Der grosse Fischzug

Anmerkung zur Darstellung:

Die jeweils ersten Gruppen der drei Abschnitte (I-III) stehen im Original im Blocksatz mit einer abnehmenden Länge: 10, 8 und 6 Verse. Dem entspricht das Zunehmen der jeweils letzten, kursiven Gruppen der Abschnitte (6, 8 und 10 Verse). Diese formale, grafische Raffinesse konnte auf der Website leider so nicht dargestellt werden.

Überblickskommentar:

Das Gedicht besteht aus drei gleichgebauten Teilen; jeder Teil wiederum besteht aus sechs metrisch und inhaltlich deutlich unterschiedenen Versgruppen. Es beschreibt auf der konkreten Ebene die moderne Hoch- und Tiefseefischerei mit ihren Auswirkungen. Auf der übertragenen Ebene problematisiert der Dichter den Gegensatz von Rationalität und Irrationalität aus postmoderner Sicht. Die Vernunft wird charakterisiert durch die technischen Möglichkeiten, die aus ihrer wissenschaftlichen Entwicklung hervorgegangen sind und dem Menschen die Verfügung über die Natur ermöglicht hat. Als irrational erscheint dagegen alles Religiös-Mythische, das im Unbewussten angesiedelt ist und durch die Tiefe des Meeres symbolisiert wird. So wie die moderne Hoch- und Tiefseefischerei zur Ausbeutung der Meere führt, so wird die moderne Verabsolutierung der instrumentellen Vernunft als Gewaltherrschaft verstanden. Im Gegensatz dazu wird vom mythischen Bereich ein Neuanfang erwartet.

Die einzelnen Versgruppen können folgendermaßen zusammengefasst werden:

1. Gruppe: Technik des Fischfangs (Netzfischerei/Angelfischen/Radarfischen) / Entfaltung der
Rationalität
2. Gruppe: Anrufung in Form eines Kirchenlied, angeredet wird der Fisch in verschiedenen
Gestalten / Thema ist das Leiden Christi
3. Gruppe: Jargon der Börsenberichte angewandt auf die Fischerei
4. Gruppe: In Form von Märchen / Mythe / Legende werden frühere (nicht ausbeuterischer)
Beziehungen zwischen Mensch und Meer dargestellt
5. Gruppe: Kinderlied / Verknüpfung der ökologischen Bewegung mit naiv-mythischer
Weltauffassung
6. Gruppe: Poetische Reflexion des lyrischen Ichs: vom Bewusstsein der Gefährdung der
Schöpfung (Abgrund) bis zur Hoffnung auf eine neue Heraufkunft der Transzendenz
(leise tagendes Meer)
 
Der wundersame Fischzug 
Christus am See Tiberias 

Der grosse Fischzug


 
1-10
Dreiwandnetze
das war die geniale und so
verfänglich
diese / Raffinesse der
Maschenquadrate
d.h. hinreichend weit die / Außenwände aber das Innengarn das notwendig enger noch / als
papierblattflach
angelegte Kiemen
Triumph
aber dann / der Vernunft denn
das Ganze nun als System zur Norm
– /
paradigmatisch
die perfekteste
Aporie
für so
Abgrundzeug
/ aller Art ob nun
torpedorund
oder zusammengedrückt bzw. / verlängert bis in die Riffspalten jedenfalls
unförmig
mithin /
wohldefiniert subsummierbar
unter den Typus
pelagischer / Monstrosität
mit
Fetisch-Furor
  (
o Heilbutt so verwundet

 
11weist du mir
todbereit

auf tiefstem Meeresgrunde
das
Siegel deiner Treu
)

 
Lachhaft
belanglos
daneben
und hier nur kurz angemerkt

15die klassisch laichstarken Sektoren auf denen
der Lachsindex mit überraschenden
das war realistisch so nicht vorhersehbar Kurssprüngen von satten über
fünfzehn Prozent den Jahreshöchststand – nur ein paar
Kindergreise

denn wisset
im Morgenland hat vor Zeiten ein armer Fischer gewohnt

20und eines Tags als er ein winziges Fischlein mitleidig zurückgab dem See
wisset ganz unversehens schäumte das Wasser da auf mit riesigem Schwall und
alle Tage darfst du dein Netz nun so scholl aus dem Rauschen die Rede
einmal hier auswerfen einmal mit reichem Lohn
nur
ein paar Kindergreise

