Am Kanal

Überblickskommentar:

In der ersten Hälfte des Gedichtes (v.1-7) wird vom (fast nicht wahrnehmbaren) lyrischen Ich die Ausstrahlung des Fernsehens und der abendliche Fernsehkonsum beschrieben, in der zweiten (v.8-14) stellt das Du, der Fernsehende, mit seinem Kuss nicht die gewünschte Intimität mit dem lyrischen Ich (Fritz) her, er küsst nur flüchtig, es ist, als ob er stattdessen das Fernsehgerät küssen würde.
Mythologische Muster ist Narziss: Narkissos wies bereits als Jüngling die Liebe von Männern und Frauen herzlos zurück. Auch die Liebe der Nymphe Echo, die Hera mit dem Verlust der Sprache bestraft hatte, deren Körper verschwindet und die nur die Worte anderer wiederholen konnte, verschmähte er. Von Artemis für seine Lieblosigkeit mit unerfüllbarer Selbstliebe gestraft, fand er eines Tages nach der Jagd eine Quelle, in der er zum ersten Mal sein Spiegelbild sah und sich sofort in dieses verliebte. Jedes Mal, wenn er versuchte, das Bild zu küssen, verschwand es, da die Wasserfläche vom Kuss getrübt worden war. Klagend und vom Kummer entkräftet schwand er langsam dahin.
Daneben nutzt das Gedicht in den ersten beiden Versgruppen den Argonautenmythos. Jason wird von seinem Onkel Pelias ausgesandt, das goldene Vlies (ein Widderfell) aus Kolchis zu holen. Dazu versammelt er Freiwillige aus ganz Griechenland (darunter u.a. die Halbgötter Herakles und Orpheus) und sticht mit dem Schiff Argo in See. Auf der Fahrt reihen sich die Abenteuer wie in einer modernen Fernsehserie aneinander.
Das Gedicht ist spiegelsymmetrisch aufgebaut (Näheres dazu s. Aspekte der Form): So wie sich Narziss im Quell spiegelt und nur noch sich selbst liebt, spiegelt sich der Fernsehkonsument im Medium und wird zum fühllosen Zombie.
Die Zeitdiagnose (Vereinzelung und Verflachung des Gefühlslebens) wird vorsichtig und sparsam mit den christlichen und mythologischen Bezügen, die unsere Herkunft aus den ehemals sinnhaltigen Traditionen zeigen, verknüpft.

Am Kanal

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Stellenkommentar:

Titel: Der Kanal gibt mit einem Gewässer den Ort der Handlung an; er verbindet einen Sender mit einem Empfänger (z.B. beim Fernsehen). Gleichzeitig ist mit der Präposition Am das Suchtpotential angedeutet, man kann ‚an der Flasche‘ oder ‚an der Nadel‘ mithören.

v.1 Als wär da: Der Konjunktiv weist auf die Irrealität/Virtualität des im Folgenden verdeckt behandelten Mediums Fernsehen hin. Die Formulierung erinnert an den Beginn des Eichendorff-Gedichts „Mondnacht“: „Es war, als hätt’…“.

v.1 Springquell: Zum einen die Quelle, an der Narziss sitzt, zum anderen metaphorisch für den Ursprung einer Fernsehproduktion, durch Konjunktiv und Fragezeichen als ‚gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang’ gekennzeichnet.

v.1 gebannten Park: Der Park könnte hier eine Metapher für den kulturtechnisch zugeschnittenen Bereich sein, in dem der Mensch des Medienzeitalters lebt (im Gegensatz zur Natur). Das ‚gebannt’ verweist auf die Faszination, die von dem Medium ausgeht. Das Künstliche dieses Bereichs wird auch durch die Assoziation an das George-Gedicht: „Komm in den totgesagten park und schau:“ hervorgehoben.

