Dazwischen

Überblickskommentar
 
Grundgedanke: Das Erscheinen des Lichts im Dunkel, die Erleuchtung
 
Versgruppe 1 zeigt, wie sich der gegenwärtige Mensch durch Unterhaltungsmusik ablenkt. Vermittelt durch den Doors-Song „Light my Fire“ wird in der 2.VG das im Schatten liegende Dorf Vignella assoziiert, das mit Hilfe eine Spiegels Licht einfängt. Dies wird in der 3.VG als ein Paradigma dafür interpretiert, dass aus schlechter Lage / Gute Gedanken heraushelfen können; als Beispiel wird der Philosoph Sokrates angeführt. Ein weiteres Beispiel ist die Mannazikade, die aus dem dunklen Larvenstadien zum Licht strebt (VG 4). Nicht nur in der belebten Natur, auch am Stein, der unbelebten Natur, zeigt sich mit den Pigmenten Glimmender Glasur eine Spur der Götter (VG 5). Ebenso lässt sich im Dunkel der Erde eine Spur göttlichen Lichts ausmachen: in den 14 Lanthanoiden (den seltenen Erden) (VG 6 und 7). Die Zahl 14 (doppelte Sieben) leitet über zur Anzahl der Verse im Sonett und zum poetologischen Programm des Autors in VG 8, der im Gedicht die Blitze der Transzendenz erscheinen lässt. Diese Erleuchtung wird als Epiphanie auf das Event Colours of Joy 2014 am Berliner Dom übertragen (VG 9).
 
 

DAZWISCHEN

 
Jetzt aber mal Ablenkung
her weil nur
Irgendwie Sinnpriester
nur die verschmähen

Ewigkeitskapriziert was wir jetzt suchen
Hier gleich
auf
87,7
DIE ERDERWÄRM-

5Nein lieber 93,1 DES BUNDESGRENZSCHU-
Mist! Dann eben 91,9
TRY TO SET
na endlich!

THE NIGHT ON FIRE das ist die Spur
 
Denn
schicksalsverhängt
im
Valle Antrona

Eng eingeschattet zwischen Gebirgswänden
10Sieh Viganella das auch im Winter
Nun Sonne kriegt kraft KONSTRUKTION
 
Kühn eines GIPFELSPIEGELS
aus schlechter Lage

Gute Gedanken entbindend
Hat sichs als Philosoph ausgewiesen
15
Paradigmatisch
wie Sokrates sagt

 
Oder die
Mannazikade

Fünf Larvenstadien dann Tod zwischen
Beiden jedoch Jubel der Lichtfeier
Und noch zu den Sternen
Tymbalmagnificat

 
20
So am Stein

Nicht endend grüß ich eure
Spur Götter in Pigmenten
Glimmernder Glasur wobei
 
Nicht leicht im
Plutomilieu
sich erhellt

25Die
Elektronenfährte
von transzendent

Plural changierenden
LANTHANOIDEN
die abgezählt

 
Bingo! die doppelte Sieben kundtun
Signifikant analog
hier dem

30Wahre Mondzeitreime
Hinmurmelden Merlinmunde
 
Ob
zwischen Vor- und Herbei
sichs wohl ließe

Lockern das Halseisen zu einer geheimen
Klingschlinge für
performative

35Blitze
 
Wie
Schlag zehn
wenn erneut
Der Dom
plötzlich als Lichtbühne und Protagonist

Mit 3D-Videomap-Götterfunkenfreuden
Designed mystisch illuminiert
40Epiphanien aus virtuellem Fassadenfeuer
Und wir
prozesshaft interaktiv

Eventifizierts uns zu Colours of Joy
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel DAZWISCHEN erklärt sich aus dem in den Versen 32ff entwickelten poetologischen Programm. Die Zeit des Gedichtes liegt zwischen dem Verlust und dem Wiedergewinn der Transzendenz.
 
v.1 Jetzt aber mal Ablenkung: Das programmatische Konzept der Moderne
 
v.2f Irgendwie Sinnpriester … / Ewigkeitskapriziert: Ironischer Blick aus der Perspektive eines modernen rationalen Menschen auf eine Gruppe von Menschen, die einen Transzendenzbezug für sich und andere suchen (z.B. Priester, Gläubige, Philosphen und Dichter). ‚kaprizieren‘: eigensinnig auf etwas bestehen; sich auf etwas festlegen.
 
v.4 auf 87,7: Sendefrequenzen der Radioanstalten Bayern 1 (87,7), inforadio (93,1) und Radio 21 (91,9).
 