25die zählten die
Fischgalgen
aus

die hielten sich fest an den Händen
hier entlang
zieht hier entlang

den letzten wollen wir fangen
im Ringelreihen um die Entladekräne
 
30
Lass gut sein
, die letzte Gräte,
hörbar
genug,

in der hastigen Luftröhre steckt sie dir quer –
hoch über dem schwindelnden
Abbruch

hier an die Steilkante tritt heran,
Aug in Aug

mit der Angst des entleerten Meers,
35
Meer nicht länger zu sein
– –

 
 
36-43
Grundleinen
für alles ja das war das
Epochen-Modell
selbst /
Landpfarrer
noch überzeugend – und davon dann ausgehend / immer nur
Deduktion absolut gesetzmäßig
d.h. der gesamte / Gegenstandsbereich unscharf und dafür also
ganz eindeutig
/ Nebenleinen abzuleiten worauf im
Spin-Off
einhundert km / mit
metrisierten
zehntausend
monokausalen
Köderhaken um / inkl. bestimmter
statistischer Parameter objektiv verifizierbar
/ die
Beißkraft
der Kiefer zu prüfen (ach
Mondensilber-Hering

 
44der
Dorn
den du gefühlt

der Dorn der dir ins Herze ging
der wuchs an meinem
Kiel
)

 
Nachgewiesenermaßen
aber war es ganz unerheblich

dass die Rogenprognosen damals extrem freundlich tendierten
und die solventeren Marktteilnehmer die Schwarmanleger
50und die parkett-erfahrenen Fanganalysten ihr
Eiweißergebnis
mit jedenfalls

tiefschwarzen Zahlen in die Gewinnzonen – nur ein paar
Kindergreise

denn hört nur die
Schiffer der Alten
erblickten zu Zeiten unzählige

Meerwesen schaumleichte Reigen die mit gewundenen schönen
mit Muschelhörnern gen Sonnenuntergang über die weinfarbenen Wellen
55hört nur Meerwunderwesen die mit gerundeten Mündern Unsterblichkeit tönten
wenn sie Geleit gaben heiteres Geleit zu den Inseln der Seligen
nur ein paar Kindergreise

die zündeten vielhundert Fackeln an
eine goldene Kette knüpften sie sich
60
den letzten
wollen wir fangen

mit Spießen und mit Stangen
hinauf bis zur Strahlenflosse des Mondfischs

 
bleib aber ruhig
, wenn dunkel strömend wie aus dem Bauch

von gekippten Krügen Nachtfeuchte
nun ringsum sich breitmacht,

65und
sieh genau hin
, wie am Horizont, wie widerstrebend dort aufscheint

Fum as-Samaka, der jetzt über das Meer
doch endlich herauf muss: der Fische Pracht-
maul zappelnd im Netz der
Rektaszension
, und schief

und abgekämpft wie das ins Leere
70nach der alten
Frühlingslust
schnappt – –

 
 
71-76
Fischlupe
das war
das Auge
das mikrometerexakte dieses / hochauflösenden Gottes Faszination bläulich flimmernder / Wirbelstriche als elektronischer Echtzeitreproduktion von / Hochsee-Schwärmen
Beobachtung methodische Analyse
Beobachtung methodische Analyse / Transfer –
wie Explosionsladungen
um dann im Fleisch /
Widerhaken
zu
extrapolieren
(
mit blutgen Flossenrändern

 
77du schöner
Einhorndorsch

für mich an deinem Ende

umfängst
der Jungfrau Schoß
)

 
80
Durchaus
übertriebenes Gewicht aber wird

von selbstinteressierter Seite auf die Großaktionen von festverzinslichen
Vollfrostern
des Typs Nisshin Maru gelegt

die damals markt-engagiert und durchaus endverbrauchergerecht
im besten Sinn breitfiletierte Profite – nur ein paar
Kindergreise

85denn glaubt mir so voll Vertrauen allein auf Gott ist
der heilige Brendan
gewesen

dass er dereinst übers endlose Meer sich gewagt hat auf Pilgerfahrt
und wie er den
vierzigsten Tag
nun in seinem Weidenschifflein gesessen

wunderbar glaubt mir kam da ein Walfisch heran und bot seinen Rücken dar
dass der Heilige Rast hielte darauf und die Messe ihm läse
90nur ein paar Kindergreise
die lustigsten Schleifen
schlangen sie da

alle mal rechts herum alle mal links herum
mit Spießen und mit Stangen

hier entlang zieht hier entlang
95mit ihren Luftbooten um die Harpunen
 
und wieder
das Meer unter dir
: –
bis hinab in die reine Tiefe

ganz unverzerrt wird es sein nach dem Zwang der Netze,
und gewaltige
Feuerschiffe
, die wachen schon überall, die schicken von Kap zu Kap

die unerhörtesten Funksprüche durch den Raum,
100ja man will, dass spiegelnd die Feldlinien mancher Frequenzen,
dass also unten das
Rippelprofil
am Grund die Gestalt – –

