Subduktion

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht schiebt drei Ebenen übereinander: 1) Eine U-Bahnfahrt mit zwei sich Streitenden und den schlichtenden Eingriff eines Dritten; 2) die Entstehung eines Vulkans durch Plattentektonik und die Auffaltung eines Gebirges; 3) die Entstehung eines Gedichtes an den aufeinander treffenden Rändern der Immanenz und der Transzendenz.

Subduktion


 
Zwar selten und dunkel warum
doch gelegentlich

Halt Du deinen dreckskaribischen schelfrand
Kontinentalplatten
Reißt
es
bei voller untergrundfahrt
reißts mich
Du spast dir spalt ich die cocosplatte arschhochkant

 
5
Sitzsenkrecht
und den
affektlinien entlang
die erhabene
Scheidegewalt meines bannstrahls

Hochaufdonnernd
klär ich
die
arena
– –
 
Klar doch
beim ausstieg die kriegen qua endogene
Dynamik
packen die sich bei den
baseballs

10
Hot spot
ihre welt bleibt wie sie war
ich selbst aber
 
Spitzenbalance auf frisch aufgefalteter riftgradhöhe

Wenn blass schon
das
natterngeschmeiß und Perseus
allmählichPerseus (Sternbild)
Kampfmüd
abtaucht
die frühe jedoch sieh nur versonnene frühe

Andenflamingogefieder
darüberschiebend
und
ich was ich stets war ich

15War es geblieben
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel bezieht sich zunächst auf die plattentektonische Subduktion (von lat. sub „unter“, ducere „führen“). Der Begriff bezeichnet das Abtauchen einer Erdplatte mit ozeanischer Kruste unter eine Kontinentalplatte. Er könnte auch auf die unterirdische Streckenführung der U-Bahn angewandt werden. Auf der poetologischen Ebene bezeichnet er die unter der Immanenz wirkende Transzendenz.

v.1 Zwar selten und dunkel warum: Mit dem warum erfragt das lyrische Ich den Grund eines Vorgangs, der sowohl eine Streitschlichtung während einer U-Bahnfahrt, die Entstehung eines Vulkans durch die Dynamik der Plattentektonik als auch die Entstehung eines Gedichtes meint. Das lyrische Ich scheint zu bedauern, dass der Vorgang zu selten und die Bedingungen im Dunkeln bleiben.

v.1 doch gelegentlich: Der Satz wird nach dem Einschub in v.2 in v.3 mit Reißt es … fortgesetzt.

v.2: Der Einschub, die Beleidigung (‚Halt Du Deinen Drecksrand‘) eines U-Bahn-Passagiers durch einen anderen, wird durch geologischen Begriffen verfremdet. In der Plattentektonik stoßen die ‚Karibische Platte‘ und die ‚Cocosplatte‘ (vgl. v.4) aufeinander. Schelf ist die Bezeichnung für den Rand eines Kontinentes, der von Meer bedeckt ist. Die Karibische Platte ist (im Gegensatz zur Cocosplatte als ozeanischer Platte) eine Kontinentalplatte. Beim Abtauchen verhaken sich die beiden Platten und bauen erhebliche Spannungen im Gestein auf, deren ruckartige Freisetzung an der Erdoberfläche zu Erdbeben führt. Auf der Ebene der U-Bahn-Fahrt könnte man an einen Zusammenstoß zweier Migranten denken.

v.3 Reißt es … reißts mich: Die Dopplung betont den Vorgang des In-die-Senkrechte-gerissen-Werdens. Der Satz wird fortgesetzt mit Sitzsenkrecht (v.5).

v.3 es
: Offen bleibt, ob das es als unpersönliches Fürwort oder als Stellvertreter (für den Dichter, die Muse oder die Transzendenz) zu lesen ist.

v.3 bei voller untergrundfahrt
: Erst hier wird deutlich, dass in den ersten beiden Versgruppen eine U-Bahn-Fahrt beschrieben wird. Mit zu hören sind auch ‚in voller Fahrt‘ und die ‚volle U-Bahn‘.

