdball Inseln aus festerem Material durch Auf- und Absinken schwererer Elemente bildeten, die sich zu einem Urkontinent zusammenfügten; als dessen Rest wird Acasta betrachtet. Lat. castus bedeutet ‚keusch‘, ‚acasta‘ wäre also mit unkeusch wiederzugeben (vgl. zu v.9f).

v.9f weil er als erster unkeusch / … hart wurde: Personifizierung und Mythologisierung der Gesteinsformation und des Entstehungsvorganges von Kontinenten. S. auch zu v.9. Wiederaufnahme des Zeugungsmotivs. Ein Schöpfungsmythos der Dogrib-Indianer ist uns nicht bekannt.

v.10 Urfeuerwelle: Bild für den flüssigen, heißen Erdball, s. zu v.9. Mit dem Begriff ‚Welle‘ wird das Auf- und Absinken der schweren Teilchen ebenso aufgenommen wie der Wasserbereich aus Versgruppe 1 und der folgende Bärensee (v.11).

v.11 Dogribs: Indianer-Volk Kanadas in den Nordwestterritorien mit einer Siedlungsfläche zwischen dem Großen Bärensee und dem Großen Sklavensee. S. auch zu v.9.

v.12 vier Milliarden Jahre: s. oben zu v.9

v.13ff: Das lyrische Ich lehnt sich hier an die Platonische Philosophie an. In Platons Philosophie ist die Seele als immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort (seinsförmiger noch sei die Seele v.14). Daraus ergibt sich in diesem dualistischen Modell (Seele und Ding v.15) die Rangordnung der beiden. Jede Erkenntnis, jedes Lernen vollzieht sich nach Platons Ansicht als Anamnesis, als Wiedererinnerung (erinnerst du dich v.13) an Ideen, welche die Seele vor ihrem Eintritt in den Körper an einem „überhimmlischen“ Ort geschaut hat und an die sie sich daher im Prozess der Erkenntnis erinnert.

v.17f Enkidu: Der zweite Held des Gilgamesch-Epos. Er wird auf der 1. Tafel des Epos so beschrieben: „In einem fell von haaren wie der gott der tiere / weidete er mit den gazellen im gras der steppe“ (zitiert nach Raoul Schrott, Gilgamesch, S. 180).

v.19 mit einem Größerem ringt: Anspielung auf die Bibel, 1.Moses 32,25ff: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt…. Er (i.e. der Engel bzw. Gott) sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen.“

v.20ff Gilgamesch: Der erste Held des Gilgamesch-Epos. Auf der 2. Tafel des Epos wird ein Kampf der beiden Helden folgendermaßen beschrieben: „Enkidu blockierte die tür des hauses mit seinem fuß / und hinderte Gilgamesch daran, einzutreten; / sie packten einander dort bei der tür des hauses der hochzeit / und kämpften miteinander“ (Raoul Schrott, Gilgamesch, S. 190). Im Kampf erkennt Gilgamesch die göttliche Herkunft Enkidus und beendet darauf das Ringen: „Sie küßten sich und wurden freunde“ (Raoul Schrott, Gilgamesch, S. 191).

v.21: In der Übersetzung von Dr. Alfred Schott wird der Kampf so beschrieben: „Gilgamesch und Enkidu — / Ja, sie packten sich, gingen in die Knie wie Stiere, / Zerschmetterten den Türpfosten, es erbebte die Wand!“.

v.23 Leichtgewicht: Gewichtsklasse aus dem Ringkampf-Sport, im Gegensatz zu den Schwergewichten, den Helden bzw. gottähnlichen Gestalten der vorhergehenden Versgruppe (vgl. dazu auch das aber v.23). Damit ergibt sich eine Anordnung der Versgruppen 2, 4 und 5 in der Reihenfolgen der traditionellen Lehre der Abfolge der Zeitalter (göttlich, heroisch, menschlich). Natürlich ist der Begriff Leichtgewicht hier auch ironisch gemeint.

v.23ff Yves Rocher … Lancome … Vichy … Shiseido … Biotherm: Kosmetikhersteller bzw. Firmen, die hier im Gedicht für das Männer-Ideal der heutigen Zeit stehen.

v.23f alle / diese men: ironisierende Zusammenfassung der in der Versgruppe genannten Männer. Die im englischen Sprachgebrauch mitschwingende Doppelbedeutung von Mann und Mensch sollte mitgehört werden.

v.24 men total revitalizer: ‚Shiseido Men Total Revitalizer Age-Defense Anti-Fatigue Cream‘ ist eine Herren-Gesichtspflege in einer Tube oder einem Cremetöpfchen. Der Versuch, durch Kosmetik dem Altern bzw. dem Tod zu entgehen entspricht der Suche des Gilgamesch nach dem Ewigkeitskraut.

