Drei Ansichten vom Transhimalaya

Überblickskommentar

Das lyrische Ich der recte-Verse (in der Rolle eines westlichen (materialistischen) Touristen, der auch die Mythen seiner Reisewelt wohlwollend zur Kenntnis nimmt) zeigt einem angeredetem Du drei Fotos aus dem Transhimalaya (Kailash, Felsvertiefung=Fußabdruck, Tourist auf Felsvertiefung liegend). In den kursivierten Versen macht das Du Einwürfe aus quantenphysikalischer Sicht, die gleichzeitig als eine emotionale Erfahrung eines Bewusstseinsbruches verstanden werden können. Im Gedicht werden daher drei verschiedene Ansichten der Welt/Natur vorgeführt: Materialismus, Buddhismus und quantenphysikalische Sichtweise. Der vom Fotografierenden suggerierten Genauigkeit werden die Erkenntnisse der Quantenphysik und die Weltanschauung des Buddhismus entgegengesetzt. Beide führen zu der bestürzenden Erkenntnis, dass die sichtbare Materie nur Schein und ein Konstrukt unseres Bewusstseins ist. Das Gedicht selbst ist der Ort der Versöhnung mit dieser Weltsicht.
Für die Recte-Teile hat der Autor (u.a.) folgenden Reisebericht genutzt: Bruno Baumann: Kailash. Tibets heiliger Berg, München 2002.
 

Drei Ansichten vom Transhimalaya

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Stellenkommentar:
 
Titel: Der Transhimalaya ist eine Gebirgskette im südlichen Tibet, die sich weitgehend parallel zum Himalaya in Ost-West-Richtung erstreckt. Der westliche, niedrigere Teil der Gebirgskette wird als Gang Tise bezeichnet und erreicht seine höchste Erhebung im Ningchin Kangsha mit 7.223 m. Der bekannteste und markanteste Gipfel dieses Gebirges ist der für mehrere Religionen heilige Berg Kailash (s. v.1) mit 6.714 m. Es werden drei Ansichten der Realität dargestellt: 1) fotografisch-realistisch, 2) mythisch-religiös und 3) poetisch-quantenphysikalisch. Im Titel wird durch den Wortbestandteil Trans bereits auf die das rein Realistische überschreitende Ebene hingewiesen.

v.1 Da schau: Aufforderung, sich das erste Foto anzusehen. Daneben klingt aber auch die visionäre ‚Schau‘ und die platonische Wesensschau der Ideen an. Die beiden folgenden Fotos werden durch das hinweisende hier (v.6 und v.10) markiert. Der Autor nutzt im gesamten Gedicht Vokabeln aus dem Bereich der Fotografie: Ansichten, belichtet, unscharf, ungezoomt, farboptimiert, ‘hinsehen‘, hochaufgelöst, ‚festhalten‘.

v.1 sogar: Durch die umgangssprachlichen Floskeln (was für ein, verstehst du, logisch, echt, punktet, Wirklich genial, nicht wahr, so) charakterisiert der Autor den Touristen als jemanden, der den ‚Alltagsdiskurs’ selbstverständlich gebraucht.

v.1 manuell belichtet: Das manuell verweist auf Herstellungsprozesse, das belichtet auf die Fotografie, aber auch auf eine blitzartige Inspiration. Die Verbindung mit mein heiliger Kailash suggeriert die Vorstellung, das Heilige mit der Hand begreifen zu können.

v.1 mein heiliger: ironische Nutzung des Possessivpronomens

v.1 Kailash: Bekanntester Berg im Transhimalaya. Durch die besondere Form und Lage, die den Kailash als Berg Meru identifizieren, zählt er im Tibetischen Buddhismus und Hinduismus zu den bedeutendsten spirituellen Orten und gilt als heiligster Berg. Eine Umrundung des Berges auf einem ca. 53 km langen Weg, der bis in eine Höhe von ca. 5700 Metern führt, ist die wichtigste Pilgerreise für Anhänger dieser Religionen. Nach der 13. Umrundung des Kailashs bekommt der Pilger Zutritt zur inneren Umrundung. Ziel jedes Buddhisten ist es, den Kailash 108-mal zu umrunden. Wer dieses schafft, der erlangt nach buddhistischer Lehre die unmittelbare Erleuchtung. Der tibetische Kalender sieht zudem vor, dass in bestimmten Zeiträumen Umrundungen einen anderen Stellenwert haben, so zählt beispielsweise im Jahr des Pferdes jede Runde sechsfach.

