Kind kosmisch

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich redet in der S-Bahn eine Mutter an, deren Kind in einer Kinderkarre einen Apfel isst (v.1-13). Das Kind zieht sich spielerisch seine Mütze über das Gesicht (v.13-17). Auf eine Reflexionsphase des lyrischen Ich (v.18-35) folgt die Aufforderung an die Mutter, das Kind hoch zu heben (v.36f).
Diese Ereignisebene wird überlagert von dem Prozess, durch den die heutige Menschheit die Erde ausbeutet. Das verbindende Element ist der Apfel, den das Kind ‚frisst‘ und der gleichzeitig die Erde symbolisiert. Darüber hinaus erinnert der Apfel an den Sündenfall im Paradies (das noch nicht verlorene Paradies wird in v.4-8 evoziert, das verlorene Paradies in v.38-41). Aus dem Verlust des Paradieses resultiert der wachsende Abstand zur ursprünglichen Transzendenz (v.34f) und die Zunahme der materiellen Orientierung (v.19-21, v.25, v.34f). Das Bild des Paradieses lässt an mittelalterliche Weltkarten denken, auf denen am Rande Phantasiemonster zu sehen sind und denen heutige – höchst reale – Schrecken gegenüber gestellt werden (v.26-32). Um diese Schrecken zu bannen, fordert das lyrische Ich, sich wieder der Transzendenz zu nähern (‚das Kind hochheben‘ (v.37) und ‚Lampe in die Nacht stellen‘ (v.41f)), bildlich gesprochen, sich aus einer Raupe (einem Schädling v.12) zu einem Schmetterling (zu einem Symbol der Seele) zu entwickeln.

Kind kosmisch


 
Auch wenn es das sehe ich
Ihnen
an wenns superschnell
Richtig groß
werden soll noch jedenfalls hockts in der kinderkarre
Ihr
lendengewächs
hier in der S-bahn die diese
kleingartenwelten
sieh
Das umfriedete land
schon entgleitets
wo
glück

5Aus glück nur besteht und ganz ohne wünsche
Und wissen zeit die vergeht zeit die entsteht
Und ungefühlt bleibt ihr fließen
weil nämlich die baumfrucht

Cox Orange Morgenduft oder die Goldparmäne

Soeben noch
globusgroß
und
oktoberstrotzend

10Süß zu mir hin ein duftstrom
bis auf den griebs Ihr knirps

Ringsum in einer einzigen schnappatemattacke
Abgenagt haben
sie
schon seine rasenden
Raupenkopfkiefer
ja genau die nämlich ists diese
häkelhaube

Die man ihm besser gleich ganz
oder
glauben Sie heimlich noch immer

15
Das ding mit dem reinen nordmeerazur
selbstevident
als
Gottesbeweis der
triumphal
im pupillenspiegel
ich wiederhole
gleich
Voll übers ganze gesicht ja
verbirg dich

Im nirgendwo und lass nur den geist wirken
Sonst können die menschen
eine volle million

20
Transistoren
auf eine halbe

Briefmarke montiert
Weil einzig
das Euro
bis jetzt aufs ganze gesehn so ein

Sparbeutelprogramm
springen lässt dass es den eignen urin

Diskret zu sozialverträglichem speichel
25Im
jahr 2600
nicht mal mehr äpfel im stehen essen
Denn die artigen
landkartenmonstren
die vordem
Bloß die kulissen schoben an palmwedelnden
schatzinselküsten

Zehnzahnreihenhydrarachen
strecken die heut schon
und ziehen
Sie
sich jetzt bloß nicht auf meine sehrinde zurück und dass die dort

30Multimedial impulsierten angstwesenheiten
Neuroelektrisch hätten die aber auch nicht entfernteste ähnlichkeit
Nach unserm
täglichen
weltfrühstücksei
aus eine terrestrische
Sagen die kosmiker
übersprungreaktion
und
menschlich durchaus verständlich