v.2 Hornsignal: Auf der mythologischen Ebene das Jagdsignal des Narziss. Kommuniziert wird mit dem Hornsignal eine Sehnsucht, ein Aufbruch (z.B in der Romantik der Aufbruch in fremde Welten oder in der Moderne ein Aufbruch in die Welt des Fernsehens, z.B. das Signal vor der Tagesschau). Mit -signal beginnt die Kette der Begriffe, die dem Fernsehen zuzuordnen sind: fern (v.2), bild (v.3), strahlte (v.3), flimmernd (v.4), Sendung (v.4), empfängt, (v.5), -programm (v.5), abspielt (v.6), aufmoduliertes (v.7), äther (v.7), vorproduziert (v.11), Kleinformat (v.12), Serie (v.13).

v.2 ihn
: Zunächst auf den Park, dann aber weiterhin auf den im Gedicht im folgenden Angeredeten zu beziehen. Dass aber das Du nicht bereits in den ersten Versen so angeredet wird, weist auf eine Differenz hin, die zu bedenken bleibt. Möglicherweise ist im Kontext der ersten vier Verse die Transzendenz (‚IHN’) mit gemeint. Dann wäre das abends ihn still werden lässt als Gottesferne der Gegenwart zu interpretieren und die Erinnerung an die ehemalige Präsenz der Transzendenz (Halbgötter v.5) als Gegenwelt zum heutigen Vergoldungsprogramm zu verstehen. (Vgl. dazu auch v.5 zu sein Spiegel und zu Vergoldungsprogramm.)

v.3 Sternbild: Traditionell sind die Sterne als Schicksalsmächte verstanden worden. Früher dienten die Sternbilder den Seefahrern zur Orientierung, heute dienen die Bilder des Fernsehens (mit ihren Stars und Sternchen) der (Des-)Orientierung der Zuschauer.

v.3 Bestien: Zunächst die Tiere, auf die Jagd gemacht wird. Dann auch Bestien, gegen die auf dem Argonautenzug gekämpft wird und auch die Tierkreiszeichen oben am Weltfirmament.

v.4 Weltfirmament: Das –firmament (‚das über der Erde Befestigte’) ist eine antiker Begriff zur Ordnung des Kosmos, es war die achte Sphäre, an der die Fixsterne befestigt gedacht waren.

v.4 Argo: Die Argo war das Schiff des Jason, der das Goldene Vlies beschaffen sollte. Das alte Sternbild argo navis ist heute nicht mehr gebräuchlich. Es setzte sich aus den heutigen Sternbildern Achterdeck des Schiffs, Kiel des Schiffs und Segel des Schiffs zusammen. „Argos“ ist auch ein satellitengestütztes System, um Position und Messdaten nicht ortsfester Objekte abzufragen. Dessen Transmitter senden eine Trägerfrequenz von 401,65 MHz, auf der sie eine Nachricht von 32 Bytes aufmodulieren (vgl. dazu auch zu v.7).

v.5 die sein Spiegel (…) empfängt: Auf der Realebene die Spiegel in den Satellitenschüsseln, die die Sendesignale empfangen und weiterleiten. Auf der mythischen Ebene die Wasseroberfläche des Springquells, in der Narziss sich spiegelt, wenn sie ruhig geworden ist. Dann aber auch das Instrument, das die Transzendenz in der Immanenz wiedergibt! In der christlichen Tradition ist dabei insbesondere an Maria, die Christus unbefleckt empfängt, zu denken; auf sie wird das Bibelwort „Speculum sine macula“ (makelloser Spiegel) (Weish 7,26) bezogen.

v.5 Halbgötter: Auf der Realebene ironisch für die in Fernsehsendungen auftretenden Personen bzw. Charaktere. Im Zusammenhang mit dem Argonautenmythos ist an diverse Halbgötter zu denken (z.B. Herakles oder Orpheus), die am Argonautenzug teilnahmen. Auch Christus kann (in der Nachfolge des Dionysos) als Halbgott bezeichnet werden.

