Ad fontem

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht beginnt mit einer Fahrt zu den Quellen, die alle ins Meer fließen. Dort betrachtet das lyrische Ich Zeichen des Himmels, der Transzendenz, und lässt Unbewusstes wieder auftauchen. Der dabei auftretende Schmerz (das Salz) bringt die Verarbeitung im Gedicht hervor (Bildebene des Synchronsprechers zu einem alten Film). Das lyrische Ich erinnert sich an seine Kindheit, die von der Angst vor dem Verlust des Bergenden überschattet war (v.11-14). Danach wird die Bildebene des Synchronsprechers wieder aufgenommen, der mit dem Gedicht versucht, die Verbindung zur Transzendenz zu rekonstruieren. Schließlich wird der Leser aufgefordert, zu bezeugen, das ohne an Träume der Kindheit und Jugend anzuknüpfen (Ad fontem) kein Aufsteigen der Transzendenz möglich ist.

Ad fontem


 
Bei mond
Sie behalten das bitte für sich
denn
mitunter
Fahr ich ans
meer
nachts wenn
am himmel die schrift

Mit dem göttercode zuckt und
meerwunder

Sind es vielleicht die auftauchend den
zauber der tiefe

 
5Aufriegeln
oder es ist bloß salz
das mir
endlich

Hautnah
mir
die
sehen Sie selbst
autonome
Traumfigur schenkt
eines topmoderators
der
einspricht

Ausgefallene szenen
einspricht in einen vollkommen
 
Vergilbten film
ich der einzige

10Der ihn noch kennt kassenschlager aus meinen
kindertagen

Als schulterhoch noch der mondhund nachtlang
Wacht stand über der weltangst
 
Die im haar sich verfing den nacken
Fledermausflügend hinab dass mein schreien – –
15
Aufnahmekabine kopfhörer mikrophon
so sorg ich halt
Wort besorg ich für wort
dass nie mehr das original-
 
Zelluloid rekonstruiert werden kann so schön
Träumt es sich nur
Sie selbst jetzt mein zeuge

In
Blue Jeans moonwashed
natürlich sonst kann überhaupt kein
20
Sehtüchtiger augenstern steigen

 
 
Stellenkommentar:

Titel: lat. („Zur Quelle“). Das Zitat verweist darauf, dass das Latein als Sprache der Kirche am Ursprung der abendländischen Kultur steht. ‚Ad fontes‘ („Zu den Quellen“) war ein Motto der Humanisten in der Frühen Neuzeit, die damit eine Rückbesinnung auf die Originaltexte forderten.

v.1 Bei mond: Verkürzung für ‚bei Mondschein‘, also nachts (v.2). Die adverbiale Bestimmung wird syntaktisch nicht fortgeführt, semantisch aber in mondhund (v.11) und moonwashed (v.19) wiederaufgenommen.

v.1 Sie behalten das bitte für sich: Das angesprochene Gegenüber wird zum Komplizen eines Geheimnisses gemacht. Da das Geheimnis im Folgenden scheinbar enthüllt wird, ist die Aufforderung ironisch zu verstehen.

v.1 denn: Die begründende Konjunktion erzeugt hier eine Scheinrationalität. Statt anzugeben, warum etwas nicht weitererzählt werden soll, wird eine Fahrt ans Meer als Grund genannt.

v.2 meer: Das lyrische Ich fährt nicht etwa zu einer Quelle, wie der Gedichttitel nahelegt, sondern ans Ziel aller Quellen, das Meer. Das verbindende Element Wasser ist als Symbol des Unbewussten zu verstehen.

v.2f wenn am himmel die schrift / Mit dem göttercode zuckt: Aus den Blitzen eines Gewitters scheint das Ich die Offenbarung der Transzendenz lesen zu wollen.

v.3 meerwunder: Die Verbindung zur Transzendenz wird vom lyrischen Ich nicht nur am Himmel gesucht (vgl. zu v.2f), sondern sie taucht auch aus dem Unbewussten auf, aus dem Meer als Bereich mythologischer Gestalten.