Auf das
knallhart
kalkuliert wachsende vakuum
35Zwischen den sternen die wir für
bare münze
und nun
Nehmen Sie
ihn rasch aus dem wagen
Den kurzsichtigen balg
und heben Sie stemmen Sie ihn hoch bis
wo

Wenn wir nackt sind
hin aber
in goldener schale zu fernen Äthiopen

Die sonne
hinter dem rücken des markts
lang schon

40Ließ sie die
Hesperiden
wo dann sag

Steht
eine lampe im fenster

An der sich die
nacht aufwärmen
kann
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Im Titel werden zwei Ebenen des Gedichtes genannt: Das Kind steht für die Ereignisebene, kosmisch für die transzendente Ebene. Das ‚kosmische Kind‘ evoziert die Gestalt Christi, des „göttlichen Kindes“, das häufig mit einem Apfel in der Hand als Herrscher der Welt dargestellt wird. In der Esoterik bezeichnet ‚das kosmische Kind‘ jenen Aspekt in uns, in dem die Erinnerungen an das lichtvolle Sein, aus dem wir geboren wurden, gespeichert sind.

v.1 Ihnen: In der für die GrossstadtstrassenGrussadressen charakteristischen ‚inneren, monologischen Anrede‘ wird eine Mutter, die mit Kleinkind in der S-Bahn fährt, angeredt.

v.1f wenns superschnell / Richtig groß werden soll: bezieht sich zunächst auf das Wachstum des Kindes, lässt sich aber auch übertragen auf den Götzen „Wachstum“ der ökonomischen Welt.

v.3 lendengewächs: Neologismus für die ‚Leibesfrucht‘ der Angeredeten. Die Betonung der pflanzlichen Komponente für das empfangene Kind schafft eine Verbindung zum Paradies mit der Erschaffung Evas aus dem Leib Adams. Parallel dazu wird in der Ikonographie die Wurzel Jesse gesehen: aus der Seite Jesses wächst der Stammbaum Christi.

v.3f kleingartenwelten sieh / Das umfriedete land: Die S-Bahn fährt durch ein Kolonie von Schrebergärten (z.B. die Berliner S-Bahn-Linie S 7). Mit den Begriffen garten und umfriedet wird die Pardiesvorstellung aufgerufen. In diesen Kontext gehört auch das zum sieh verkürzte biblische ‚siehe‘ (z.B. Gen. 1,31: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.)

v.4 schon entgleitets: Das Vorbeifahren der S-Bahn wird parallelisiert mit dem Verlust des Paradieses, des Transzendenzbezuges.

v.4-8: Charakterisierung des verlorenen Paradieses als glückerfüllt, wunschlos, unwissend und zeitlos. Dagegen wird die Jetztzeit als unglücklich, von Wünschen getrieben, durch Wissen ‚verdorben‘ und der Zeit (und damit dem Tod) ausgeliefert empfunden.

v.7 weil nämlich die baumfrucht: Die begründende Konjunktion legt drei Vervollständigungen des Satzes nahe: Zum Einen ‚weil die Frucht noch nicht gepflückt wurde‘ (deswegen besteht das Paradies noch), zum Anderen ‚weil die Frucht Abgenagt (v.12) wurde‘ (deswegen ist das Paradies verloren), zum Dritten ‚weil die Frucht Süß zu mir hin (v.10) duftet (und damit die Sehnsucht des lyrischen Ich nach der Transzendenz zeigt).

v.8: Drei alte Apfelsorten zur Versinnbildlichung des Paradiesapfels. Die Genesis spricht nur allgemein von „den Früchten“ des Baums der Erkenntnis, scheint bei diesem aber am ehesten an einen Feigenbaum zu denken, die christliche Kunst des späten Mittelalters stellt den Baum jedoch meist als Apfelbaum dar, möglicherweise wegen des Wortspiels, das sich in der lateinischen Bibelübersetzung zwischen mālum (= Apfel) bzw. mālus (= Apfelbaum) und malum (= das Böse) ergibt. Der Name Morgenduft deutet auf die Sehnsucht des lyrischen Ich nach der Transzendenz hin.

