Grundgewebe

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der Mensch erhebt sich mit seiner Ratio sowohl über seine Lebensgrundlage, die Natur, als auch über seine Herkunft aus dem Meer (i.e. der Transzendenz). Wünschenswert wäre aber ein Mensch, der Ratio (Wahrheit v.20) und Transzendenz (Wunder v. 21) verbindet.
 
In der 1.VG wird die ökologische Weltanschauung mit einem der Natur entfremdeten Blick auf einen Kleingarten ironisiert. Diese als Kleinscheiß bezeichnete Natur wird in der 2.VG mit der ’spinnerten‘ Physik der Elementarteilchen und dem sog. Paulischen Ausschließungsprinzip verbunden. Die 3.VG parallelisert den Makrokosmos mit dem Mikrokosmos des Gehirns. Das rationale Netz des Hirns kann aber die Naturkräfte, symbolisiert durch den Regenbogen, nicht einfangen (VG 4), daher wünscht sich das lyrische Ich die Transformation in eine göttliche Gestalt, die Wahrheit und Wunder enthalten kann (VG 5). In den VG 6 und 7 werden die Ruderer der mythischen Argo mit den in der Materie und der Arbeitswelt gefangenen Menschen verglichen. Dagegen wird in VG 8 an die Herkunft der Menschen aus dem Meer erinnert. Ebenso wie die über ihre Herkunft hinweg rudernden Argonauten erheben sich in der letzten Versgruppe (VG 9) die modernen Touristen in ihrem Flugzeugen zu den untergehenden Malediven über Wälder und andere Menschen und klassifizieren Natur und Gesellschaft nur noch als winz- / Und witziger.
 
 

GRUNDGEWEBE

 
Zerbrechlichkeiten
von Kröten
Ach ja und das Nacktschneckenschadbild
In Furchen aus Frühlingsgewürm
Kniefällig
hätten wir es zu hofieren
5
Auch Kornblumenblau
wie man hört

Und fuffifilmmäßig
minnigen

Mohnwarumschon als ökogetürkten
 
Kleinscheiß aus Schöpferhänden
Halbzahlig wohl gar
wie die spinnenden

10Winzlinge deren Gesetz
UNMÖGLICHER GLEICHZUSTÄNDE
 
Das kosmische Fundament
Bzw. eines der
ZEREBRALNETZE

Ist es in denen
Fischiges

15Greifbar sich fängt
 
Nicht aber das Wasser
Selbst wie es
über die Gischt

Emporschwebend im
Glastblüten-

Bogen sich
aufhebt
dass

 
20
Wahrheit ich sei
und

Wunder Python
In Federpracht Lichtleib aus Schlange
Und buntem Paradiesvogel gemacht und
 
Frei über der
Fleischkörperfalle

25Der
Symplegaden

Nicht sichtbar natürlich
wenn einer

EINSKOMMAFÜNFMILLIONENMAL

 
Laut zählt von
Jolkos

Rückengekrümmt kein
30
Wechselhall-Sinnsignal
hörend

Bis
zum barbarischen Kolchis

 
Der schmeckt
ruderwund nie

Im Salz seines Bluts gebärende
Salzfluten eines erspürten
35Vorzeitmeers dem er entstieg
 
Wenngleich
viel weniger
straight

Als wir jetzt die von der vierten
Startbahn die Malediven direkt
Und lassen die Nutzholzbezirke
40Und ameisenwuselnden Wohnplätze
Cool unter uns lassen wir die immer winz-
Und witziger werden
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: In der Biologie ist ein Grundgewebe ein Ansammlung von Zellen, die eine ähnliche Funktion haben und gemeinsame Aufgaben erfüllen. (Zum Grundgewebe bei Tieren gehört z.B. das Muskelgewebe.) Im Gedicht ist der Begriff auf die Natur (die Lebensgrundlage der Menschen) und das Meer (den Ursprungsort aller Wesen) bezogen.
 
v.1ff Zerbrechlichkeiten … / … Frühlingsgewürm: Die Natur wird hier aus der Perspektive der ihr entfremdeten Menschen gezeigt. Zerbrechlichkeiten sind eigentlich auf Dinge, nicht auf Lebendiges wie Kröten zu beziehen, hier träfe eher ‚Verletzbarkeit‘ zu. Nacktschnecken werden nur als Schädlinge wahrgenommen, und der Frühling (und das neue Leben) wird durch den pejorativen Zusatz ‚Gewürm‚ abgewertet.
 