v.1 Rand: Das letzte Wort des Verses, sozusagen sein Rand, Stellung und Wortbedeutung markieren einen Übergangsbereich und damit auch die Gefahr eines Absturzes. Aber auch durch die Verwandtschaft mit ‚rund‘ Anspielung auf die Umrundungen des Kailash. Gleichzeitig Vorausdeutung auf den abgrund- (v.3).

v.2 der betretbaren Welt: Der Kailash ist aus Rücksicht auf seine religiöse Bedeutung bisher unbestiegen. „Kein Ort ist wundervoller als dieser“ hat der Yogi Milarepa (1052–1135) gesagt, der der Überlieferung nach als der einzige bisherige Besteiger des Berges gilt. Geplante Besteigungen führten zu weltweiten Protesten verschiedener Religionsgruppen, die, unterstützt von berühmten Bergsteigern, eine Besteigung des Kailashs ablehnen. Auf der übertragenen Ebene ist mit der betretbaren Welt natürlich die Realität gemeint bzw. der Raum der klassischen Physik. Sowohl die Poesie als auch die Quantenphysik überschreiten ‚die betretbare Welt’.

v.2 firnmützigen: Als ‚Firn‘ bezeichnet man Schnee, der mindestens ein Jahr alt ist. Firn entsteht, wenn die feineren Schneekristalle durch wiederkehrendes Auftauen und Gefrieren zu größeren graupelartigen, körnigen Gebilden verschmelzen. Dabei wird aus acht Metern Neuschnee ungefähr ein Meter Firn.

v.2 sechseinhalbtausend: Der Kailash ist 6714 m hoch.

v.3 unscharf: Der Begriff verknüpft die Ebene der Fotografie über den Begriff ‚Unschärferelation’ mit der Ebene der Quantenphysik und deren ‚Ansicht’ der Welt.

v.3 ach: Der Ausruf markiert die ‚minimale Differenz’ (Badiou) zwischen Realität und deren Überschreitung. Vgl. damit auch die mitschwingende Enttäuschung im „ach“ des Faust (Goethe) und der Alkmene (Kleist).

v.3 deine hand zwischen wort und atem: hand nimmt das manuell (v.1) auf. So wie der Fotoapparat ein Instrument der Wirklichkeitswahrnehmung ist, so ist die Hand ein Instrument zum Begreifen der Welt. Zugrunde liegt das christliche Schöpfungsverständnis der Erschaffung der Welt durch das Wort einerseits und die Beseelung des von der Schöpferhand geformten Lehmklumpens durch den Geist/Atem andererseits. Zugleich wird mit hand, wort und atem auf eine poetologische Dimension verwiesen. In den drei Begriffen könnte man auch die Gliederung in Materie, Vernunft und Geist sehen.

v.3 als ob: Hier beginnt ein auffälliger Bruch der syntaktischen Kontinuität: es ist unklar, worauf das als ob zu beziehen ist. Diese Unklarheit weist auf die sich nicht bruchlos an die klassische Physik anschließende Quantentheorie hin.

v.3 aufleuchtend im abgrundgeflecht: Zum einen wird mit dem Bild einer Epiphanie das Aufleuchten der Transzendenz in der Materie, die aus der Sicht der Quantenphysik als abgrundgeflecht bezeichnet werden kann, dargestellt, zum anderen das Aufleuchten der Idee in der Sprache, die der Dichter festhalten muss. Unter Epiphanie versteht man die unvermutete Erscheinung oder Selbstoffenbarung einer Gottheit vor den Menschen. Gleichzeitig wird auf die Legende, in der der Yogi Milarepa (vgl. zu v.2) auf einem Lichtstrahl auf die Spitze des Kailash gelangte, angespielt. Ebenso stellte sich Einstein vor, auf einem Lichtstrahl zu reiten, als er über die Relativität von Zeit und Raum nachdachte.

v.3 jäh: Die Epiphanie ist eine Erscheinung in der Zeit, die in dem, dem eine Epiphanie widerfährt, einen Bruch mit seiner bisherigen Ansicht der Welt hervorruft.