v.25 hip: umgangssprachlich für angesagt, schick, zeitgenössisch. Daneben ist auch die Bedeutung ‚Hüfte‘ (engl. hip) gemeint, vgl. dazu oben das Ringen Jacobs mit dem Engel (s. zu v.19).

v.26 Eichstrich: Der Füllstrich (auch Eichstrich) ist eine Kennzeichnung auf Gefäßen und kennzeichnet die Füllhöhe für ein bestimmtes Volumen, auch Nennvolumen genannt. Hier ist also ironisch gemeint, dass der moderne Mann nicht einmal das Normvolumen erreicht.

v.27 fünfzehn vom Hundert: Gemeint sein könnte entweder, dass 15% der Männer Kosmetika benutzen, oder dass 15% des Inhalts nicht aus einer Tube gepresst werden kann, also in gewissen Sinn eine Mogelpackung vorliegt.

v.28 Copperfield: Gemeint ist David Copperfield, der amerikanische Illusionist (Magier, Zauberer). Mitgehört kann auch der Dickens’sche Roman „David Copperfield“ werden.

v.28 aus der Tube kriegt: Zusammenfassung der vorhergehenden Aussagen über den modernen Mann: Bei diesem ist nichts zu holen, die ‚Tube‘ ist leer. Im Hintergrund steht die bekannte Redensart, dass man die Zahnpasta nicht zurück in die Tube bekommt. Damit der Versuch der Moderne den Zeitverlauf mit Creme und Salbe aufzuhalten ironisiert. Vgl. auch zu v.27.

v.29 Teilmengen: Anknüpfung an die vorhergehende Versgruppe: die Männer (Menschen) sind unvollständig, sie sind eben nur Teilmengen, insofern als sie nicht mehr an der Vollwelt (v.4) teilhaben.

v.30 kleiner als klein: Gegensatz zum Ringen mit einem Größeren (v.19) und Überleitung in die Quantenphysik

v.31f Teilmengen … Teilchendoktrin: In der Quantenphysik (Teilchendoktrin) können einzelne, gleichartige Teilchen nicht voneinander unterschieden werden, es können also keine Teilmengen gebildet werden.

v.33 es gibt nur gibt stets nur das Eine: Gemeint ist die Transzendenz (siehe auch zu v.13ff). ‚Das Eine‘ ist ein philosophischer Grundbegriff, der auf einen das Sein transzendierenden absoluten Urgrund verweist. Dieser Gedanke wird in der antiken Philosophie in vielfachen Facetten ausgearbeitet und in diesem Gedicht durch die Erkenntnisse der Quantenphysik neu gewendet.

v.34 Unsterblich: Wie im Vorhergehendem das Eine als das Absolute, das Unteilbare erscheint, wird es hier als Unsterblich, als zeitlos charakterisiert. Zu beachten ist der Trennung des ‚Einen‘ vom ‚Unsterblichen‘ durch den Versgruppeneinschnitt, damit erscheint das ‚Eigentliche‘ in der ‚Leerstelle‘. Das Thema der Unsterblichkeit knüpft an das Ringen Jacobs mit Gott, die Suche Gilgameschs nach dem Unsterblichkeitskraut und an den modernen Versuch, mit dem Alter umzugehen, an.

v.35f setz dich … gedulde dich: Ironische Schlusspointe: das lyrische Ich fordert sich auf, sich zu setzen, ein weiteres Bier zu trinken und sich zu gedulden, bis die Transzendenz eintrifft (also bis zur Epiphanie). Hier klingt das Benn-Gedicht „Restaurant“ („Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier“ v.1) an.
 
 
Prosodie:

Die Reime bestehen fast ausschließlich aus unreinen Reimen mit dem Schema: a/b/a/c/b/d/e/c/d usw. Bezeichnender Weise ist der Schlussreim (v.34/36) ein reiner Reim (Unsterblich / dich).

Die Versgruppen sind folgendermaßen angeordnet: 6 / 6 / 4 / 6 / 6 / 5 / 3. Dabei kann inhaltlich der letzte Vers der 5er-Versgruppe zur letzten Versgruppe gezogen werden (s.o. zu v. 34).

v.11f liegt / liegt: Anadiplosis (Wiederholung des letzten Gliedes einer Wortgruppe zu Beginn der nächsten). Die Figur betont, dass die Gesteinsformation hier festgeworden ist und seit Urzeiten hier liegt.

v.23/28 Leicht … leicht: Kyklos (Wiederholung als Einrahmung einer Wortgruppe durch das gleiche Wort)

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