v.4f den zauber der tiefe // Aufriegeln: Das Unbewusste wird verglichen mit einem Schrein, der etwas Transzendentes enthält und geöffnet werden kann.

v.5 oder es ist bloß salz: Die Konjunktion oder und das adverbiale Attribut bloß scheinen zu signalisieren, dass der transzendente Anteil des Unbewussten (zauber der tiefe) in Frage gestellt wird. Dann wäre das Salz das Substrat des Meeres und entspräche der entmythologisierten Auffassung moderner Rationalität. Dem gegenüber kann Salz aber auch als ein lebensnotwendiges Element verstanden werden, wie die Bibelstelle „Ihr seid das Salz der Erde“ (Matth. 5,13) zeigt, in der Christus seine Jünger anredet. Eine dritte Möglichkeit wäre, an das ‚Salz der Tränen‘ als Symbol für Schmerz zu denken.

v.5 endlich: endlich kann sowohl als zeitliche Bestimmung (‚langerwartet‘) als auch als örtliche Bestimmung (in der Endlichkeit, im Diesseits) verstanden werden.

v.6 Hautnah: Zusammenziehung aus ‚Das geht unter die Haut‘ und ‚Das geht mir nahe‘, beides auf schmerzliche Ereignisse bezogen.

v.6 mir: Die Wiederholung des Pronomens (v.5 und v.6) betont die Ausnahmestellung des lyrischen Ichs und rückt es in die Tradition der Dichter-Priesters.

v.6 sehen Sie selbst: Anknüpfung an die Anrede in v.1 (vgl. auch zu v.18)

v.6f autonome / Traumfigur schenkt: Das Geschenk, das das lyrische Ich vom Salz erhält, kann als Gedicht gesehen werden, das ‚autonom‘ ist, wenn es sich von der Immanenz (Welt) gelöst hat. Der Ursprung des Gedichtes wird hier im Nicht-Rationalen, in der Intuition oder im Traum– (vgl. auch v.18) angesiedelt. Der übliche Gebrauch von Traumfigur (90-60-90) klingt hier nur ironisch an.

v.7 eines Topmoderators: Genetivattribut zu Traumfigur. Der Dichter vermittelt (‚moderiert‘) mit seinem Gedicht zwischen dem Oben (dem Top-, der Transzendenz) und der Welt. Der Auftritt des Dichters als ‚mediales Ereignis‘ bricht den hohen Anspruch, der mit der Figur des Dichter-Priesters verknüpft ist. [Marthaler lässt grüßen!]

v.7f der einspricht / … einspricht: Auf der konkreten Ebene wird ein Text auf ein Medium gesprochen, man kann auch an die Synchronisierung eines Filmes denken. Auf der übertragenen Ebene ’spricht das lyrische Ich das Gedicht in den Leser ein‘, d.h. es hofft darauf, dass seine Botschaft ankommt. Die Doppelung des einspricht korrespondiert mit der Doppelung des mir (v.5 und v.6). Zugleich erinnert die Formulierung an den ‚Einspruch‘ vor Gericht und könnte damit meinen, dass das lyrische Ich ‚Einspruch‘ gegen die Dominanz des rein Weltlichen einlegt.

v.8 Ausgefallene Szenen: Einerseits sind solche Szenen gemeint, die zwar gedreht wurden, aus dem endgültigen Filmfassung aber herausgeschnitten worden sind. Andererseits können es auch ganz besondere, extravagante Szenen sein. Im übertragenen Sinne sind es die Bereiche des Weltverständnisses, die in der heutigen Realitätsauffassung ausgeblendet werden. Diese Szenen werden in das Gedicht ‚eingesprochen‘.

v.8f in einen vollkommen / Vergilbten Film: Der Zeilenumbruch gibt dem vollkommen eine doppelte Bedeutung. Einerseits verstärkt es das ‚Vergilbt‘, andererseits evoziert es eine ehemalige ‚Vollkommenheit‘, die nicht mehr vorhandene Verbindung von Immanenz und Transzendenz. Die Filmmetapher zeigt, dass die Wirklichkeit heute medial vermittelt ist.

