Rappen und Rose

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: In der winterlichen, endzeitlichen Gegenwart, in der nur noch der Abglanz des Untergegangenen aufscheint, möge – wie im Frühling – das Licht der Transzendenz aufleuchten.
 
Versgruppe 1 beschreibt eine vom Winterwind durchwehte unfruchtbare Endzeitlandschaft (Symbol für die Gegenwart). Diese scheinbare Weite wird durch das von Dämmen eingehegte Meer, in dem sich der nächtliche Mond spiegelt, begrenzt (VG 2). Der Mond erscheint als Abglanz und Maske des Lichts (der Transzendenz). Im Landinneren erscheint plötzlich (im Frühling) die erblühende Wildrose, die die Schmetterlinge (Symbol für die Seele) nährt (VG 3). Die Kursiva kommentieren die jeweils vorhergehende Versgruppe und enden in einem Gebet/Musenanruf mit der Bitte um Erleuchtung.
 
 

RAPPEN UND ROSE

 
Boreas
rappengestaltig
Und quer durch die ackerlose
Endlandschaftssteinigkeit

Dienstbares
das er betreibt
5
Laufrad und Leidrad

 
Zweifelhaft aber die Weite −

 
Wo hinter den
Dammbauten

Scheinbare Silberbilder

Selbst nächtlichen Lächelns
10Die bald im
Gezeitensalz

Eintrübend sich auflösen
 
Masken das Mondantlitz −

 
Plötzlich im Blütengeschäft

Der
erschlossenen Wildrose

15Leuchtkräfteverkehr stäubt auf
Duftschirm
und
diaphan
für
Den
Schaltkreis
der
Falterfluren

 
Lichtkurve komm
und beide

Enden bieg mir zum Blitz!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Mit Rappen und Rose (Akkusative !) sind die beide(n) / Enden genannt, die die Lichtkurve zum Blitz biegen möge (vgl. zu v.18f).
 
v.1: Boreas war in der griechischen Mythologie die Personifikation des winterlichen Nordwinds. Er tritt im Mythos auch in Gestalt eines Rappen auf (z.B. Ilias 20,219ff).
 
v.2f quer durch die ackerlose / Endlandschaftssteinigkeit: Der Winterwind (Boreas), eine Metapher für Unfruchtbarkeit, steht hier für die Transzendenzferne der als Endzeit verstandenen Gegenwart.
 
v.4: Der Begriff Dienstbares schränkt alle Objekte – wie heute üblich – auf den Aspekt ihrer Nutzbarkeit ein. Das betreibt charakterisiert das moderne Leben als von der ruhelosen Geschäftigkeit bestimmt.
 
v.5: Laufrad und Leitrad (!),Teile in einer Turbine, charakterisieren die Einbindung des Menschen in die Knechtschaft der modernen Lebensweise. Das Laufrad erinnert an den gefangenen Hamster im Käfig. Das Leidrad verweist auf den Kreislauf von Werden und Vergehen im Buddhismus. Ziel ist es, dieses Rad zu verlassen und nicht mehr wiedergeboren zu werden. Das ist gleichbedeutend mit dem Ende des Leidens.
 
v.6: Die Endzeitlandschaft scheint von Weite (Freiheit) bestimmt zu sein; aber diese Weite ist Zweifelhaft, weil ihr der Zugang zur Transzendenz verstellt ist.
 
v.7 Dammbauten: Dämme dienen dem Schutz vor dem wilden Meer. Auf der symbolischen Ebene wird hier die Gegenwart eingehegt, um die Transzendenz fern zu halten.
 
v.8f: Es wird ein Bild des sich im Meer spiegelnden Mondes entworfen. Der Mond selbst ist als Abglanz der Sonne, der Transzendenz aufgefasst. Sein Lächeln als Hoffnungschimmer aus der Transzendenz ist für das moderne Bewusstsein nur ’scheinbar‘, nicht wirklich.
 
v.10f: Durch das Erscheinen des Tages bzw. der Gezeiten werden die Bilder des Mondes ‚eingetrübt‘ bzw. ‚aufgelöst‘. Das bald bezieht sich auf die konkrete Ebene, während auf der historischen Ebene der Vorgang der Entfernung der Transzendenz zur Zeit vollzogen ist.
 
v.12: Der Begriff –antlitz verweist auf die religiöse Dimension: z.B. „Gott hat sein Antlitz verborgen“ (Ps. 10,11). Im Gedicht hier ist das Gesicht des Mondes eine der Masken der Transzendenz.
 
v.13ff Im Gegensatz zur Endlandschaftssteinigkeit (v.3), dem Winter, kann im Frühling, dem Blütengeschäft, das Ereignis (Plötzlich) einer Verbindung zwischen Immanenz und Transzendenz (Leuchtkräfteverkehr) eintreten. Andererseits legt der Begriff Leuchtkräfteverkehr nahe, dass der Dichter im Blütengeschäft (im Schreibvorgang) mit der Transzendenz das Gedicht (die Wildrose) erschafft.
 
v.14 erschlossenen Wildrose: i.e. der ‚aufgeblühten Wildrose‘. Wildrose ist ein Begriff aus der Rosenzucht. Er bezeichnet eine Rosenklasse, die nicht über Artgrenzen hinweg gekreuzt wurde. Ihre Blüten sind einfach, also ungefüllt, und zeigen fünf Kronblätter. Die Ursprünglichkeit der Wildrose (nicht von Menschen ‚veredelt‘) verweist auf den Ursprung des Seins, die Transzendenz. Natürlich ist auch an das Symbol für die Gottesmutter Maria zu denken, durch die Christus, die Transzendenz, zum Menschen wurde, bildlich also der Menschheit ‚erschlossen‘ wurde.
 
v.16 Duftschirm: Die Blütenpollen werden als Schutz-schirm vor dem Winterwind, der Unfruchtbarkeit der Endzeitlandschaft verstanden. Andererseits spannt die Blüte ihren Duft wie einen –schirm auf, um die Falter anzulocken.
 
v.16 diaphan: durchscheinend, transparent
 
v.17 Schaltkreis: Ein Stromkreis, in dem, wenn er geschlossen ist, Energie fließt.
 
v.17 Falterfluren: Ein traditionelles Symbol für die Seele ist der Falter (Schmetterling), der vom Blütenstaub und Duftschirm angezogen wird. Im übertragenen Sinne ist das Gedicht (die Wildrose) das Ereignis, in dem der Seele die Transzendenz erscheint.
 
v.18f: Das lyrische Ich bitte darum, dass sich Immanenz und Transzendenz zu einem Schaltkreis verbinden, aus dem ein Blitz (eine Inspiration) entsteht, der das Gedicht hervorbringt. Andererseits lässt sich die Lichtkurve auch als eine Bitte um Epiphanie (Blitz) im Gedicht verstehen.