v.9 globusgroß: Der Vergleich des Apfels mit dem Globus verweist ironisch auf den Missbrauch, den die heutige Menschheit mit der Erde treibt.

v.9 oktoberstrotzend: Mit ‚strotzend‘ wird die ‚goldene Zeit der Ernte‘ als Hypertrophie karikiert.

v.10f bis auf den griebs Ihr knirps / … schnappatemattacke: Das Gegenbild zum gefräßigen lendengewächs (v.3) ist das Christuskind mit dem Apfel als Symbol der Erde in der Hand. Vgl. auch Aspekte der Form, v.10. Als ‚Schnappatmung‘ werden in der Medizin einzelne schnappende Atemzüge, zwischen denen lange Pausen liegen, bezeichnet. Umgangssprachlich meint der ‚Schnappatem‘ das kurze Luftfassen zwischen längeren Sätzen; er dient dazu, den Zuhörenden möglichst nicht zu Wort kommen zu lassen.

v.12 sie: Bezöge sich das Personalpronomen wie zu erwarten auf den einzelnen Apfel, müsste es ‚ihn‘ heißen, sie kann man auf die baumfrucht (v.7), die obengenannten drei Apfelsorten, aber auch auf die Erde, die ‚abgenagt‘ wird, beziehen.

v.12f seine rasenden / Raupenkopfkiefer: Das Kleinkind wird mit einer Raupe, die den Apfel abnagt, verglichen. Im Attribut ‚rasend‘ wird die Beschleunigung des globalen Prozesses des Naturverbauchs gegeißelt. Damit wird die heutige Menschheit indirekt zur Kategorie der Schädlinge gerechnet. Der mögliche Transformationsprozess zu einem Schmetterling (traditionelles Symbol der Seele) könnte eine wünschenswerte Entwicklung andeuten (vgl. zu v.13).

v.13 häkelhaube: Gemeint ist ein gehäkeltes Mützchen, das dem Kind zum Schutz aufgesetzt wird. Mit dem im folgenden dargestellten Vorgang des ‚über das Gesicht Ziehens der Haube’ kann übertragen der Verpuppungsvorgang einer Raupe parallelisiert werden, die sich danach zum Schmetterling (zu einem geistigen Wesen, vgl. zu v.18) wandelt.

v.14 Die man ihm besser gleich ganz: Der Relativsatz wird in v.17 mit Voll übers ganze gesicht /zöge/ (vgl. zu v.13) fortgesetzt.

v.14 glauben Sie heimlich noch immer: Zunächst eine ironisch zu verstehende Frage an die Mutter, einen heutigen, transzendenzfernen Menschen. Zugleich aber wird das Geheimnis des Glaubens aufgerufen, ein Geheimnis, das mit ‚Verbergen’ (v.12 verbirg dich) und dem Sich-Zeigen der Transzendenz im pupillenspiegel (v.11) gemeint ist.

v.15 Das ding mit dem reinen nordmeerazur: auf der Realebene die blaue häkelhaube (v.13). ‚Azur’ ist Himmelsblau, das sich im nordmeer spiegelt und nimmt damit den Spiegelungsvorgang des Auges Gottes im Menschenauge (vgl. zu v. 16) vorweg. Vergleichbar ist das Goethe-Gedicht: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“. Die Phrase Das ding … kann auf zweierlei Art angebunden werden: ‚Glauben Sie an das Ding …’ oder ‚Glauben Sie … das Ding … sei selbstevident’.

v.15 selbstevident: ‚Evidenz’ (vom lateinischen ex ,aus‘ und videre ,sehen‘: das Herausscheinende‘) bezeichnet das dem Augenschein nach Unbezweifelbare, das durch unmittelbare Anschauung oder Einsicht Erkennbare. In der religiösen Anschauung ist nur Gott sich selbstevident, der Mensch teilt diese Eigenschaft nur als Geschöpf Gottes. Dass der Mensch im Selbstbewusstsein Selbstevidenz hat, kann als Gottesbeweis (v.16) verstanden werden.

v.16 triumphal: Triumph ist eine Siegesfeier über einen Besiegten, im religiösen Sinne z.B. den Sieg Christi über den Tod.

