Sensorisch

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der Wunsch nach Erlösung aus der Immanenz in die Transzendenz
 
Dargestellt wird, wie ein moderner Mensch (Salzpflanze und Halbfisch) seine Situation zwischen Immanenz und Transzendenz empfindet (VG 1 und 2) und welche Hoffnung auf die Transzendenz für ihn noch wahrnehmbar ist (VG 3). Das Leiden in der Immanenz beschreiben die kursiven Verse 6 und 12, den Wunsch nach der Transzendenz die Kursiva 18 und 19.
 
 

SENSORISCH

 
Salzpflanze
wie sie
verzweifelt

Sich hält − prekärer
Nahpunkt

Im Wahrheitsmodell
vermessenem
5Von Wirbeln und Dispersionsräumen
 
Last − und der Nacken blutwund −

 
In strömendem Endlosmedium

Glasig
starr
Halbfisch: Momentgewebe
10
Unter
der senkrechten Kälte
Des Mondsichelsiegels
 
Last − und der Kopf nicht zu drehn −

 
Wenn aber
der Radkranz
Wenn er erlischt als Nabenreflex
15Um einen Leitstrahl Nichts
Windrose
− zahllos entfaltet
Staunendes Atemblühn
 
Last − wär wie Früchte sie rund

Die ganz aus Goldlicht bestehn!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: SENSORISCH ist abgeleitet von lat. sentire ‚fühlen‘, ‚empfinden‘, ‚wahrnehmen‘, ‚geistig erfassen‘ und wird heute auf die Gesamtheit der Sinneswahrnehmungen bezogen.
 
v.1 Salzpflanze: Salzpflanzen besiedeln salzreiche Standorte, häufig in Meeresnähe und an Salzseen. Hier sind vermutlich die Menschen gemeint, auf die sich Christus in der Bergpredigt mit Matth.5,13 „Ihr seid das Salz der Erde“ bezieht. Das Salz symbolisiert hier dann den transzendenten Anteil des Menschen.
 
v.1f verzweifelt / Sich hält: Auf der Realebene scheint es so zu sein, dass die Salzpflanze – obwohl sie in Wassernähe gedeiht – des festen Bodens bedarf. Im übertragenen Sinne ist der Mensch, aus dem Meer (i.e. der Transzendenz) stammend, in der festen Materie so verhaftet, dass er Gefahr läuft zu verzweifeln.
 
v.2f prekärer / Nahpunkt: Das Adjektiv prekär hat die Bedeutung ‚unsicher, weil widerruflich; gefährdet‘. In der Optik ist der Nahpunkt die minimale Sehweite und markiert die Grenze, ab der etwas identifiziert werden kann. Im Alter verschiebt sich der Nahpunkt in die Ferne, sodass der Mensch dann weitsichtig wird. Diese sprachliche Paradox wird zur Parabel über die Beziehung des Menschen zur Transzendenz!
 
v.4f: Der alte Absolutheitsanspruch von ‚Wahrheit‘ wird durch das ‚Modell‘ der Rationalität neu ‚vermessen‘ und führt zur Entfernung von der Transzendenz, zu ‚Vermessenheit‘ und zu einem ‚leeren Himmel‘, in dessen Räumen sich zertreute Sterne (Dispersionsräume) zu galaktischen Wirbeln formen.
 
v.6: Das zu Grunde liegende Bild ist das eines Menschen, der eine Last auf dem Nacken trägt. Mythologisches Vorbild dafür ist der das Himmelsgewölbe tragende Titan Atlas.
 
v.7: So wie das Meer in v.1f als Metapher für die Transzendenz der Salzpflanze zu verstehen ist, ist hier der endlose (ewige) Strom ebenfalls als Metapher für die Transzendenz zu verstehen, als das medium, in dem der Halbfisch steht.
 
v.8ff: Der Mensch wird hier als ‚Zwienatur‘ verstanden, bestehend aus einem materiellen (vergänglichem Momentgewebe) und einem geistigen Anteil. Der zweite Teil des Kompositums Halbfisch verweist auf Christus. Der menschliche Teil wird durch starr beschrieben, der transzendete Teil durch Glasig im Sinne von transparent für das Geistige.
 
v.10f: Der Mensch (als vergängliches Momentgewebe) steht unter der Herrschaft (siegel) der Kälte, der Nacht und des Todes (Mondsichel).
 
v.12: Die Last, die den Mensch daran hindert, eine andere Blickrichtung einzunehmen, ist das vergängliche Materielle.
 
v.13ff: Mit dem Radkranz wird angespielt auf die buddhistische Lehre vom Rad der Begierden und Wiedergeburten. Ziel im Buddhismus ist aus diesem Kreislauf auszutreten und ins Nichts überzugehen. Dann ist die Erlösung (Moksha) erreicht. Die treibenden Kräfte in der Nabe des Rades sind Hass, Begierde und Ignoranz. Der Weg zur Transzendenz wird durch den Leitstrahl Nichts gewiesen.
 
v.16f: Wenn das Rad des Lebens erlischt, zeigt sich die Windrose. Der Wind dient als Symbol für das göttliche Pneuma bzw. den Heiligen Geist, die Rose spielt auf Maria an. zahllos bildet den Gegenpol zur ‚Vermessenheit‘ der Rationalität (vgl. zu v.4f). Man wird an Rilkes Gedicht „Rose, du thronende …“ erinnert, das die Rose als „volle zahlose Blume“ rühmt (Sonette an Orpheus, 2. Teil, Sonett VI). Das ’staunende Atemblühn‘, das die Windrose entfaltet, ereignet sich im Gedicht als Ort, der die Transzendenz beschwört. Auch hier kann man an ein Sonett Rilkes denken: „Atmen, du unsichtbares Gedicht“ (Sonette an Orpheus, 2. Teil, Sonett I).
 
v.18f: Das lyrische Ich wünscht sich, dass sich die Last, die es wie Atlas trägt, in die Früchte des Paradieses verwandeln, die ganz aus dem Licht Gottes, der goldenen Sonne, bestehen. Damit wünscht es sich in seinen Ursprung, in die Transzendenz zurück.