v.4: Aus der Perspektive des der Natur entfremdeten Menschen: Ironisierung einer ökologischen Weltanschauung, die einem Schöpfergott wie einem König Kniefällig Ehrfurcht zu zollen hätte (hofieren).
 
v.5ff: Kornblumenblau ist ein Karnevalslied, gesungen von Willy Schneider (1937) und Mohnwarumschon ist eine verkürzte Zeile aus dem Lied „Roter Mohn, warum welkst du denn schon?“ (gesungen von Rosita Serrano in dem Film „Schwarzfahrt ins Glück“ 1938). Beide Lieder waren noch in der 50er Jahren (fuffi) populär. Diese Verkitschung der Kunst entspricht der Adornoschen Analyse des Verblendungszusammenhangs, der von der auf reines Entertainment angelegten Kulturindustrie ausgeht. In den Liedern überlagern sich die Verkitschung der Blauen Blume der Romantik und des für das Gedächtnis stehenden Mohns (Celan) mit der Kritik an der ökologischen Bewegung (ökogetürkten) und deren Vorstellung, dass Kröten, Nacktschnecken, Würmer, Kornblumen und Mohn aus Schöpferhänden hervorgehen.
 
v.6 minnigen: ‚Minne‘ ist ursprünglich ein mittelalterlicher Begriff für ein höfisches Liebeskonzept. Die verniedlichende Benutzung des Begriffs für einen Schlager in den 50er Jahren ist nach Adornos Auffassung ‚obszön‘ (‚Obszönität‘ brandmarkt den unter reinem Profitstreben missbrauchten Wert z.B. eines historischen Kulturguts).
 
v.9ff: Angespielt wird auf die Physik der Elementarteilchen (Winzlinge), die das kosmische Fundament bilden. Der Physiker Wolfgang Pauli entdeckte, dass in einem Atom keine zwei Elektronen in allen Quantenzahlen übereinstimmen können. Eine der Quantenzahlen ist der Spin (die spinnenden / Winzlinge) eines Elektrons, der nur 0, 1/2 (Halbzahlig) oder 1 betragen kann. Das Gesetz / UNMÖGLICHER GLEICHZUSTÄNDE ist eine Umschreibung des sogenannte Paulischen Ausschließungsprinzips. Mitzuhören ist eine Kritik an der Quantenphysik, die unsere Anschauungsfähigkeit überschreitet und die deswegen als ’spinnert‘ bezeichnet wird.
 
v.13 ZEREBRALNETZE: Der Makrokosmos, das kosmische Fundament, wird hier mit dem Mikrokosmos eines einzelnen Hirns (lat. cerebrum = Hirn) verknüpft. Die spinnenden / Winzlinge (v.9f) verknüpfen sich assoziativ mit dem ZEREBRALNETZ zu den ‚Spinnen‘ in Kleingärten (v.1ff).
 
v.14ff Fischiges: Mit Fischiges und -NETZE wird hier auf die Einsetzung von Petrus als Menschenfischer angespielt. Das Bild vom Netz, in dem etwas eingefangen wird, dient als Modell für die menschliche Erkenntnis des Makro- und Mikrokosmos, in der die Rationalität (Greifbar) dominiert und das Unbewusste ausgeschlossen ist (Nicht aber das Wasser). Zugleich wird das traditionelle Symbol für Christus als Fisch und damit ein Beispiel für eine Religion aufgerufen, in der die Natur, die die Menschen umgibt, nicht berücksichtigt wird (Nicht aber das Wasser).
 
v.17f über die Gischt / Emporschwebend: Gedacht werden kann hier an die Gischt, die z.B. über einem Wasserfall emporsteigt und in der sich bei entsprechenden Sonnenstand ein Regenbogen (Glastblüten-/Bogen) zeigt. Dieses Bild benutzt Goethe in Faust II (v.4715ff), um zu zeigen, dass das Göttliche nicht direkt, sondern nur als Abglanz wahrgenommen werden kann („Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ Faust II v.4728).
 
v.18f Glastblüten-/Bogen: Glast mhd. = Glanz. Die Verbindung des Regenbogens mit Blüten lässt ebenfalls an den Beginn von Faust II denken, dessen ersten Verse die wiederbelebende Kraft der Natur(geister) preisen: „Wenn der Blüten Frühlingsregen / Über alle schwebend sinkt / … / Kleiner Elfen Geistergröße / Eilet, wo sie helfen kann“ (v.4613ff).
 