Zeit daher, bald etwas
tiefer zu schaun
als das Grau

der
Titanenasche
in deinen Augen, Zeit,
überm leise tagenden Meer

ihr Schiffer
ihr Fischer zieht hier entlang

105ihr heiligen Kindergreise
nun aber mal voll auf Empfang zu gehen mit allen
drei Fischkieferknochen in deinem Gehör
– –

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Es klingt die Bibel, Lukas 5,1-11 an: Christus fordert Petrus und dessen Gesellen (Jakob und Johannes) auf, auf dem See Genezareth noch einmal die Netze auszuwerfen. Obwohl sie bereits die ganze Nacht vergeblich gefischt haben, folgen sie der Aufforderung und bringen so reichen Fang ein, dass ein Schiff zu sinken droht. Petrus, der dem Herrn nicht vertraut hatte, bekennt sich sündig und will ihm fortan als Jünger folgen und wird von Christus mit folgenden Worten „von nu an wirstu Menschen fahen“ beauftragt. Zu denken ist auch an Joh. 21,1-14: Johannes schildert, wie der auferstandene Christus den fischenden Jüngern am See Tiberias begegnet.

v.1 Dreiwandnetze: Begriff aus der modernen Netzfischerei. Ein Dreiwandnetz ist ein Treibnetz. „Treibnetze werden zum Fang pelagischer Arten (Heringe, Makrelen, Lachs, Dorschartige u. a.) eingesetzt. Dabei werden … Dreiwandnetze verwendet, die aus … drei aneinander liegenden Netzen bestehen. Das eigentliche Fangnetz (Innengarn) ist engmaschig. Diesen ist ein- oder beidseitig ein weitmaschiges Netz (Spiegel) vorgehängt. Der durch die weiten Maschen schwimmende Fisch verfängt sich im losen, ihn sackförmig umhüllenden Innengarn, wobei die Außennetze ein Entweichen verhindern.“ (Wikipedia, Artikel Fischerei).

v.1 verfänglich: in der eigentlichen Wortbedeutung: jemand gerät in eine bedrohliche Lage, konkret ist das Sich-Verfangen der Fische in den Netzmaschen mitgemeint.

v.2 Maschenquadrate: Netze bestehen normalerweise aus Romben. Quadrate hier, um die Abstraktheit der Vernunft zu charakterisieren. ( s.a. Aspekte der Form).

v.4 papierblattflach: Charakterisierung der Vernunft als papieren und flach

v.4f Triumph … /der Vernunft: Ursprünglich in der Aufklärung gefeierter Siegeszug der Rationalität auf politischer und religiöser Ebene. In der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer, Adorno) problematisiert als Gewaltherrschaft und Unterdrückungssystem der Vernunft. Inzwischen ist die Formulierung zur Phrase verkommen, die z.B. in Antiraucherkampagnen als Slogan eingesetzt wird.

v.5 das Ganze nun als System zur Norm: Hinweis und Kritik an der Verabsolutierung dieser Art von Vernunft als Norm und Normalität des modernen Bewusstseins

v.6 paradigmatisch: ‚Paradigma‘ Begriff aus der Wissenschaftstheorie zur Beschreibung eines vorherrschenden Denkmuster in einer bestimmten Zeit (Thomas Kuhn)

v.6 perfekteste Aporie: Unter Aporie (griech. ἀπορία, Ratlosigkeit, von gr. o πόρος, der Weg, a poros eigtl. „Ausweglosigkeit“) versteht man im Zusammenhang mit Sokrates eine unauflösbare theoretische Problemstellung, die die paradoxe Erkenntnis des eigenen Nichtwissens ermöglicht.

v.6 Abgrundzeug: Sammelbegriff für das aus der Tiefe Gefischte, aus der Sicht der Vernunft als ‚Zeug‘ abgewertet.