v. 16 ich wiederhole: Die rhetorische Formel wiederholt hier den Spiegelungsvorgang.

v.17f verbirg dich / … geist wirken: Auf der Realebene ist gemeint, dass das Kleinkind mit der Haube Versteck spielt. Darüber gelagert wird der Gedanke, dass der Geist nicht die Eigenschaften der Materie (Sichtbarkeit und Lokalisierbarkeit) teilt. Die Aufforderung, nur den Geist wirken zu lassen, ist an den verständigeren Leser gerichtet.

v.19 Sonst können die menschen: Zunächst scheint die Fortsetzung dieses Satzes eine volle Million / Transistoren auf eine halbe / Briefmarke ‚montieren’ zu sein, bei der weiteren Lektüre muss er mit Im jahr 2600 nicht mal mehr äpfel im stehen essen (v.25) fortgesetzt werden.

v.20 Transistoren: Ein Transistor ist ein elektronisches Bauelement zum Schalten und Verstärken von elektrischen Signalen. Mit der Entwicklung der Chip-Technik hat die Anzahl der auf kleinem Raum montierbaren Transistoren exponential zugenommen. „Transistor“ ist eine Kurzform des englischen ‚Transfer Resistor’. Transfer mit der Bedeutung von ‚Übertragung’ entspricht der Funktion der Briefmarke (v.21), die auf der Realebene dazu beiträgt, Botschaften zu übertragen.

v.22 das Euro: Das Euro ist ein Kängeru. Es gibt drei Arten „echter Kängurus“: Riesenkängurus, kleine Wallabies und dazwischen die mittelgroßen Bergkängurus. Sie werden in Australien Wallaroos genannt, wenn sie in Wüstenregionen leben Euro. In dem Namen des Tieres klingt gleichzeitig die europäische Währung an und damit der Bereich der Ökonomie.

v.23f Sparbeutelprogramm … / … speichel: „Das Euro nutzt noch das kleinste Wasserpartikelchen, das ihm zur Verfügung steht, auf optimale Weise. … Seine Maschinerie erlaubt ihm, seinen Urin in Speichel zu verwandeln.“ (Die Zukunft des Wassers: Eine Reise um unsere Welt. Érik Orsenna, S.59). Mit beutel und springen wird das Bild des Kängurus fortgeführt. Mit dem Verhalten des Kängurus und den Begriffen ‚Sparprogramm‘ und sozialverträglich wird ein Gegenbild zur globalen Verschwendung natürlicher Ressourcen aufgebaut.

v.25: Suggeriert wird, dass das Bevölkerungswachstum der Menschheit so groß ist, dass im Jahr 2600 das Essen ausgehen wird, denn dann wiegt die Menschheit so viel wie heute die gesamte Biomasse der Erde. Auch die Dichte wird so groß sein, dass sich niemand mehr setzen kann.

v.26 landkartenmonstren: Auf mittelalterlichen Weltkarten wurden am Rand der Karten oder in den Ozeanen häufig Phantasiemonster dargestellt. Mit der Globalisierung in Folge der Vermessung der Welt verschwinden die artigen Monster von den Karten, die abstrakten modernen Monster (Zehnzahnreihenhydrarachen v.28) sind auf unseren Weltkarten nicht zu sehen.

v.26f vordem / … schatzinselküsten: In vormodernen Zeiten war die Natur noch intakt (‚Palmwedel‘) und reich an Schätzen.

v.28 Zehnzahnreihenhydrarachen: Ausweitung des Bildes aus v.13 (Raupenkopfkiefer). Ins Monströse gesteigerte Vision des gefräßigen, globalen Ressourcenverbrauchs.

v.28 strecken die heut schon: Der Satz muss mit Nach unserm täglichen weltfrühstücksei aus (v.32) fortgesetzt werden. heut schon bezeichnet im Verhältnis zu vordem (v.26) den Wandel im Umgang mit der Natur.