v.4: Der erneute Einschub besteht aus der ebenfalls beleidigenden Antwort. Mit dem Begriff ‚Cocosplatte‘ wird die Beleidigung wieder verfremdet. Du spast steht für ‚Du Spastiker‘ und verweist über den ‚Spasmus‘ auch auf die Spannungen im Gestein (vgl. zu v.2). Die ordinäre Redensart ‚jemandem hochkant den Arsch spalten‘ lässt sich parallel zum Vulkanismus verstehen, der die Kontinentalplatte (verursacht durch Subduktion) ‚hochkant‘ spaltet.

v.5 Sitzsenkrecht: Gemeint sein kann sowohl das aufrechte Sitzen als auch das Aufstehen vom Sitz.

v.5 affektlinien entlang: Auf der U-Bahn-Ebene ist das affektgesteuerte Aufeinandertreffen zweier Kontrahenten gemeint. Bezogen auf die Plattentektonik entsteht der Vulkanismus entlang den Linien, die zwischen den Platten verlaufen.

v.5f die erhabene / Scheidegewalt meines bannstrahls
: Der Blitz (‚Bannstrahl‘) ist wie der Donner (vgl. v. 7) ein traditionelles Attribut des Göttervaters Zeus. ‚Bannstrahl‘ ist der deutsche Begriff für ‚Anathema‘, den Ausschluss aus der katholischen Kirche. Auf der Ebene der U-Bahn-Fahrt ist das schlichtende Eingreifen eines überlegenen Dritten gemeint. Auf der Ebene der Plattentektonik kann man an einen ausbrechenden Vulkan denken. Auf der poetologischen Ebene könnte der Bannstrahl als Gewalt der Sprache verstanden werden, mit der der Dichter den Unterschied zwischen Transzendenz und Immanenz klärt.

v.7 klär ich: Das lyrische Ich in seiner Rolle – als Schlichter im U-Bahn-Streit, – als Vulkan, der die tektonischen Spannungen abbaut, – als Dichter, durch den die Transzendenz die Immanenz ordnet.

v.7 arena: alter kultischer Ort für die Austragung von Wettkämpfen, hier eher Kampfplatz der Streithähne

v.8 Klar doch: lautliche Anlehnung an klär ich (v.7), das Ergebnis des Klärungsprozesses anzeigend.

v.8 qua endogene / Dynamik
: Fachbegriff aus der Geologie: Die endogene Dynamik (auch ‚endogene Prozesse‘) beruht auf Kräften innerhalb der Erdkruste, wie Spannungen oder Wärmeentwicklung durch radioaktive Zerfallsprozesse, die zu Vulkanismus führen. Gemeint sind auch die endogenen Stoffe, die triebgesteuerte Aggressionsausbrüche hervorrufen. Auf der poetologischen Ebene ist möglicherweise angedeutet, dass das den Dichter Treibende (die Transzendenz) nicht außen, sondern in ihm wirkt.

v.9 baseballs
: Hier ist nicht das Spiel Baseball gemeint, sondern die Hoden (‚balls‘ ist englischer Slang und ‚base‘ bezeichnet die niedere Region), die im folgenden als Hot spot bezeichnet werden.

v.10 Hot spot: Fachbegriff der Geologie: Ein ‚Hotspot‘ ist ein heißer Bereich in der Erdkruste, der vulkanische Aktivität verursachen kann. Vgl. auch zu v.9.

v.10 ihre welt bleibt wie sie war: Bezogen auf den U-Bahn-Streit: Die Welt der Streitenden ändert sich nicht. Auf die Plattentektonik bezogen ironisch zu verstehen: Diese ändert die Oberfläche der Welt dramatisch. Mit dem ihre welt und dem folgenden ich selbst aber wird ein Gegensatz suggeriert, demzufolge das Ich sich geändert haben müsste. Diese Änderung des Ich wird aber im Folgenden ausdrücklich verneint (v.14f).