v.7 torpedorund: Gemeint ist einerseits eine Fischform (neben der ‚zusammengedrückten‘ z.B. der Heilbutt), andererseits der zerstörerische Aspekt der Technik.

v.8 unförmig: Das in der Tiefe Lebende ist aus Sicht der Vernunft nicht fassbar und damit unförmig.

v.8f mithin / wohldefiniert subsummierbar: Widerspruch zu unförmig, dennoch durch das System der Vernunft klassifiziert und damit subsummierbar.

v.9f pelagischer Monstrositäten
: ‚pelagisch‘ abgeleitet von Pelagus (gr. das Meer): dem Meer angehörig, von ihm gebildet. Das Meer wird in 5 pelagische Tiefenzonen gegliedert; in der tiefesten sind traditionell die Ungeheuer angesiedelt. Gleichzeitig klassifiert der Begriff ‚Monstrosität‘ das in der Tiefenzone Angesiedelte als entartet.

v.10 Fetisch-Furor
: Mit ‚Fetisch‘ ist die Verabsolutierung eines Teilbereiches der Vernunft gemeint, sie erscheint als Rasende, als ‚Furor‘.

v.10 (o Heilbutt so verwundet: Kontrafaktur des Kirchliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“, also neben den Wortanklängen vor allem metrischer Gleichklang. Der Heilbutt als Fisch symbolisiert hier -wie in der Tradition überliefert- Christus. Der christliche Sinn von Heil liegt in der Bedeutung von „heilsam“ oder „heilig“, auch in den Vorstellungen von Erlösung (vom „Ewigen Heil“), wie im Ausdruck ‚Heiland‘.

v.11 todbereit: Opferbereitschaft Christi im theologischen Verständnis

v.13 Siegel deiner Treu: In der christlichen Theologie wird die Taufe als das Siegel Christi verstanden, das die Verbindung zwischen Gott und Täufling herstellt.

v.14ff
: Aufgenommen wird in dieser Versgruppe der Jargon der Börse und der Berichterstattung über diese und wird verknüpft mit pelagischen Begriffen.

v.14 Lachhaft belanglos daneben: Die Präposition daneben weist zunächst auf eine Nebenordnung, nicht auf eine Entgegensetzung des wirtschaftlichen und des religiösen Bereiches hin. Mit belanglos wird jener allerdings als nicht dem Wesentlichen zugehörig charakterisiert, während Lachhaft die Grenze zwischen den beiden Bereichen markiert und kommentiert.

v.18 Kindergreise: Vor dem digitalen Zeitalter wurden den Kindern von Oma und Opa häufig noch Märchen erzählt. Der Begriff verweist auf eine (Kindern und Greisen zugeschriebene) naiv-mythische Weltauffassung. Den modernen mit dem naiv-märchenhaften Bereich verbindend, könnte damit auch die ökologische Bewegung, z.B. Greenpeace, gemeint sein (s.u. zu v.24ff).

v.19ff: Zu Grunde liegt ein Märchen aus 1001er Nacht, angesiedelt im Morgenland: „Die Geschichte von dem Fischer und dem Dämon“, (insbesondere 3. und 6.Nacht). Anklänge auch an das Grimmsche Märchen ‚Von dem Fischer und syner Fru‘ , hier insbesondere die Figur des Butt (s.o. Heilbutt). Ebenfalls Anklänge an das Gedicht von Goethe „Der Fischer“ („Das Wasser rauscht‘, das Wasser schwoll, ein Fischer saß daran,“ v.1f. In diesem Gedicht ist das Meer ebenfalls Bereich der Transzendenz, allerdings dämonisch akzentuiert). Wesentlich im „Der große Fischzug“ ist die Betonung des mitleidig, auf das hin erst die Rede erfolgt, und des Gebotes, nur einmal zu fischen (zusätzlich betont durch die Wiederholung), was im Gegensatz zur modernen Ausbeutung des Meeres steht.

v.24ff: Parallelisiert mit dem kindlichen Ringelreihen wird hier die Protestform der Menschenkette in den ökologischen Bewegungen, deren Verbundenheit in einer Gemeinschaft sich dadurch ausdrückt, dass sie sich fest an den Händen halten.