v.5 dein: Erste direkte Anrede des Du (vgl. dazu v.2 ihn)

v.5 Vergoldungsprogramm: Ironische Bezeichnung dafür, dass der Fernsehzuschauer versucht, sich seinen Abend durch das Programm zu ‚vergolden’ und damit seine Alltagsexistenz zu überschreiten. Angespielt wird gleichzeitig auf das Goldene Vlies, das Ziel des Argonautenzuges war.

v.6 Für was sich abspielt
: Der schichtenspezifische Satzbau charakterisiert den mentalen Status des angeredeten Du. Zugleich ist abspielt negativ konnotiert und lässt an ‚abspulen’ denken.

v.6 jeden Abend: Die ewige Wiederkehr des Gleichen

v.6 unnahbar vor deinem Plüschsitz: also: ‚direkt vor Dir und dennoch unerreichbar’. Gemeint ist die Virtualität/Irrealität der Medien, aber auch die mögliche Nähe und zugleich Unfassbarkeit der Transzendenz. Der Plüschsitz ist ein Bild für das zur Spießigkeit geronnene Thronen vor dem Fernseher; der unnahbare Sitz lässt aber auch an den Sitz der Gottheit denken.

v.7 Fakt ist
: Moderne Beschwörungsformel für die Unbestreitbarkeit des Tatsächlichen. Daneben auch eine Fernsehsendung: Der wöchentliche politische Talk im MDR FERNSEHEN.

v.7 flach: pejorative Kennzeichnung des Fernsehprogramms. Zugleich Vorwegnahme der Verflachung der Identität des Du (vgl. auch zu v.11 vorproduzierten).

v.7 aufmoduliertes: u.a. Begriff aus der Fernsehtechnik: auf eine Trägerfrequenz werden zusätzliche Signale ‚aufmoduliert’.

v.7 ätherisches Wunder: Zunächst die durch den ‚Äther’ übermittelte Fernsehsendung. In der griechischen Mythologie ist der Äther die Personifikation des „oberen Himmels“. In der Physik galt er bis zu Einstein als Trägermedium für das Licht. Er wurde traditionell als flüchtiges Medium (vgl. auch zu flüchtige Intimität v.9) angesehen (so z.B. in der Bezeichnung ‚ätherische Öle’).

v.8 zeugt auch im Fleisch: Auf der Realebene die durch Bild und Wort (Fernsehen) veränderte Identität des Zuschauenden. Angespielt wird auf Inkarnation (Fleischwerdung) Christi durch das Wort. (Vgl. Joh, 1,14: „Und das Wort ist Fleisch geworden / und hat unter uns gewohnt“). Da im Gedicht auch eine erotische Beziehung geschildert wird, ist hier auch an die Rede des Sokrates im Symposion zu denken, in der er das ‚Zeugen im Fleisch’ als Ausgangspunkt einer Entwicklung darstellt, die von der Liebe zum Körper stufenweise zum Schauen des Ewigschönen und Unvergänglichen führt. Auf diesem christlichen und antiken Hintergrund erhält die Realebene einen sehr ironischen Charakter.

v.8 der so schöne Schwung deines Munds
: Die Schönheit des Geliebten, für die der Mund pars pro toto steht, wird als ein Liebesversprechen verstanden, das allerdings nicht zur Erfüllung gelangt. Diese Nicht-Erfüllung drückt sich auch in der Syntax (Anakoluth) aus.

v.9 eigen: Im Gedichtzusammenhang hier als Synonym für den Narzissmus zu verstehen. Es klingt mit Rufnamen (v.10) auch der ‚Eigenname’ an, dessen Gebrauch vom Geliebten hier verweigert wird und als Hinweis auf das Scheitern der Beziehung zu interpretieren ist.

v.9 flüchtige Intimität
: In der mythologischen Vorlage die Flucht des Narziss vor der Intimität mit der Nymphe Echo, die nur noch aus ihrem Eigennamen besteht.

v.9 Fritz: Ironisches Spiel mit dem Rufnamen des Autors: Der Autor gibt vor, mit dem lyrischen Ich identisch zu sein. Vgl. zu v.10 ältlichen Rufnamen.

