Drehmoment

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht schildert in der ersten Versgruppe den Abschied eines Motorradfahrers vom lyrischen Ich. In der zweiten Versgruppe wird das Motorradfahren zum faszinierenden Erlebnis der Technik verallgemeinert. Die Dominanz der Technik wird dann in der dritten Versgruppe als Problem unserer Zeit dargestellt und das lyrische Ich hofft mit einem Rückgriff auf das ganzheitliche Weltbild des frommen Newton (vierte Versgruppe), dass eine Zeitenwende bevorstehe. Diese Zeitenwende wird im Titel im Begriff des ‚Drehmomentes’ vorweggenommen.

Drehmoment


 
Am Morgen
in der geöffneten Ausfahrt
wenn er dann
wieder
startet
einen
Widerhaken
du
suchst ihn dort
in den
aufkonzentrierten Augen

 
5da röhrt sie schon auf unter den
Schenkeln

Energiedichte
konisch
im
Stahlsegment

dass
Atemlosigkeit

rotatorische
brennend
hinaufjagt hinter die Stirn

die dich eben noch dachte
10
der erblindete Trieb
siehst du
spitzt sich zu

zur
Nadel
die nach dem Nordstern sticht –
 
primordial
erinnere dich
erstrangig
der
Drehimpuls als Eigenschaft der Materie
selbst
und geht noch versichern
die Rechner

15am
Gravitationsschlund
wo der am
gierigsten klafft
nicht verloren

wenn sonst auch das
Ewige
alles
hin ist das Herz in den
Schlingen der Zeit

mit den
Zahnhälsen gegen die Schläfen hämmert

 
20
Übrig bleibt noch
so
der fromme Newton

als er vom
Weltsystem
spricht
seine
Einrichtung
kennenzulernen
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Das Drehmoment ist eine physikalische Größe in der klassischen Mechanik. Ein Drehmoment kann die Rotation eines Körpers beschleunigen oder bremsen. Die international verwendete Maßeinheit für das Drehmoment ist das Newtonmeter (vgl. dazu zu v.20). Der Begriff wird u.a. dazu verwendet, die Leistung eines Verbrennungsmotors zu klassifizieren.

v.1: Abschiedssituation zweier Liebender (traditioneller Beginn eines ‚Tageliedes’): Vorstellen kann man sich, dass das lyrische Ich den Geliebten morgens am geöffneten Garagentor abfahren sieht.

v.2 wieder: Hinweis auf den geordneten Lebensablauf, aber auch auf ein zyklisches Zeitverständnis

v.3 Widerhaken: Das lyrische Ich möchte den Geliebten wie an einer Angel zurückhalten.

v.3 du: Selbstanrede des lyrischen Ich

v.4 aufkonzentrierten Augen: ungewöhnliche Metapher, in der sich zwei Vorgänge überlagern: Der Geliebte geht mit geöffneten Augen konzentriert auf etwas Neues zu. Das lyrische Ich versucht dessen Fortstreben durch Blickkontakt zu verhindern. Der Begriff stammt aus der Chemie und bezeichnet dort Verfahren, die die Konzentration eines Stoffes erhöhen.

v.5: Die emotionale Beziehung zwischen Geliebtem und lyrischem Ich wird durch die Beziehung zwischen Mann und Technik ersetzt: Das Motorrad tritt an die Stelle des Geliebten. Die stark sexuellen Konnotationen von ‚aufröhren’ und Schenkeln verdeutlichen dies, sie bestimmen die ganze Versgruppe.

v.6 Energiedichte: Konkret gemeint ist die Energiedichte im Verbrennungsmotor eines Motorrades. Der Begriff weist aber auch schon auf die Energiedichte im Zentrum eines Schwarzen Loches hin (vgl. dazu die zweite Versgruppe Gravitationsschlund (v.15)). Ebenso weist konisch auf den Drehimpuls (v.13) eines Schwarzen Loches hin.

v.6 konisch: ‚ konisch’ bezeichnet Objekte mit der Form eines Drehkegels.

v.6 Stahlsegment: Der Begriff ‚Segment’ weist darauf hin, dass die Technik nur Teil eines Ganzen sein kann.

v.7 Atemlosigkeit: Neben dem Indiz für den Erregungszustand auch Zeichen dafür, dass die Technik nicht beseelt ist (ohne Pneuma).

v.8 rotatrische: grammatisch auf die Atemlosigkeit, inhaltlich auf das Drehen der Maschine bezogen und gleichzeitig wieder Vorausdeutung auf den Drehimpuls (v.13)

v.8 brennend: Gemeint ist der ‚Verbrennungsmotor’ und das heiße Verlangen.

v.8f hinaufjagt hinter die Stirn / die dich eben noch dachte: Die durch die Technik verursachte Atemlosigkeit verdrängt aufsteigend das Gedächtnis an den Geliebten, der für den Bezug zur Transzendenz steht.

v.10 der erblindete Trieb: Abwandlung des stehenden Ausdrucks ‚blinder Trieb’. Nicht der Trieb ist blind, sondern er hat den Geliebten blind gemacht.

v.10 siehst du: pointiert ironischer Gegensatz zum ‚blinden Trieb’. Das lyrische Ich hält am Transzendenzbezug fest bzw. repräsentiert die Transzendenz.