v.4f: Die in der Berichterstattung dominanten Themen ‚Klimaveränderung‘ (ERDERWÄRM-ung) und ‚Flüchtigsproblematik‘ (BUNDESGRENZSCHU-tz) versucht der gegenwärtige Mensch durch Unterhaltung zu verdrängen.
 
v.6f TRY TO SET … / THE NIGHT ON FIRE: Song der Gruppe ‚The Doors‘. Auf der Oberfläche fungiert der Song als Ablenkung von brisanten Themen (vgl. zu v.4f), er eröffnet aber gleichzeitig die Tür zum thematischen Zentrum des Gedichts: das Erscheinen des Lichts (FIRE) im Dunkel (NIGHT), der Transzendenz in der Immanenz (vgl. dazu auch den Kommentar zum Gedicht ‚Cleansing the doors‘, der auch auf die Rolle der Gruppe ‚The Doors‘ eingeht).
 
v.8 schicksalsverhängt: Das antike Konzept des ‚Schicksals als Verhängnis‘ wird hier konterkariert durch eine technische KONSTRUKTION (vgl. zu v.8ff).
 
v.8ff: Das Dorf Viganella im italienischen Valle Antrona liegt vom 12. November bis 1. Februar für 83 Tage im Dunkeln, weil die Sonne nicht über die umliegenden Gebirgswände steigt. 2006 wurde ein GIPFELSPIEGEL montiert, um Sonnenlicht ins Dorf zu lenken.
 
v.12ff: Viganella weist sich mit seiner Spiegelkonstuktion als Philosoph aus, weil es aus schlechter Lage / Gute Gedanken entbindet, so wie Sokrates, nachdem er zum Tode verurteilt wurde und vor dem Trinken des Schierlingbechers die Lehre der Unsterblichkeit der Seele entwickelt (s. Platon: Phaidon). Für die römischen Stoiker (wie Seneca, Epiktet und Mark Aurel) war Sokrates damit paradigmatisch: als Vorbild für ein gutes Leben und einen mutigen Tod. Sein Verfahren, die Wahrheit zu finden, wird traditionell als Mäeutik, als Hebammenkunst (entbindend v.13) bezeichnet.
 
v.15 paradigmatisch: ein Modell, Muster darstellend, als Vorbild, Beispiel dienend
 
v.16ff: Die Mannazikade, eine Unterordnung der Singzikaden, entwickelt sich über Fünf Larvenstadien, die in der Erde, im Dunkel stattfinden, schließlich zum Vollinsekt mit Flügeln, das sich vor seinem Tod zur Fortpflanzung (Jubel der Lichtfeier v.18) in die Luft erhebt (zu den Sternen v.19). Die Benennung knüpft an die Speise (Manna) an, die Gott den Israeliten in der Wüste schickt (Ex. 16).
Im antiken Griechenland waren Zikaden Symbole für die Unsterblichkeit. Singzikaden sind Metaphern für die Sangeskunst und den Dichter. Im Phaidros geht Platon davon aus, dass Zikaden als Botschafter der Musen gleichbedeutend zu „entkörperlichten Seelen“ aufgefasst wurden. Sie sollen sich von den physischen Bedürfnissen (=Abstreifen der Larvenhaut) befreit haben und damit eine höhere Ebene der Erkenntnis erreicht haben. Damit wurden Zikaden offenbar als ein „Modell der menschlichen“ Seele angesehen.
 
v.19 Tymbalmagnifikat: Die Mannazikade besitzt ein eigenes Organ, das „Trommelorgan“ (Tymbal-) am Beginn des Hinterleibs zur Erzeugung von Tönen. Das magnifikat ist ein Lobgesang Marias auf den Herrn (Luk. 1,46 – 55). Die Singzikade als Symbol für die unsterbliche Seele preist hier an Stelle Marias die Transzendenz.
 
v.20ff: Während in den vorhergehenden Versen die belebte Natur (Mannazikade) die Transzendenz pries, zeigt sich sogar in der unbelebten Natur (am Stein) noch eine Spur Götter (Transzendenz). Zugrunde liegendes Vorstellungsbild sind die ehemals bunt lasierten (Glimmernder Glasur) Statuen z.B an den Domen, an denen heute Reste von Farb-Pigmenten erkennbar sind. Parallel dazu ist die letzte Versgruppe mit ihrem Event am Berliner Dom (v.36ff).
 
v.24 Plutomilieu: Anknüpfend an die Götterwelt (v.22) erscheint hier die Unterwelt (-millieu) und deren Gott Pluto- als paradigmatisch für die dunkle lichtlose (transzendenzferne) Gegenwart. In der Unterwelt, unter der Erde, werden auch die ‚Seltenen Erden‘ (vgl. dazu zu v.24ff) gefunden.
 
