Im Gefälle

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Die Korrenzpondenz von Transzendenz (Blauton) und Immanenz (Turbulenz-/Geräusch) erfolgt aus dem Zusammentreffen einer Abwärtsbewegung (Strahlung) und einer Aufwärtswendung (Gegen den Himmel) im Gedicht.
 
Versgruppe 1 schildert, wie herabfahrende Strahlung von einer ‚Empfangsstation‘ aufgenommen werden kann. Die 2. VG zeigt im Gegensatz dazu die Parallelaktion in der technischen, ‚raumgreifenden‘ Gegenwart. In der 3. VG versucht das lyrische Ich die Vereinigung der Gegensätze im Gedicht (Aufwindwerken) zu erreichen. In den drei Wünschen der Kursiva drückt es die Bedingungen aus, die das Gelingen der Vereinigung ermöglichen.
 
 

IM GEFÄLLE

 
Herabfahrender
Strahlung
Ereigniszustrom
Der
virtuell
Inseln

Da spannen
Membranen
sich
5Auf zu Empfängniszellen
 
Mond zeig dein volles Rund −

 
Bodennah
abgeschattet
Schlüsselchips intelligent
Mit Maschinenbefehlen − eigenmächtig
10Erschöpfliche
Kombifahrzeuge
dass
Eisern sie raumgreifen
 
Meer komm zur Ruhe jetzt −

 
Nur an der
Hörgrenze
Antwort-
Versuche von
Aufwindwerken
bis hier

15Gegen den Himmel geneigt
Blauton und Turbulenz-
Geräusch korrespondieren
 
Mond nun vom Meeresgrund

Leuchte mir unbenetzt!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel lässt sich im Zusammenhang mit v.1f als Bewegung von oben nach unten lesen. Das lyrische Ich steht IM GEFÄLLE der Strahlung. Angespielt ist auch auf den ‚Fall‘ Adams, der durch den Ereigniszustrom aufgehoben wird (vgl. zu v.1f).
 
v.1f: Das Ereignis (Ereigniszustrom) im philosophischen Sinne (z.B. bei A. Badiou) ist etwas, das nicht dem Alltagsleben zugehört, nicht determiniert ist und so eine transzendente Einheit bildet. Im Gedicht strömt das Ereignis von oben herab: in Form von Strahlung, wie sie z.B. von der als transzendent verstandenen Sonne ausgeht. Zu denken ist speziell auch an den ‚herabfahrenden‘ Heiligen Geist als Taube, der einen kosmischen Ereigniszustrom auslöst (Empfängnis, Geburt, Taufe, Tod und Auferstehung Christi). So sagt Johannes der Täufer über Christus: „Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm.“ (Joh. 1,32).
 
v.3 virtuell: virtuell ist ein gedachtes Ereignis, das zugleich aber Wirksamkeit entfaltet. Mithören kann man das englische Wort ‚virtue‘ für Tugend und das lateinische ‚virgo‘ für Jungfrau.
 
v.3 Inseln: Vom Meer des Unbewußten bzw. der Gegenwart umgebene Standpunkte, die den Kontakt zur Transzendenz ermöglichen.
 
v.4f: In der Biologie sind Zellen von Membranen umgeben, die darüber entscheiden, ob etwas in das Innere der Zelle gelangen kann. Mit Empfängniszellen (Eizellen) wird auf den Zeugungsvorgang angespielt. Dies kann man auf Maria beziehen (vgl. zu Ereigniszustrom v.1f), aber auch auf die Empfängnisbereitschaft der Dichter und den poetologischen Vorgang der Inspiration.
 
v.6: Das lyrische Ich wünscht sich den Vollmond als Spiegel der Transzendenz (vgl. dazu zu v.1f). Zugleich verweist der Mond als Symbol der Liebenden auf den kosmischen Ereigniszustrom (vgl. dazu zu v.1f).
 
v.7ff: Die 2. Versgruppe zeigt einen Gegensatz zur VG 1: Das Bodennah steht in Opposition zum Ursprung des Ereigniszustrom, das abgeschattet verdunkelt die Strahlung der Transzendenz. Schlüsselchips sind Transponder, mit deren Hilfe Zugangs-Kontrollsysteme (u.a. Türen oder Autos) geöffnet werden können. Sie nehmen das eingehende Signal auf und leiten es weiter. Damit kann man sie als eine technische Ersetzung des Verhältnisses zwischen Transzendenz und Immanenz interpretieren. Sie sind programmiert Mit Maschinenbefehlen und zeigen Künstliche Intelligenz (KI).
 
v.9ff: Die Kombifahrzeuge können als Kombination aus Intelligenz und Maschine (KI) verstanden werden. Sie sind eigenmächtig, weil sie sich verselbständigen und Macht über Menschen erringen könnten. Zugleich sind sie keine ‚Geschöpfe‘ im religiösen Sinne, ihr Dasein ‚erschöpft‘ sich im Maschinencharakter, sie sind Eisern (unbelebte Materie) und nehmen in der Gegenwart immer mehr Raum ein. Sie drohen, die Menschen zu ersetzen.
 
v.12: Das Meer ist einerseits ein Symbol für die den Einzelnen umgebende Gegenwart (wie sie in der VG 2 geschildert ist) und andererseits das traditionelle Symbol für das Unbewußte. Der Wunsch des lyrischen Ich ist, dass beides sich beruhige, damit die Transzendenz gehört werden kann (VG 3).
 
v.13 Hörgrenze: Fachbegriff aus der Akkustik. Als Hörgrenze werden die vier Grenzbereiche der Hörfläche (Hörschwelle, Schmerzschwelle, tiefste- und höchste Frequenz) bezeichnet. Hier steht sie als Symbol für etwas kaum Wahrnehmbares.
 
v.14 Aufwindwerken: In einem ‚Aufwindkraftwerk‘ wird Luft von der Sonne erwärmt und steigt wegen natürlicher Konvektion in einem Kamin auf. Eine oder mehrere Turbinen erzeugen aus dieser Luftströmung elektrischen Strom. Die ‚Aufwindwerke‘ sind hier die Antwort-/Versuche auf den in der Gegenwart kaum wahrnehmbaren Ereigniszustrom (v.2).
 
v.14ff bis hier / … / korrespondieren: Der Dichter (Gegen den Himmel geneigt) versucht mit seinen Antworten, die Übereinstimmung von Transzendenz (Blauton) und Immanenz (Turbulenz-/Geräusch) zu erzielen. Diese Übereinstimmung lässt sich sowohl räumlich (im hier) als auch zeitlich (bis zu diesem Ereignis) verstehen.
 
v.18f: Das lyrische Ich wünscht sich einerseits, dass ihm die Transzendenz (Mond vgl. zu v.6) aus den Tiefen der Gegenwart klar (unbenetzt im Sinne von ’nicht nass‘) entgegenleuchtet, andererseits, dass sie als Ereignis der gegenseitigen Geneigtheit, der Liebe, in seinem Unbewussten aufscheint.Die gegenseitige Geneigheit zeigt sich darin, das es nicht reicht, die Transzendenz im ‚Netz des Gedichtes‘ zu fangen (unbenetzt), sondern dass sie von sich aus erscheinen muss.