v.25 Fischgalgen: Zubehör zum Aufhängen vom Fischen, zugleich Hinrichtungssymbol

v.27f: Leicht abgewandeltes Zitat zweier Verse aus folgendem Kinderlied: „Wir woll’n die goldne Brücke baun, / wer hat sie denn zerbrochen? / Ziehet alle alle durch, / ziehet alle alle durch, / der letzte wird gefangen, / mit Spießen und mit Stangen, / gefangen!“ Durch die Verkürzung und Veränderung des Zitates wird das Bild des Fischfangs mit Netzen und das Symbol Christus als Fisch wieder aufgenommen; mitgehört werden können auch die Einsetzungsworte (s.o. zum Titel) des Herrn.

v.30 Lass gut sein: Das lyrische Ich, das hier zum ersten Mal auftritt, fordert sich auf, zunächst die Darstellung des Beklagenswerten abzuschließen.

v.30f hörbar genug, / in der hastigen Luftröhre: Bewusste Abwandlung des normalen Vorganges: eine Gräte bleibt spürbar in der Speiseröhre stecken. Hier evt. abgewandelt um auf die poetologische Dimension hinzuweisen. Die Gefahr des Erstickens an der ‚letzten Gräte‘ symbolisiert die Gefährdung des Menschen durch die Ausplünderung der Natur.

v.32 Abbruch: Gemeint ist nicht nur die Steilküste, an die das lyrische Ich herantritt, sondern im übertragenem Sinne auch der Abbruch der Verbindung zwischen Mensch und Natur.

v.33 Aug in Aug: Das Meer wird personifiziert und damit wird seine Objektfunktion, die es bei der technisch-rationalen Ausbeutung hat, aufgehoben, es tritt dem Mensch als fühlendes Subjekt (Angst) gegenüber.

v.35 Meer nicht länger zu sein – –: Hinweis auf die Entleerung des Seins

v.36ff Grundleinen / Nebenleinen / Köderhacken: Begriffe aus der Langleinen-Fischerei

v.36: Epochen-Modell: Gemeint ist die Epoche der Aufklärung und die da beginnende technisch-rationale Durchdringung der Welt.

v.37 Landpfarrer: Wiederaufnahme des Bildes vom Fischfang als Menschenfang. Land als Gegensatz zum Meer.

v.38 Deduktion absolut gesetzmäßig: Im Gegensatz zum induktiven Verfahren, das vom Gegenstand ausgeht und damit diesem sein Recht lässt, geht die Deduktion von einem allgemeinem Prinzip aus, sodass die Einzelfälle nicht genügend berücksichtigt werden, der Gegenstandsbereich wird unscharf.

v.39 ganz eindeutig: Verkürzung des Gegenstandsbereichs auf nur eine Dimension

v.40 Spin-Off: Nutzung einer Technologie in einem anderen Bereich, als für den sie entwickelt wurde. Konkrete Bedeutung ist hier vermutlich das Ablassen der Leinen.

v.41 metrisierten: Konkret ist der Abstand der Köderhaken auf der Leine gemeint, übertragen Vereinheitlichung des Messsystems, beginnend mit der Einführung des Urmeters in der frz. Revolution.

v.41 monokausalen: Reduktion auf nur einen Grund (vgl. o. zu v.39)

v.42 statistischer Parameter objektiv verifizierbar: Verfahren der rationalen Kontrolle, im Gegensatz zu Erfahrungen im religiösen bzw. mythischen Bereich, die kaum wiederholbar, messbar und verifizierbar sind.

v.43 Beißkraft der Kiefer: Mit bis zu 1,8 Tonnen Beißkraft besitzt der weiße Hai von allen Lebewesen die größte Kieferkraft, wie Forscher anhand von Computermodellen nachweisen konnten. Der Mensch schafft höchstens 80 Kilogramm.

v.43 Mondensilber-Hering: Im Gegensatz zum Heilbutt (v.10) und zum Einhorndorsch (v.77) keine real existierende Fischart, sondern poetische Bezeichnung für den Hering. Mit dem Fisch ist wieder Christus gemeint (s.o. zu v.10), mit Silber wird die Heringsfarbe aufgerufen, mit Mondensilber Maria, seine Mutter (zu denken ist z.B an die Mondsichelmadonna), vgl. auch v. 79 Jungfrau Schoß.

v.44 Dorn: Heraufrufung der Dornenkrone und der Passion Christi. Vgl. auch wie zu v.10ff das Kirchlied „O Haupt voll Blut und Wunden“ Strophe 1, v.3+4: „O Haupt, zum Spott gebunden / Mit einer Dornenkron“.