v.9f ich der einzige / Der ihn noch kennt: In der Tradition ist der Dichter-Priester (vgl. zu v.6 und zu v.7) derjenige, der einen privilegierten Zugang zur Transzendenz hat.

v.10 kindertagen: In der Vorstellung des zyklischen Ablauf der Geschichte wird den jungen Kulturen eine besondere Nähe zur Transzendenz zugeschrieben. Dies gilt auch in Bezug auf die Jugend des Individuums.

v.11-14: Die Kindheit wird charakterisiert durch Dunkelheit (nachtlang) und Angst. Das Kind empfindet sich zwar als bewacht (durch den mondhund), die Angst lässt es aber dennoch schreien. Der schulterhohe mondhund und die sich im Haar verfangende Fledermaus, die eine Gänsehaut verursacht, könnten aus einem Horrorfilm der 50er Jahre stammen. Dazu im Kontrast steht der hohe lyrische Ton dieser Verse, der z.B. an Huchel erinnert. Zentral ist hier der Begriff der weltangst, die als Angst vor dem Verlust des Bergenden (der Eltern, der Transzendenz) verstanden werden kann. Die weltangst lässt das Kind schreien (den Autor aber auch schreiben).

v.15 Aufnahmekabine kopfhörer mikrophon: Das Gedicht kehrt zum Bildbereich eines Synchronsprechers zurück (vgl. zu v.7f).

v.15f so sorg ich halt / Wort besorg ich für wort: Hier wird ’sorgen‘ in zwei Bedeutungen gebraucht: ‚Sorge tragen für etwas‘ und ‚besorgt sein um etwas‘. Einerseits ’sorgt‘ der Dichter Wort für Wort für das Gedicht, andererseits ist er ‚besorgt‘, dass der alte Film (die Transzendenz, vgl. zu v.8f) nicht wiederhergestellt werden kann.

v.17ff so schön / Träumt es sich nur … / In Blue Jeans moonwashed: Das in den 60er Jahren für die Jugendlichen typisch werdende Kleidungsstück, die Blue Jeans, zeigt, dass das lyrische Ich den kindertagen entwachsen ist und die Adoleszenz erreicht hat. Als Jugendlicher träumt es weiterhin von der Transzendenz (moonwashed, abgewandelt von ’stonewashed‘). Implizit drückt der elegische Ton der Verse die Trauer eines Erwachsenen über den Verlust der Transzendenz aus.

v.18 Sie selbst jetzt mein Zeuge: Dritte Anrede des Lesers (vgl. zu v.1 und v.6). Der Leser soll nicht nur Komplize sein, sondern er soll auch genau lesen (sehen Sie selbst) und den Sinn durch Zeugnis beglaubigen.

v.19f sonst kann … / … steigen: Wenn die Verbindung, die in der Kindheit und in der Jugend zum Himmel bestand, nicht aufrecht erhalten wird, kann die Transzendenz vom Erwachsenen nicht wahrgenommen werden. Das Adjektiv ’sehtüchtig‘ bezieht sich auf die Wahrnehmung, nimmt mit ’seetüchtig‘ aber auch die Metapher des Meeres (vgl. zu v.2) auf. Der ’steigende‘ augenstern bezieht sich ebenfalls nicht nur auf das Auge als Wahrnehmungsorgan, sondern auch auf den aufgehenden Abendstern, ein traditionelles Symbol der Transzendenz.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht hat die Form eines Sonetts mit 6 zusätzlichen Versen. Die Doppelstriche (- -) v.14 markieren das Ende des Sonetts. Das Reimschema ist sonett-typisch: a / b / a / b // c / d / c / d // e / f / g / g // f / e. Die restliche Verse reimen a / a // b / c / b / c.

v.11f: Diese beiden Verse sind durch gehäuften Hebungsprall gekennzeichnet (mondhund, nachtlang, Wacht stand und Weltangst).

v.14 – – : Die Öffnung zwischen den beiden Gedankenstrichen wirkt wie ein schreiender Mund.

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