v.28ff und ziehen / Sie sich … / Multimedial … / Neuroelektrisch … ähnlichkeit: Formal bezieht sich das Sie auf die Angeredete (vgl. v.1). Inhaltlich wird ein kritischer Leser aufgefordert, nicht damit zu argumentieren, dass die modernen Monster (angstwesenheiten) nur Multimedial (Kino, Fernsehen, Internet) exisitierten und nur über das Sehen (Sehrinde, ‚Augapfel‘, Neuroelektrisch) wahrnehmbar seien und dass sie nicht die entfernteste ähnlichkeit mit den landkartenmonstren hätten. Darin enthalten ist eine Kritik daran, dass der heutige Mensch nur noch medial Vermitteltes als wahr wahrnimmt und sich ihm tieferliegende, transzendente Ähnlichkeiten nicht mehr erschließen.

v.32 täglichen: In der Verbindung mit Nahrung liegt hier die Verbindung zur der Bitte des Vaterunsers „unser tägliches Brot gib uns heute“ nahe.

v.32 weltfrühstücksei: In vielen Schöpfungssagen entsteht der Kosmos aus einem ‚Weltenei‘. Das ‚Frühstück‘ als Tagesanfang verweist auf einen Beginn. Das weltfrühstücksei, als Versinnbildlichung der Erde (des Globus) lässt sich mit dem Apfel des Paradieses (vgl. zu v.7, v.8 und v.9) parallelisieren.

v.32f eine terrestrische / … übersprungreaktion: Eine Übersprunghandlung kommt zustande, wenn zwei einander entgegengesetzte Instinkthandlungen (zum Beispiel Angriff und Flucht) sich wechselseitig hemmen und die für beide freigesetzte „Triebenergie“ in dieser Situation auf eine dritte Verhaltensweise ‚überspringt‘, so dass diese dritte Verhaltensweise ausgeführt wird. Diese Reaktion wird auf den ganzen Globus bezogen. Der hier begonnene Satz wird mit v.34 Auf das knallhart kalkuliert wachsende vakuum fortgesetzt.

v.33 Sagen die kosmiker: Die Kosmiker waren eine parareligiöse Intellektuellengruppe in München um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ihnen gemeinsam war die Ablehnung des Fortschrittsglaubens und der Intellektualisierung der zeitgenössischen Kultur. Auf der übertragenen Ebene werden hier philosophische Überlegungen, die einen holistischen Blick auf die Erde zeigen, gemeint sein.

v.33 menschlich durchaus verständlich: Das lyrische Ich äußert ein ironisches Verständnis für das Verhalten der Menschheit gegenüber der Erde.

v.34f Auf das knallhart … / … sternen: Die ökonomischen Prozesse unserer Zeit sind auf der einen Seite knallhart kalkuliert und auf materielles Wachstum angelegt, anderseits nimmt damit auch die Entfernung von der Transzendenz zu (vakuum / Zwischen den sternen).

v.35 die wir für bare münze … / Nehmen: Die Redensart meint üblicherweise ‚etwas ernst nehmen, obwohl nur im Scherz gesprochen’. Hier wird die Transzendenz in Form der Sterne durch das Geld, die Münze, ersetzt. Genutzt wird hier auch das Grimm’sche Märchen „Der Sterntaler“, in dem ein Mädchen alle materiellen Dinge verschenkt, bis es nackt ist und dann als Belohnung Hemd und Sterntaler erhält.

v.37 Den kurzsichtigen balg: Das Kind wird als kurzsichtig bezeichnet, weil es für das kurzsichtige Verhalten der Menschheit gegenüber der Erde steht. ‚Balg’ ist nicht nur eine abwertende Vokabel für ein Kind, sondern auch eine Bezeichnung für eine abgezogene Haut mit Haaren oder Federn, also einen entseelten Körper.

v.37f Nehmen Sie … / … heben Sie stemmen Sie hoch: Der dreifache Imperativ richtet sich nicht nur an die Mutter, das Kind aus dem Kinderwagen zu nehmen, er ist auch eine Aufforderung an den Leser, die entseelte Gegenwart wieder auf die Transzendenz zu beziehen.