v.46 Kiel: Begriff aus der Schifffahrt. Der Kiel ist der wichtigste, mittschiffs im Boden angebrachte, Längsverband eines Schiffes. Er ist somit das „Rückgrat“ des Schiffes. Im Unterschied zu einem aufholbaren Schwert ist ein Kiel in der Regel fest montiert. Der Kiel durchpflügt das Meer und ist Bild für die Verletzung des Meeres. Nebenbei kann auch der Federkiel als Schreibgerät mitgedacht werden.

v.47ff: Börsen-Jargon, vgl. Kommentar zu v.14ff

v.50f Eiweßergebnis … / tiefschwarzen: Spiel mit dem Farbgegensatz. Überinterpretiert könnte man hierin die Umwandlung eines positiven Bestandteils der Natur (Eiweiß) in einen problematischen Teil der Wirtschaft (schwarz) sehen.

v.51 Kindergreise: Vgl. Kommentar zu v.18

v.52ff: Beschreibung des Meeres und seiner Fabelwesen (Nymphen und Tritonen) in antiken Schriften (Homer, Pindar, Herodot). Hier ist das Meer Übergangsbereich in die Transzendenz, zu den Inseln der Seligen im antiken Verständnis. Dieser mythisch intakte Bereich ist durch die Rationalität der Moderne zerstört worden.

v.57ff: Vgl. Kommentar zu v.24ff

v.60f: Vgl. Kommentar zu v. 27f

v.62 hinauf bis zur Strahlenflosse des Mondfischs: Die ökologische Bewegung wird als ganzheitlich verstanden, also auch bis an die Transzendenz reichend. Mit Mondfisch wird der Mondensilber-Hering wieder aufgenommen (vgl. zu v.43), gemeint ist das Sternbild pisces (Fische), Der hellste Stern dieses Bildes ist der Stern α, der die beiden Flossen der beiden Fische strahlenförmig verbindet.

v.63 bleib aber ruhig: vgl. zu v.30, analoge Figur

v.64 von gekippten Krügen Nachtfeuchte: Parallelisiert wird der aus den Krügen fließende Wein mit der Nacht auf dem Meer. Die Gleichsetzung von Dunkelheit und Wein (Christus im Abendmahl) weist auf die Transzendenz hin und steht im Gegensatz zum unheiligen Licht der Ratio.

v.65 sieh genau hin … widerstrebend: Um in transzendenz-fernen Zeiten die Zeichen der Transzendenz zu sehen, bedarf es des genauen Hinsehens, sie zeigt sich zu diesen Zeiten nur widerstrebend.

v.68 Rektaszension: In der Astronomie der Winkel zwischen dem Längenkreis des Frühlingspunktes bis zum Längenkreis, über dem das beobachtete Objekt steht. Er ist die Entsprechung auf der (imaginären) Himmelskugel zur geographischen Länge auf der Erde.

v.70 Frühlingslust: Mit dem Frühling ist nicht nur die Erneuerung des Lebens in der Natur, sondern auch ist die Zeit, als die Transzendenz offen war, gemeint. Zur Zeit der Geburt Christi lag der Frühlingspunkt im Sternbild der Fische. Der Zeitpunkt zu dem die Sonne den Himmelsäquator überquert, entspricht dem astronomischen Frühlingsanfang auf der Nordhalbkugel. Dieser Punkt beginnt allerdings seit Mitte des vorigen Jahrhunderts den Bereich der Fische zu verlassen und in den Wassermann überzugehen. Dies ist ein kosmisches Zeichen für die Transzendenzferne. Daher schnappt das Fischmaul auch ins Leere.

v.71 Fischlupe: spezielles Echolot für die Ortung von Fischschwärmen, Ansicht und Wirkung werden in den folgenden Versen beschrieben (bläulich flimmernde Wirbelstriche als elektronischer Echtzeitreproduktion von Hochseeschwärmen v.72ff.)

v.71f das Auge … / … Gottes: Das Echolot wird zunächst gleichgesetzt mit dem Auge Gottes, es wird in rational-technischer Auffassung dargestellt als ‚mikrometerexakt‘ und ‚hochauflösend‘ und macht das Mythologem ‚Auge Gottes‘ damit überflüssig.

v.74f Beobachtung methodische Analyse / Transfer: Begriffe aus der Wissenschaftstheorie zur Beschreibung methodische Vorgehens bei der Auseinandersetzung mit der Realität

v.75 wie Explosionsladungen: Das in v. 74f erwähnte methodische Vorgehen gleicht der inzwischen verbotenen bzw. geächteten Dynamitfischerei.