v.11: ‚Rift‘ ist wieder ein geologischer Fachbegriff: Er bezeichnet einen Grabenbruch, der in Gebirgsnähe durch die Plattentektonik entsteht. Auffaltung bezeichnet als geologische Fachbegriff die Entstehung eines Gebirges (so z. B. der Anden) durch das Aufeinandertreffen von zwei Erdplatten. Mit Spitzenbalance wird (über das Ballett) eine gefährdete Haltung des lyrischen Ich suggeriert, die es auf der Höhe eines Rifts einnimmt. Im übertragenen Sinne ist der Durchbruch und die Auffaltung der Transzendenz im Gedicht gemeint und das Wagnis, das der Dichter dabei sprachlich eingeht.

v.12f Wenn blass … / … abtaucht: Das Verblassen der mythologischen Figur des Perseus könnte gesehen werden als Verschwinden einer alten, durch die Nähe zum Mythos charakterisierten Kultur.

v.12 natterngeschmeiß und Perseus
: Gemeint ist das Sternbild Perseus, in dem Perseus das abgeschlagene Haupt der Medusa (deren Haare aus Schlangen bestehen (natterngeschmeiß)) in der Hand hält. Auf der poetologischen Ebene ist zu beachten, dass aus dem von Perseus abgeschlagenen Medusenhaupt der Pegasus, das Symbol für den Dichter selbst, entspringt.

v.13 Kampfmüd: Auf der Ebene der U-Bahn-Fahrt lassen die Streitenden von ihrer Auseinandersetzung ab.

v.13 die frühe jedoch sieh nur versonnene frühe: Auf der konkreten Ebene führt die U-Bahn-Linie aus dem Dunkel des Untergrunds in das Licht der oberirdischen Strecke. Daneben wird – vor allem durch ‚versonnen‘ und das folgende Andenflamingogefieder – das Bild eines Sonnenaufgangs am frühen Morgen suggeriert. Auf der poetologischen Ebene könnte man an die Entstehung eines Gedichtes denken, das einen Neuanfang beschwört. In diesem Zusammenhang weist das Attribut ‚versonnen‘ darauf hin, dass der schöpferische Prozess nicht nur rational, sondern auch ’nachdenklich träumerisch‘ verläuft. Die Verdopplung des Wortes ‚Frühe‘ betont die mit einem Neuanfang verbundene Hoffnung.

v.14 Andenflamingogefieder: Der Andenflamingo lebt in den Hochanden (Peru und Bolivien). Sein rosafarbenes Gefieder ist hier ein Bild für die Morgenröte (vgl. dazu zu v.13 die frühe …). Das Gefieder ruft die Assoziation ‚Feder‘ als Schreibutensil des Dichters hervor.

v.14 darüberschiebend
: Die Ebene der Plattentektonik klingt ebenso an wie die sich übereinander lagernden Ebene des Gedichtes.

v.14f und ich was ich stets war ich / War es geblieben
: Syntaktische Fortsetzung von v.10 (ich selbst aber). Das lyrische Ich setzt sich in Gegensatz zu den in der Welt ‚Bleibenden‘ (vgl. zu v.10 ihre welt …). Es versteht sich als aus der Transzendenz kommend (was ich stets war) und ihr verbunden bleibend: auch als Existierender in dieser Welt (ich / War es geblieben). Die Formulierung erinnert an die Bibelstelle Ex. 3,14; Gott spricht aus dem brennenden Dornbusch zu Moses: „Ich bin, der ich bin“ (Einheitsübersetzung) bzw. „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Luther).
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht ist ein Sonett mit umgestellten Terzetten (in der Mitte statt am Ende des Sonetts) und mit einem zusätzlichen (die Sonettform transzendierenden) Vers 15.

Reimschema: a/b/a/b//c/d/e//e/d/c//f/g/f/g/x. Die Waise (v.15) ist durch einen unreinen Binnenreim (-schiebend v.14) gebunden.

v.7 ─ ─ : graphische Darstellung des Aufeinandertreffens zweier tektonischer Platten bzw. für das Trennen zweier Streitender

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