v.19 aufhebt: Einerseits das ‚Emporheben‘, anderseits das ‚Aufbewahren‘ im Sinne Hegels.
 
v.20ff: Das lyrische Ich wünscht sich eine Transformation in eine göttliche Gestalt, die z.B. bei den Azteken, Tolteken und Maya als Gottheit Quetzalcoatl (die ‚leuchtende Schwanzfederschlange‘) verehrte wurde. Eine solche Gottheit würde in sich die Gegensätze von Wahrheit (Rationalität) und Wunder (Irrationalität), von Schlange (Python) und (Paradies)-Vogel vereinen.
 
v.24 Fleischkörperfalle: Das lyrische Ich setzt seinen Wunsch aus den vorhergehenden Versen fort: es wünscht sich, nicht im Fleische, in der Materie gefangen zu sein.
 
v.25 Symplegaden: Symplegaden (gr. ‚die Zusammenschlagenden‘) sind gemäß der Argonautensage zwei mythologische Felsen, die zusammenschlagen und so Schiffe, die versuchen durch diese Meerenge zu fahren, versenken. Den Argonauten gelingt mit dem Beistand Athenes die Durchfahrt.
 
v.26 Nicht sichbar natürlich: Für einen in der Fleischkörperfalle Gefangenen, wie den in den folgenden Versen beschriebenen Ruderer in der Argo, ist die beschworene Gottheit der 5. Versgruppe nicht sichtbar.
 
v.27 EINSKOMMAFÜNFMILLIONENMAL: Die Anzahl der Ruderschläge der Argonauten von Jolkos (v.28) bis Kolchis (v.31). Die ungeheure Anzahl der Laut gezählten Ruderschläge spiegelt sich in Rückengekrümmt (v.29) und ruderwund (v.32) wider.
 
v.28 Jolkos: Von Jolkos aus soll der Legende nach Iason mit den Argonauten aufgebrochen sein, um das Goldene Vlies zu rauben.
 
v.29f kein / Wechselhall-Sinnsignal hörend: ‚Wechselhall‘ ist ein alter Begriff für ‚Widerhall‘, ‚Echo‘. Gemeint ist der ‚Echoraum‘, die Immanenz, in der ein Sinnsignal aus der Transzendenz wahrgenommen werden könnte, das aber unter den geschilderten Bedingungen (Rückengekrümmt (v.29) und ruderwund (v.31) nicht gehört wird.
 
v.31 zum barbarischen Kolchis: Kolchis ist die Heimat der Medea und das Ziel der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies. ‚Barbar‘ war die ursprüngliche Bezeichnung im antiken Griechenland für alle diejenigen, die nicht (oder schlecht) Griechisch und damit unverständlich sprachen.
 
v.32ff: Der moderne Mensch (nicht mehr Ruder-, aber Lohnsklave) hat keinen Bezug zu seiner evolutionären Herkunft aus dem (Vorzeit-)Meer (Salzfluten (v.34)).
 
v.36 straight: dt. ‚gerade‘. Hier am passendsten ‚zielorientiert‘.
 
v.36ff: Während in der 4.VG das ‚Emporschweben‘ (v.18) eines Regenbogens (vgl. zu v.17f) eine positive Konnotation hat, hat das Starten eines Flugzeugs hier eine negative Konnotation. Im Gegensatz zur 1.VG, die den Blick Kniefällig (v.4) auf den Kleinscheiß (v.8) gerichtet hat, hebt das ‚wir‘ hier von der 4. Startbahn des Flughafen Frankfurt direkt zu den − durch den Klimawandel und den Tourismus dem Untergang entgegensehenden (vgl dazu https://www.planet-wissen.de/kultur/inseln/malediven/index.html) − Malediven ab. Um die Frankfurter Startbahn hat es in den 80er Jahren heftige Kämpfe u.a. wegen der notwendigen Waldrodungen (Nutzholzbezirke (v.39)) gegeben. Die ameisenwuselnden Wohnplätze (v.40, i.e. die Menschen in den Städten aus dem Flugzeug gesehen) entsprechen dem Frühlingsgewürm in den Furchen (v.3). Der der Natur entfremdete Mensch entfernt sich auch von seinen Mitmenschen, die aus seiner Perspektive immer kleiner (winz-) und lächerlicher (witziger) werden. Die gesamte Versgruppe ironisiert den der Technik anheimgefallenen Menschen.