v.4 Mordstrumm: ‚Trumm‘ ist die Einzahl des Wortes ‚Trümmer‘, von mhd. ‚drum‘ in der Bedeutung ‚Stück‘, ‚Ende‘. In Verbindung mit ‚Mords-‘: ein sehr großes Stück. Slangausdruck für ‚Phallus. Unüberhörbar der Anklang an ‚Monstrum‘.

v.4 Shiva-Lingam: Die Wissenschaft assoziiert den Shiva-Lingam gewöhnlich mit der männlichen Schöpferkraft des Hindu-Gottes Shiva und interpretiert ihn als Phallussymbol. Hier auch Hinweis auf die Schöpferkraft des Dichters (s. zu v.3). Allerdings ist unter Religionwissenschaftlern umstritten, ob hier nicht eher die Symbolik eines vor-hinduistischen Steinkultes hereinwirkt, der Lingam also nicht in erster Linie ein Phallus, sondern eben ein Stein ist (vgl. v.11f: sieht man nur hin, nichts / als Eis und Gestein). Shiva ist eine Form des Göttlichen im Hinduismus, sie verkörpert das Prinzip der Zerstörung (neben ‚Brahma‘, dem Prinzip der Schöpfung, und ‚Vishnu‘, dem Bewahrer).

v.4 Shunyata: Ein zentraler Begriff im Buddhismus, er bedeutet so viel wie Leere, Leerheit oder auch Substanzlosigkeit. Der Begriff Shunyata leitet sich unmittelbar aus der buddhistischen Lehre vom „Nicht-Selbst“ ab. Er verweist auf die Substanzlosigkeit aller Phänomene infolge ihrer Abhängigkeit von bedingenden Faktoren: ihrem bedingten Entstehen. „Leerheit“ ist somit eine Umschreibung für das Fehlen eines konstanten Seins, einer Eigennatur und eines beständigen Ich im steten Wandel der Existenz. Die Erscheinungen sind in ihrer Leerheit ohne eigenes Kennzeichen, ohne inhärente Eigenschaften und damit nicht mehr als nominalistische Begriffe einer nicht wesenhaften Welt zu verstehen. Die Welt ist keine Welt des Seins, sondern des ständigen Werdens, in dem es keine festen Substanzen und keine unumstößlichen Realitäten gibt (vgl. auch zu v.10f).

v.4f nur reines Außen / und stofflos, vollkommen im Leeren schwebend: s. zu v.4 Shunyata. Als ebenso stofflos und im Leeren schwebend kann die Materie im quantenphysikalischen Sinne angesehen werden. (s. dazu v.14 wie unanrührbar).

v.5 er: i.e. der Kailash

v.5 vor Zeiten: gemeint ist: früher, in der Vorzeit, aber auch vor Beginn der Zeit (quantentheoretisch beim Urknall)

v.6 fort mit dem Wind: Um die Quernarben an der Nordwand des Kailash rankt sich eine Sage: Diese Striemen entstanden durch Seile, welche böse Dämonen verwendeten, um den Berg nach Sri Lanka zu tragen. Buddha persönlich verhinderte dieses Vorhaben. Deshalb befinden sich der Legende nach auf dem Pilgerweg noch jede Menge Fußabdrücke Buddhas (Vertiefungen im Fels). Wind kann auch als Hinweis auf das religiöse Pneuma (s. zu v.3) verstanden werden.

v.7 echt ungezoomt: Die technischen Möglichkeiten des Fotoapartes werden nicht ausgeschöpft, es wird so getan, als ob dadurch die Aufnahme besondere Überzeugungskraft erhielte und die Realität unwiderlegbar wäre.

v.7 Fußstapfen: Gemeint ist ein Fußabdruck Buddhas (vgl. zu v.6 fort mit dem Wind). Dieser ist ein symbolisches Abbild des Buddha, der im Buddhismus für die Präsenz des Erhabenen steht. (Während der ersten Jahrhunderte nach dem Tode des Buddha wurde dieser nie als Person, sondern immer nur als Symbol dargestellt.)

v.7 yetibreit: Yeti, der Schneemensch, ein zweibeiniges, behaartes Fabelwesen des Himalaya, das in Europa insbesondere durch Fotos von Spuren im Schnee bekannt wurde.