v.37f wo / … hin aber: zu ergänzen wäre (ist) Die sonne (v.38). Die Passage erinnert sprachlich und inhaltlich an Hölderlin „Hälfte des Lebens“: Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?.

v.38 Wenn wir nackt sind: Hinweis auf den Zustand der Menschen im Paradies (vgl. v.4-8), aber auch auf die Transzendenzentkleidung der heutigen Menschen

v.38f in goldener Schale zu fernen Äthiopen / Die sonne: Nach Mimnermus von Kolophon schifft Helios (der Sonnengott) des Nachts auf dem Sonnenbecher von den Hesperiden zu den östlichen Äthiopen. Die Äthiopen sind ein legendäres Volk der Antike, das weit im Westen angesiedelt war.

v.39 hinter dem rücken des markts: Der Markt repräsentiert die Geschäftigkeit des Tages, er wendet der Sonne als Symbol der Transzendenz den Rücken zu.

v.40 Hesperiden: In der antiken Mythologie hüteten die Hesperiden in einem Garten einen Baum mit goldenen Äpfeln. Die Äpfel verliehen den Göttern ewige Jugend.

v.40 wo dann sag: Das lyrische Ich fordert den Leser auf, ein Zeichen, das zur Transzendenz führen könnte (vgl. zu v.41), zu benennen.

v.41 eine lampe im fenster: Zur Orientierung in gefährlichen Situationen werden Lichter benutzt. So z.B. in der Sage von Hero und Leander: Hero war eine Priesterin an der Meerenge Hellespont, den ihr Geliebter Leander allnächtlich durchschwamm, um mit ihr vereint zu sein. Als die Lampe, die Hero als Wegweiser aufgestellt hatte, in einem Sturm erlosch, verirrte er sich auf dem Meer und ertrank. Die Lampe wird als das Zeichen verstanden, das auf die Transzendenz verweist bzw. wie die Sterne und die Sonne als Lichtsymbol für die Transzendenz steht.

v.42 nacht aufwärmen: Nacht und Kälte stehen als Symbol für Transzendenzferne, Licht und Wärme für Transzendenznähe.
 
 
Aspekte der Form:

Titel: Die Umstellung im Titel von ‚kosmischem Kind‘ zu Kind kosmisch verdeutlicht den exegetischen Prozess des Gedichtes, der von der Ereignisebene ausgehend (‚Mutter mit Kind‘) das Gedicht auf die transzendente Ebene (kosmisch) ausweitet. Dass beide Ebenen zusammenhängen wird durch die Alliteration hörbar.

v.4-8: Die in diesen Versen evozierte Paradiesvorstellung wird durch die verdeckten (und zum Teil unreinen) Reime verstärkt: besteht (v.5), vergeht (v.6), entsteht (v.6); wissen (v.6), fließen (v.7); baumfrucht (v.7), morgenduft (v.8); glück (v.4, 5), wünsche (v.5), ungefühlt (v.7). Vgl. auch zu v.38ff.

v.10: Der unreine Schlagreim griebs auf knirps verdeutlicht wie das Wortungetüm schnappatemattacke (v.11) die gefährliche ‚Gefrässigkeit‘ der Menschheit. Unterstützt wird dies durch die Häufung des Vokals a in den drei Worten schnappatemattacke / abgenagt haben.

v.28 Zehnzahnreihenhydrarachen: Versinnbildlichendes Wortungetüm.

v.34: Die doppelten Alliterationen k / k und w / v (w) machen die Explosion und Ausdehnung des Vakuums hörbar.

v.38ff: Der Schluss des Gedichts behandelt ein verlorenes Paradies in einem (an Hölderlin erinnernden) odischen Ton (vor allem daktylischer Rhythmus und Hebungsprall; v.38f (aber in goldener Schale zu fernen Äthiopen / Die sonne) ist sogar eine reiner Hexameter). Die Passage steht im Gegensatz zu den Versen 4-8, in denen das noch nicht verlorene Paradies mit Reimanklängen geschildert wird (vgl. zu v.4-8).

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