v.76 Widerhaken: Neben den Angelhaken ist auch an die Geißelung Christi zu denken. Die Geißel hat an den Enden Knoten oder Gewichte aus Metall, die meist mit Widerhaken versehen sind, so dass sie die Haut des Gegeißelten stark verletzen.

v.76 extrapolieren: Begriff aus der Mathematik und Wissenschaftstheorie. Unter Extrapolation wird die Bestimmung eines (oft mathematischen) Verhaltens über den gesicherten Bereich hinaus verstanden.

v.75 mit blutgen Flossenrändern: Wiederaufnahme des Motivs der Wunden Christi (vgl. v.10 und v.44f)

v.77 Einhorndorsch
: Die Einhorndorsche sind die einzige Gattung innerhalb der gleichnamigen Familie der dorschartigen Fische. Es handelt sich dabei um kleine, an den Küsten tropischer und subtropischer Meere lebende Fische.

v.78 für mich an deinem Ende: der Opfertod Christi

v.79 umfängst: Tempuswechsel, in den vorhergehenden analogen Passagen wurde stets die Vergangenheit benutzt. Der Wechsel weist darauf hin, dass die Transzendenz sich wieder nähern könnte (vgl. dazu auch die letzte Passage des Gedichts).

v.79 der Jungfrau Schoß: In der christlichen Typologie steht das Einhorn, dass sich nur von einer keuschen Jungfrau fangen lässt, für die jungfräuliche Geburt Christi durch Maria. Bildliche Darstellungen verdeutlichen dies durch das Einhorn, das sein Horn in den Schoß Mariens legt.

v.80ff: vgl. Kommentar zu v.14ff

v.82 Vollfrostern: In der Hochseefischerei Name für ein Fabrikschiff, dass Fisch noch auf hoher See verarbeiten kann.

v.84 vgl. Kommentar zu v.18

v.85 der heilige Brendan: Brendan (* etwa 484, † 577; lateinisch: Brendanus, auch ‚Brendan der Reisende‘ genannt) war ein irischer Heiliger.Quelle für die Darstellung im Gedicht ist eine Legende, die im Buch „Ans Ende der Welt und darüber hinaus“ (Bernhard Kay, Ffm. 1990, Kap. 9, S.84ff.) erzählt wird. Diese Erzählung weicht von der eigentlichen „Navigatio Brendani“, einem mittelalterlichem Volksbuch, etwas ab. Hier ist im Gegensatz zu den Passagen v.19ff (morgenländisches Märchen) und v.52ff (antike Mythen) eine christliche Legende ausgewählt, um Antike, Orient und Okzident miteinander zu verbinden. Die Meerfahrt wird als ein Sinnbild für Transzendenzferne, die nach 40 Tagen durch das Erscheinen des Walfisches beendet wird, genutzt.

v.87 vierzigsten Tag: Der Prophet Jona, der von einem Walfisch verschlungen und gerettet wird, verkündet, dass nur noch vierzig Tage bis zur Zerstörung der Stadt Ninive bleiben. Christus bleibt vierzig Tage in der Wüste, von hier wird die Dauer der Fastenzeit (40 Tage vor Ostern) abgeleitet.

v.91ff: vgl. Kommentar zu v.18

v.93f: vgl. Kommentar zu v.60f

v.96 das Meer unter dir: Das lyrische Ich steht an der Steilküste des Meeres (vgl. Kommentar zu v. 32).

v.96ff bis hinab in die reine Tiefe: Beginn einer Vision, in der die Einheit von Transzendenz und Realität wieder hergestellt ist. Die Verbindung wird wieder aufgenommen, Nachrichten werden gehört, Strukturen verlaufen oben und unten parallel.

v.98 Feuerschiffe: Ein Feuerschiff ist ein bemanntes oder unbemanntes, an einer bestimmten Position vor Anker liegendes Wasserfahrzeug, das als Navigationshilfe für die Seeschifffahrt dient.

v.101 Rippelprofil: von einem fließenden Medium hervorgerufene annähernd parallele Strukturen im Sand

v.102ff: Die Passage beginnt mit einer zu den Versen 30 und 63 analogen Figur: Das lyrische Ich fordert sich auf, tiefer zu schaun. Es ist sich nach seiner Vision (s.o. zu v. 96ff) sicher, dass die Verbindung wiederhergestellt werden kann und will daher nicht pessimistisch in die Zukunft sehen (Grau / der Titanenasche in deinen Augen), sondern die Heraufkunft der Transzendenz mit anderen Sinnen wahrzunehmen (Gehör).