v.10 wie sagtest du: Durch die rhetorische Frage zeigt das lyrische Ich seine ironische Distanz zum Du.

v.10 ältlichen Rufnamen
: Das ‚ältlich’ weist auf den Generationsunterschied hin. Fritz wird häufig als Rufname für ‚Friedrich’ gebraucht.

v.11 ach: drückt die Enttäuschung über die verfehlte Beziehung aus

v.11 schnutig: ein beleidigt verzogener Mund; damit wird der schöne Schwung deines Munds (v.8) konterkariert.

v.11 bald: Im Gegensatz zur stufenweise Höherentwicklung der Liebe im Symposions (vgl. zu v.8 zeugt auch im Fleisch) kommt es hier durch extensiven Fernsehkonsum bald zu eine Reduzierung des Du bzw. der Beziehung.

v.11 vorproduzierten: Das Wort ist abgeleitet vom lateinischem ‚producere’ ‚hervor führen’. Durch die Zusammensetzung mit vor kommt es zu einer Doppelung und damit zu einer redundanten Aussage. Diese Stilfigur wiederholt sich in zwerg und Kleinformat und in zwilling und kopieren. Mit dieser Stilfigur wird die Reduzierung des Du auf eine seriell vorgefertigte Identität gezeigt (vgl. zu v.8 zeugt auch im Fleisch).

v.11f Marken-/zwergzwilling: Durch den Begriff Marke wird auch inhaltlich auf die Reduzierung des Du auf eine seriell vorgefertigte Identität hingewiesen. Das Bedürfnis nach Markenprodukten, das die heutige Konsumwelt charakterisiert, zeigt die hilflosen Anstrengungen, einer Vermassung durch vorgefertigte Identitäten zu entgehen.

v.13 fühllos: Der Kuss des Du wird als leidenschaftslos und ohne innere Beziehung charakterisiert.

v.13 Serienblüte aus Polyester: Polyester ist (neben Cellulose) das wichtigste Trägermaterial von Filmen. Das Du identifiziert sich mit Vorbildern aus Fernsehserien und wird so selbst zu einer künstlichen Person.

v.14 grauen Glas eines Sargs: Auf der Realebene Metapher für den Fernsehschirm. Mythologisch kann man hierin die Wasseroberfläche, die Narziss küsst, sehen. Mit dem Schlussbild wird verdeutlicht, dass die Beziehung zwischen Du und lyrischem Ich zu Ende geht.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus 14 Versen. Es spielt mit der Sonettform: Das erst Quartett ist geteilt, das zweite Quartett ist ebenfalls geteilt und ans Ende des Gedichtes gerückt. Der Terzette stehen in der Mitte. Dadurch wird das Gedicht um eine gedachte Mittelachse (zwischen v.7 und v.8) gespiegelt (dazu siehe auch oben im Überblickskommentar), es zeigt die Isomorphie zwischen Form und Inhalt.
Auch das Reimschema ist spiegelsymmetrisch: a/b/b/a c/d/e/ e/d/c a//b/b/a. Der einzige reine Reim ist der zwischen v.6 und v.9, der Reim auf den Eigennamen Fritz.

v.1: Die beiden Spiegelstriche können einerseits als Darstellung eines Kanals verstanden werden, andererseits auch als Versinnbildlichung der Spiegelung, die das ganze Gedicht strukturiert (so auch (gespiegelt) in v.3). In v.9 und 10 sind die beiden Spiegelstriche auseinandergezogen; in die dadurch geschaffene Lücke tritt der Autor mit seinem Rufnamen selber.

v.8: Das Ausrufezeichen nach Fleisch zeigt, dass die vorhergehenden 2 Verse als Antwort auf die vorhergehenden vier Fragen (4 Fragezeichen) zu verstehen ist.

v.9: auffällige Häufung der Alliteration mit F.

v.12: Der Doppelpunkt gibt graphisch stilisiert den folgenden Kuss wieder.

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