Felix commercium

Überblickskommentar:
 
Der Titel Felix commercium kann mit glücklicher Handel oder besser noch hier mit ‚geglückter Austausch‘ übersetzt werden. Die 1.Versgruppe gibt ein Beispiel für einen misslungener Austausch zwischen Transzendenz und Immanenz (bedingt durch menschliche Verführung und Rache (s. zu v.1 ihm). Die 2. Versgruppe zeigt den geglückten Austausch innerhalb der Natur. Die 3. Versgruppe scheint zunächst einen gelungenen Austausch (Kommunikation mittels Fernsehen und Internet) zwischen den Menschen darzustellen, dann aber zeigt sich ein notwendiges Scheitern der Kommunikation in den letzten drei Versen, bedingt durch das Fehlen einer sinngebenden, übergeordneten Instanz (Transzendenz). Gleichzeitig kann das Gedicht auch als Trinklied verstanden werden: Mit commercium wird auf den ‚Kommers‘, den Umtrunk der Burschenschaften, angespielt, das Lied beginnt mit einem Trank und endet mit den letzten Versen in einer sprachverwirrten Betrunkenheit.

Felix commercium


 
Athene
sogar (wiewohl sie
ihm
schon
mit dem Trank der Unsterblichkeit nahte) Athene
die ihn beschützte den herrlichen Liebling
auch sie schließlich wandte ihr
Eulenaug
ab
5
endgültig
und voll Entsetzen
von diesem Tydeus als er vor Theben
Mensch unter Menschen
und nun
Schaum vor dem Mund mit
dem letzten Atem-

zug das Gehirn seines Gegners einschlürfte
 
10– – da die Tiere doch und die
vernunftlosen
Pflanzen
selbst sie
wie wir heute wissen

(
trotz hier und dort
– aber im Prinzip)
seit eh und je miteinander harmonisch
in kosmischem
Kuss

15ein jedes exakt so viel gebend
ein jedes exakt so viel nehmend
Kohlendioxid gegen Sauerstoff

wie das andre bedarf zu
Leben und Wohlsein

und dann Tydeus! Oder nehmen Sie
 
20
Fernsehen und Internet
heutzutage
wie sie die Welt umspannen mit einer Sphäre
vielsprachigen Einvernehmens

so dass wir alles verstehend
(ob
Hochzeitsquoten von Walen

25ob
Rauchzeichen über dem Regenwald
)
garantieren wir
faktysch
für
d.h. fakteus wyr
Pardon! fak-
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Benediktinermönch Petrus Damiani († 1072) bezeichnet in seinem „Lob des Eremitenlebens“ die Zelle des Einsiedlers als Marktstand der himmlischen Kaufleute, an dem ein glücklicher Handel (Felix commercium) getätigt werden könne: weltliches Gut gegen himmlische Gaben. Es werde Vergängliches gegen die Ewigkeit getauscht. Zu Grunde liegt die altkirchliche christliche Erlösungslehre, in der der Begriff commercium in der Grundbedeutung von ‚Austausch‘ benutzt wurde: Das erlösende Sterben Christi wird als ‚commercium passionis‘ bezeichnet, Christus wird zum himmlischen Kaufmann, der das menschliche Geschlecht von der Sünde loskauft (‚commercium emptionis‘), und Taufe und Eucharistie werden als ’sacra commercia‘ bezeichnet. Als Nebenbedeutung klingt auch der ‚Kommers‘, der Umtrunk der Burschenschaften, bei dem Trinklieder gesungen werden, mit.

v.1 Athene: griechische Göttin mit Eule als Symbol der Weisheit, hier in ihrer Rolle im Tydeus-Mythos (s. zu v.1 ihm)

v.1 ihm: i.e. Tydeus (v.6). Tydeus ist in der antiken Sagenkreis einer der sieben Feldherren, die gegen Theben ziehen. Er wird beim Sturm auf Theben von Melanippos tödlich verletzt. Athene, die ihm gewogen ist, naht sich ihm, um ihn mit einem Lebenselixier zu retten. Zuvor veranlasst ihn aber ein falscher Freund, das Haupt des getöteten Melanippos zu spalten und aus der Schädelkalotte das Hirn zu schlürfen. Athene verschüttet daraufhin den Trank und zieht sich voll Ekel zurück (vgl. Robert von Ranke-Graves. ‚Griechische Mythologie‘, Bd 2, S.15. rororo 115).

v.4 Eulenaug: Athene wird auch als die ‚eulenäugige‘ Göttin bezeichnet.

v.5 endgültig: Dass die Göttin sich endgültig abwendet, verweist auf den Bruch zwischen Transzendenz und Immanenz.

v.6 Mensch unter Menschen: Durch seine barbarische Tat verliert Tydeus seine Beziehung zur Transzendenz und sinkt auf die Stufe bloßer Menschen. Die Formulierung erinnert an Hans Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“, ein Gesellschaftsportrait, in dem die Härte und die egoistischen Motive der Menschen dargestellt werden. Die ursprünglich positive Bedeutung von Mensch unter Menschen im aristotelischen Sinne (zoon politikon) wird damit umgekehrt.