v.10 spitzt sich zu: Der Höhepunkt naht.

v.11: Konkret ist die Nadel des Tachometers gemeint, die mit dem Ausschlag nach oben die Zunahme der Geschwindigkeit anzeigt. Zugleich wird die Kompassnadel mitgedacht, die nach Norden, zum Polarstern weist. Als richtungsweisendes Instrument ermöglicht die Nadel den Weg zur Transzendenz (zum Stern), als technisches Instrument verletzt sie die Transzendenz indem sie sticht. Dieser Stich wird durch den folgenden Gedankenstrich symbolisiert.

v.12 primordial: lateinisch ‚von erster Ordnung’, erstrangig, also hierarchisch gedacht

v.12 erinnere dich: Auf der konkreten Ebene ruft sich das lyrische Ich die Übersetzung von primordial ins Gedächtnis. Übertragen fordert es sich auf, an das vergangene, ursprüngliche, erstrangige Sein der Transzendenz, an Gott zu denken. Während damals noch eine hierachische Ordnung gegeben war, werden in der Moderne die Dinge zwar geordnet, auch in zeitliche Abfolge, aber alle gleichrangig ohne Zentrierung auf Gott.

v.13 Drehimpuls als Eigenschaft der Materie: Der Drehimpuls ist sowohl in der Festköperphysik als auch in der Quantenphysik eine Eigenschaft der Teilchen. Er nimmt im Raum der Physik als unveränderliche Größe der Materie die Stelle des Ursprungs ein und tritt an die Stelle des Begriffs ‚erster Beweger’ im Raum der Transzendenz.

v.14 die Rechner: Gemeint sind sowohl die allein auf die Mathematik ausgerichteten (gefühlsfernen) Wissenschaftler als auch die umgangssprachliche Bezeichnung für Computer (vom eigentlich Menschlichem losgelöste Systeme).

v.15 Gravitationsschlund: Der Begriff ist eine populärwissenschaftlich Metapher für das Gravitationsfeld eines Schwarzen Loches.

v.16: paradoxe Überlagerung zweier eigentlich entgegengesetzter Zustände im Bereich der Materie: Der ‚Schlund’ droht etwas zu verschlingen, dieses Etwas (der Drehimpuls) geht aber dennoch nicht verloren.

v.17ff: ebenfalls paradoxe Überlagerung zweier Zustände, diesmal aber im Bereich des Geistigen: das Ewige ‚ist hin’, so dass das Herz (als Metapher für die Beziehung zur Transzendenz) sich gegen die Zeitlichkeit wehrt.

v.18 Schlingen der Zeit: Die ‚Schlinge’ als Jagdinstrument entspricht dem Widerhaken (v.3). Sie symbolisieren die Falle der Zeitlichkeit, in der das Herz (als Zentrum des Individuums) gefangen ist und aus der es verzweifelt versucht sich zu befreien.

v.19 Zahnhälse gegen die Schläfe hämmert: Hier wird indirekt wieder das Motiv des Motorrads aufgenommen: Das Herz als Motor hämmert mit den Zahnhälsen (als Kolben) gegen die Schläfen (das Stahlsegment).

v.20ff Übrig bleibt noch …/ / seine Einrichtung kennenzulernen: Abgewandeltes Zitat aus Newtons „Principia mathematica“ (dt. Ausgabe S.379): „Es bleibt uns nun noch übrig, auf der Grundlage dieser Prinzipien [i.e. der mathematischen Prinzipien als Grundlage der Beschreibung der Kräfte und Bewegungen (z.B. des Drehimpulses) in der Physik] den Aufbau des Weltsystems auseinanderzusetzen.“

v.20 der fromme Newton: Sir Isaac Newton (1643-1727) wird heute einseitig nur als Naturwissenschaftler wahrgenommen, er war aber tatsächlich fromm und beschäftigte sich ausführlich mit Religion, weil er glaubte, dass Gott das Zentrum des Universums sei.

v.21 Weltsystem: Für Newton ist das Weltsystem gegeben, nur der Aufbau ist zu erklären. Die modernen Naturwissenschaften glauben, kein zusammenhängendes, vereinheitlichtes Weltsystem erkennen zu können. Für das lyrische Ich aber scheint solch ein Weltsystem zu existieren, das nur im Moment vom herrschenden Paradigma verdeckt wird. Es hofft auf das Drehmoment, auf eine Zeitenwende.

v.22 Einrichtung: Die Abwandlung des Newton Zitates (statt ‚Aufbau des Weltsystems’ seine Einrichtung) könnte auf Kleists häufig gebrauchte Formulierung von der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ (Michael Kohlhaas (S.592) und Die Marquise von O (S.687) Heinrich von Kleist, Werk in einem Band, Hanser 1966) zurückgehen.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus vier Versgruppen (4/7/8/3) mit insgesamt 22 Versen. Der Mittelpunkt des Gedichtes liegt also zwischen der 2. und der 3. Versgruppe, man könnte den Gedankenstrich am Ende von v.11 als das Drehmoment bezeichnen (vgl. zu v.11).

v.7: Die Atemlosigkeit wird auch durch die Kürze des Verses verdeutlicht.

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