v.25ff: Die LANTHANOIDEN (die vierzehn ’seltenen Erden‘ im Periodensystem der chem. Elemente Nr. 58-71) zeichnen sich dadurch aus, dass sie das 4f-Orbital nach und nach mit Elektronen auffüllen. In wässriger Lösung zeigen die Lanthanoiden-Ionen alle Farben des Regenbogens (Plural changierenden v.26). Diese naturwissenschaftliche Dimension reflektiert auch in der Bezeichnung Elektronenfährte (v.25) die Spur der Götter in Pigmenten (v.22). Dass diese Spur Nicht leicht … sich erhellt, erklärt sich schon aus der Ableitung des Wortes aus dem griechischen ‚lanthanein‘ für ‚verborgen sein‘ und aus der Bezeichnung ’seltene Erden‘. Die Lanthanoide gehören zu den s.g. inneren Übergangselementen (transzendent v.25). Dass Farben sich nur im Licht zeigen, verweist auf ihren Ursprung, die Transzendenz.
 
v.27f die abgezählt / Bingo! die doppelte Sieben kundtun: Die doppelte Sieben sind als vierzehn die Anzahl der Lanthanoiden. Die poetologische Bedeutung der doppelten Sieben verweist auf die vierzehn Verse des Sonetts als eine der Elementarformen der Verskunst. Darüber hinaus ist die Sieben ein Konstruktionelement der doppelseitigen Gedichte des Bandes „Blauton…“: Die beiden äußeren Versgruppen haben jeweils 7 Verse, sie umschließen 7 innere Versgruppen. Bingo! wird in dem gleichnamigen Spiel dann gerufen, wenn etwas vervollständigt worden ist.
 
v.29ff: Dem Merlinmunde (ironische Selbstreferenz: ‚Merlin-Minde‘, der Dichter als Zauberer) ist gegeben, in der dunklen Gegenwart (Mondzeit) den wissenschaftlichen Erkenntnissen zeichenhaft Vergleichbares (Signifikant analog) zu künden: Wahres in Reimen.
 
v.32ff: Die folgenden vier Verse entwerfen in nuce die Poetologie des Autors: Es wird die Möglichkeit erwogen, dass die verlorene Transzendenz, das Vorbei (Vor-), sich wohl Herbei-murmeln ließe, wenn die die Sprache abschnürende Rationalität (das Halseisen) gelockert werden kann, um im Gedicht (der Klingschlinge) die Transzendenz (performative / Blitze) einfangen zu können.
 
v.34f performative / Blitze: Performativ ist ein Begriff aus der Sprechakttheorie und bezeichnet Sprechakte, die sprachlich handeln und so gleichzeitig eine Tatsache schaffen (z.B. Standesbeamter: Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau). Im Gedicht spricht der Autor so, dass die Transzendenz dort tatsächlich wie Blitze erscheint. Diese Epiphanien (v.40) werden durch die singuläre Stellung des Wortes Blitze veranschaulicht.
 
v.36 Schlag zehn: Die Glockenschläge um 22 Uhr. Zu denken ist aber auch an den Donner-Schlag, der den Blitzen folgt.
 
v.36ff: Die für viele verlorengegangene Funktion der Dome als Gotteshaus wird hier als Projektionsfläche für die Transzendenz (Lichtbühne v.37) erneut. Bei dem ‚Festival of Lights‘ 2014 wurde die Fassade des Berliner Doms unter dem Motto Colours of Joy (v.42) mit 3D-Videomap(ping) (v.38) mystisch illuminiert (v.39). Dazu wurde Beethovens Vertonung der Schillerschen ‚Ode an die Freude‘ („Freude schöner Götterfunken“ vgl. v.38) gespielt. Die Blitze (v.35) sind ein traditionelles Symbol für die Götterfunken. Zum virtuellem Fassadenfeuer (v.40) und zum Erklingen der Götterfunken passt als Parallelaktion der Doors-Song „Light my Fire“, der in v.7 zitiert wird. Eine weitere Parallele manifestiert sich zwischen den Colours of Joy am Dom und dem Jubel der Lichtfeier (v.18) im Tymbalmagnifikat (v.19) der Mannazikade (v.16).
 
v.41f prozesshaft interaktiv / Eventifizierts uns: Die neuere Rezeptionsästhetik interpretiert Texte und Bilder als einen ‚Prozess‘, an dem die Leser interaktiv beteiligt sind. Ironischerweise sind sie damit quasi ihre eigenen ‚Eventmanager‘.