v.103 Titanenasche: Die Trauer um ein untergegangenes Göttergeschlecht soll nicht blind machen für die Ankunft eines neuen Göttertages.

v.103 überm leise tagenden Meer: Üblich wäre der tagende Morgen. Durch die Verschiebung gewinnt das Meer mythische Kraft, der neue Göttertag wird aus dem Meer als dem Medium der Wiedergeburt entstehen.

v.104f: Implizite Wiederaufnahme des Petrusbildes (s. Kommentar zum Titel). Zum ersten Mal erhalten die Kindergreise das Attribut heilig.

v.107 drei Fischkieferknochen in deinem Gehör: In der Evolution bilden sich aus den Kiemen der Fische letztlich die sechs Kiemenbögen der Wirbeltiere. Aus dem ersten Kiemenbogen entstehen große Teile des Gesichts, wie Oberkiefer, Unterkiefer und Gaumen sowie die Gehörknöchelchen Hammer und Amboss. Damit ist die symbolische Verbindung zwischen Mensch und Fisch (Christus) gegeben, über diese Verwandtschaft ist ein Neuer Anfang möglich. Dies ist Zeichen einer holistischen Weltauffassung.
 
 
Aspekte der Form:

Im gesamten Gedicht sind die Passagen, die vergangene Zeiten zitieren bzw. beschwören, durch Einrückungen gekennzeichnet.

Die 3 Gedichtteile bestehen im Original jeweils aus 35 Versen (der letzte Teil aus 35 + 2 Versen), dabei nimmt der Umfang der jeweils ersten Versgruppe um 2 Verse ab, die letzte Versgruppe nimmt jeweils um 2 Verse zu (s.a. Anmerkung zur Darstellung). Dies kann als Abnahme der abstrakten Vernunft und als Zunahme der Hoffnung auf die Wiederkehr der Transzendenz verstanden werden.

Die jeweils ersten Versgruppen bestehen aus Ellipsen und sind im Blocksatz gesetzt (s.a. Anmerkung zur Darstellung). Dies kann einerseits als Unvollständigkeit der Rationalität verstanden werden (Ellipse), andererseits als Normierung der Umwelt (Blocksatz) durch die Vernunft.

Die jeweils letzte Versgruppe ist kursiv gesetzt, um die Reflexion des lyrischen Ichs abzuheben; nur die zwei zusätzlichen Verse, die in der allerletzten Versgruppe eingefügt sind und das Kinderlied noch einmal zitieren, sind recte gesetzt.

v.5: Der Gedankenstrich am Ende des Verses teilt den Absatz in zwei gleich große Hälften, sodass zwei verschiedene Haltungen
zur Vernunft aneinander gefugt sind.

v.6 perfekteste Aporie: Contradictio in adjecto (Widerspruch durch das Adjektiv) die Aporie lässt sich nicht steigern.

v.10 (o Heilbutt so verwundet: Durch die unmittelbare Einfügung der Klammer in den Vers 10 wird das Hineinragen einer
archaischen Dimension in den technisch-rationalen Bereich versinnbildlicht ( so auch in Vers 43 und 76). Mit dem Ausruf ‚o‘
wird im Gegensatz zum vorhergehenden wissenschaftlich-rationalen Jargon der hohe pathetisch-ideelle Ton angeschlagen.

v.16f überraschenden / … Kurssprüngen: Der Einschub das war realistisch so nicht vorhersehbar gibt die Überraschung und
Unberechenbarkeit der Kursbewegungen syntaktisch wieder.

v.17 über: Die anaphorische Wiederholung und die Endstellung des über betonen den hypertroph-katastrophale
Entwicklungstendenz der Börse.

v.18 – nur ein paar Kindergreise: Analog zur Funktion der Klammer (s. zu v.10) verbindet und trennt hier der Gedankenstrich das
Gerede an der Börse mit einer Narration aus dem Bereich der Märchen.

v.31 quer –: Der Gedankenstrich setzt das Bild konkret um.

v.55: Der ö-, u- und ü-Klang formt in besonders auffälliger Weise den Mund zu einem Rund.

v.64/67 macht, / Pracht-: der einzige reine Reim des Gedichtes (als Hinweis auf die (vergangene) Herrlichkeit Christi).

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