v.8 der poren scheinwahr: i.e.: Die scheinbare Wahrheit der Poren: Immer präzisere Aufnahmen (‚Zoom’) scheinen ein immer genaueres Bild der Wirklichkeit wiederzugeben. Dass dies nicht möglich ist, zeigt die Unschärferelation, weil diese unseren Begriff einer festen Wirklichkeit auflöst. Daher kann scheinwahr auch als ‚wahrscheinlich‘ verstanden werden: an die Stelle des Wahrheitsbegriffs der klassischen Physik, der eine feste Wirklichkeit voraussetzt, tritt die Wahrscheinlichkeit der Quantenphysik.

v.8 die mir den lidschlag aussetzen: Bild für das bewegungslose Schauen (vgl. zu v.1), das philosophische Staunen

v.8 die stege dass du nicht grundlos: Der Autor sieht die Aufgabe des Gedichtes darin, denn durch den Zweifel an der Wirklichkeit geschaffenen Abgrund zu artikulieren und Wege aufzuzeigen, diesen Abgrund zu überbrücken. Gleichzeitig spielt grundlos mit der Verbindung zu ‚akausal’ auf den Kausalitätsbruch in der Quantenphysik an.

v.9 Buddhas Wachheit: Buddha (Sanskrit wörtlich „Erwachter“) bezeichnet im Buddhismus einen Menschen, der Bodhi (wörtlich „Erwachen“) erfahren hat. Darüber hinaus ist der Begriff die Bezeichnung für den historischen Buddha, Siddhartha Gautama, der mit seiner Lehre zum Stifter des Buddhismus wurde. Wachheit hier auch im Sinne von Wachsamkeit, Bewusstheit benutzt.

v.9 sie: i.e. Buddhas Wachheit

v.9. angepflockt: Nach der Legende hat Buddha den Kailash mit vier Nägeln (Felsbrocken) in der Erde verankert, um einen nochmaligen Raubversuch zu verhindern (s. zu v.6). Dies kann parallelisiert werden mit der Konstruktion der sichtbaren Materie durch das Bewusstsein.

v.9f wer mit acht Körperpunkten sich / drauflegt: Einige Pilger umrunden den Kailash, indem sie die gesamte Strecke mit ihrer Körperlänge ausmessen (der heilige Boden soll nicht nur mit den Füßen, sondern mit dem gesamten Körper berührt werden, der Kreis um den Berg soll so vollständig geschlossen werden). Dabei muss der Boden mit acht Punkten des Körpers (Knie, Bauch, Brust, Mund, Stirn und Hände) berührt werden. Diese Umrundungen gelten als besonders verdienstvoll.

v.10 farboptimiert: Begriff aus der Foto- und Drucktechnik. Zu bedenken ist weiterhin, dass die elektromagnetischen Wellenlängen des Lichts von unseren Augen als Farben interpretiert werden. In der Quantenphysik spricht man von den Farbladungen der Elementarteilchen.

v.10 Nirwana: Nirwana ist die Bezeichnung für das buddhistische Heilsziel, den Austritt aus dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten (Reinkarnationen) durch Erwachen (Bodhi). Das Wort bedeutet „Erlöschen“ (wörtlich „Ver-wehen“) und bezeichnet das Auslöschen aller mit der Vorstellung vom Dasein verbundenen Faktoren wie Ich-Sucht oder Gier.

v.11 Wirklich genial: Ironischer Hinweis auf die Überschätzung der Wirklichkeit durch das lyrische Ich

v.11 nicht wahr, … sieht man nur hin, nichts: Einverständnis mit der Floskel nicht wahr voraussetzend, wird das Sichtbare vom Redenden als einziger Maßstab für Wahrheit konstituiert. Dies wird vom Autor auf einer zweiten Ebene ironisch mit nicht wahr kommentiert. Wenn man nur hinsieht, sieht man das Wesentliche nicht, man sieht nichts. Das nichts am Versende macht die Leere sichtbar.

v.11 so Fabeln: Das lyrische Ich nimmt den Buddhismus nicht ernst, es klassifiziert ihn als Fabeln. Dabei übersieht es, dass seine Auffassung der Realität und der Materie auch eine ‚Fabel’ des Bewusstseins ist.

v.12 selbst hochaufgelöst: Hinter der fotografischen Bedeutung ist die ‚Auflösung‘ des Ichs, der Austritt aus dem Kreislauf des Lebens und der Wiedergeburten, zu hören. Ebenso wird auf die ‚Auflösung’ des gängigen Realitätsverständnisses durch die Quantenphysik angespielt.