v.8f dem letzten Atem- / zug: Der Vorgang des Sterbens wird durch den Zeilenbruch versinnbildlicht. Gleichzeitig bedeutet das Versiegen des Pneumas die Trennung von der Transzendenz.

v.10 vernunftlosen: Es sind zwei Deutungen möglich: 1) das Attribut ist sowohl auf die Tiere als auch auf die Pflanzen zu beziehen. Dann ist es in ironischer Brechung zu der den Menschen eigentlich zugeschriebenen Vernunft zu verstehen, die Tydeus im Mythos durch seine barbarische Tat verletzt. 2) das Attribut bezieht sich nur auf die Pflanzen. Auch die Tiere haben im eingeschränkten Sinne Vernunft. Damit werden die Menschen in einen evolutionären Zusammenhang mit den Tieren gebracht, aber erst ein im holistischen Sinne verstandener Gebrauch der Vernunft macht die Menschen transzendenzfähig und damit zu eigentlichen Menschen.

v.11 wie wir heute wissen: Während in Versgruppe I das antike mythische Weltbild (in dem Wissenschaft keinen Gegensatz zum Mythos darstellte) zu Grunde gelegt ist, wird hier auf das moderne wissenschaftliche Weltbild – als holistisch verstandenes – rekurriert.

v.12: Hier wird eine scheinbare Relativierung (trotz hier und dort) des holistischen Naturverständnisses (vgl. v.14) berücksichtigt: Das ökologische Gleichgewicht, das sich in der Natur herstellt, beruht im Prinzip auf einem harmonischen Miteinander (vgl. v.13) und bewertet dabei den ‚Kampf der Arten‘ als untergeordnet.

v.14: Die Metapher des Kusses stellt hier die Harmonie der Natur bildlich dar. Dazu im Gegensatz steht v.8 (Schaum vor dem Mund).

v.17 Kohlendioxid gegen Sauerstoff: Pflanzen nehmen Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre auf und wandeln es durch Photosynthese unter Einwirkung von Licht und Aufnahme von Wasser in Kohlenhydrate wie Glucose um. Dieser Prozess setzt gleichzeitig Sauerstoff aus der Dekomposition von Wasser frei. Menschen und Tiere nehmen bei der Atmung Sauerstoff auf und geben Kohlendioxid ab.

v.18 Leben und Wohlsein: Das Wohlsein könnte man – über das kreatürliche Leben des Einzelnen hinaus – im Sinne der Emergenz als höherstufiges Phänomen der Natur deuten.

v.20 Fernsehen und Internet: Die Idee des Austausches im ‚kosmischen Kuss‘ wird scheinbar mit den modernen Kommunikationsmedien auf der Ebene der heutigen Gesellschaft aufgenommen.

v.22 vielsprachigen Einvernehmens: Eigentlich eine contradictio in adiectio: Das Adjektiv ‚vielsprachig‘ steht im Gegensatz ‚Einvernehmen‘. Der moderne Mensch aber wähnt sich trotz der auch im Netz herrschenden babylonischen Vielsprachigkeit in der Lage, ‚alles zu verstehen‘ (v.23).

v.24: Mit Hochzeitsquoten von Walen wird das Bild des ‚kosmischen Kusses‘ (v.14) in die rational verstehbare Sprache übertragen: Die ‚Quoten‘ weisen auf die der modernen Wissenschaft zu Grunde liegende Berechenbarkeit hin. Dabei wird verdeckt an die Gefährdung der Art Wale durch den Menschen erinnert.

v.25: Die Rauchzeichen über dem Regenwald übertragen das Bild Kommunikation mittels ‚Fernsehen und Internets‘ (v.20) zurück in eine vormoderne mythisch geprägte Zeit, die mit Rauchzeichen kommuniziert. Dabei wird verdeckt auch das Brandroden des Regenwaldes kritisiert.

v.26ff: Die Überzeugung, dass Daten und Fakten unsere Orientierung in der Welt garantieren, wird in den folgenden drei Versen als brüchig entlarvt. Der logische Sprachaufbau bricht zusammen und darunter erscheint der Schrecken, den Athene angesichts des Menschen verachtenden Tydeus empfindet. Dies zeigt sich buchstäblich: Das eigentlich gemeinte ‚faktisch‘ verwandelt sich (unhörbar) in faktysch (mit dem y des Tydeus) und in fakteus (mit der Endung des Tydeus). Das wir (v.21) verwandelt sich entsprechend in wyr (v.22). Diese Chaos endet mit einer (französischen) Entschuldigung und einem (hörbaren englischen) Fluch (fak-), der im Abbruch endet.
 
 
Aspekte der Form:

Die Versgruppen sind achsensymmetrisch angeordnet (9 / 10 / 9): die beiden äußeren Versgruppen, in denen der Austausch scheitert, haben eine ungerade Verszahl, die mittlere Versgruppe mit dem geglückten Austausch hat eine gerade Verszahl.

v.15f: Das Bild des Kusses wird in der Symmetrie der Syntax veranschaulicht.

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