v.12 doch zuletzt – : Offensichtlich hegt der Redenden Zweifel, dass seine (materialistische) Weltsicht zuletzt (als ‚letztes Argument‘ und ‚im Angesicht des Todes‘) Stand hält. Der Gedanken-Strich und der folgende, fehlende Vers verweisen auf die Leere als wesentlichen Bestandteil der Wirklichkeit. Mit dem folgenden aufgerissen (v.14) und dem Reimwort jetzt (v.14) kann an Rilkes „Sonette an Orpheus“ gedacht werden: „Dort singst du noch jetzt. / O du verlorener Gott! Du unendliche Spur! / Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft / verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.“ (XXVI, v.11-14). (Vgl. auch zu v.14 raum).

v.13: Der fehlende Vers kann als Zeichen für das Nirwana verstanden werden, ebenso auch als Leere, als größter Bestandteil der subatomaren Welt. Zum fehlenden Reim s. Aspekte der Form.

v.14 aufgerissen: Der Begriff spielt auf die Forschungsmethoden der modernen Naturwissenschaften an, die nicht an der Oberfläche der Dinge halt machen, sondern in die Materie eindringen und sie aufreißen, damit sie ihr Geheimnis zu preisgibt.

v.14 wenn meine augen sie fest nicht hielten: In der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik ist unsere Wirklichkeit nur ein Konstrukt des bewussten Beobachters. Die Quantenphysik geht von einer paradoxen Überlagerung von Welle und Teilchen aus und macht eine andere, bestürzende Wirklichkeitsansicht notwendig. Mit dem ‚Festhalten’ könnte weiterhin gemeint sein, dass der Dichter die Teilchen der Wirklichkeit in einem Gedicht so zusammenschaut, dass die normale Ansicht der Welt zu einer vollständigeren Wahrheit ergänzt wird. Damit wird das ‚Schauen’ des ersten Verses wieder aufgenommen.

v.14 raum wärst: Hinzuzudenken ist das dass du aus v.8. Damit werden die quantenphysikalischen Erkenntnisse auf eine konkrete Gestalt, das Gegenüber im Gedicht, angewendet. Diese Gestalt wird mit dem folgendem unanrührbar wieder aufgelöst und damit parallelisiert mit dem Verschwinden des Shiva-Lingam (v.4-6). So wie der Sänger Orpheus in Rilkes Sonetten einen neuen Raum im Ohr der Hörenden schafft, so wird in den kursiven Versen des Gedichtes ein neuer Raum denkbar, dessen momentane ‚Unanrührbarkeit’ an das vormals Heilige angrenzt. Dagegen wird der traditionelle Raum- und Wirklichkeitsbegriff in den recte-Versen in Frage gestellt. Durch die Parallele von raum … unanrührbar zu Rand / der betretbaren Welt (v.1f) wird das Gedicht gerundet und zum Ort der Versöhnung.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht ist ein Sonett, in dem der 13. Vers (s.a. zu v.13) fehlt. Dies entspricht den 13 Umrundungen des Kailash.

Reimvokale der Endreime: a/au/a/au//ei/e/ei/e//i/a/i//e/x/e, wobei die scheinbar fehlenden Reime in v.3 und v.8 Binnenreime sind, dafür aber reine Reime (Rand (v.1) / hand (v.3), Wege (v.6) / stege (8)). Das Schlusspaar (zuletzt (v.12) / jetzt (v.14)) umrahmt als traditioneller reiner Schlussreim den fehlenden 13.Vers des Sonetts; pointiert fehlt also der Reim auf Nirwana (v.10), das Nichts reimt auf nichts. Die Reime der kursivierten Versen tauchen an überraschenden Stellen auf, entsprechend den Teilchen in der Quantenphysik.

Die unzusammenhängende Syntax und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, ein rationales Kontinuum herzustellen, entsprechen den quantenpysikalischen Erkenntnissen über unsere Wirklichkeit.

Die Kleinschreibung in der Kursive symbolisiert die Gleichwertigkeit aller Teilchen in der Quantenphysik.

Die Brechung der Verse 5 und 9 verdeutlichen zunächst das ‚Schweben’ und das ‚Anpflocken’, auf der übertragenen Ebene aber den Bruch mit der Realitätsvorstellung.

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