Sit infra

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Die Welt besteht aus einer Zweistockwerkstruktur: Im Unten ist die Immanenz angesiedelt, es ist der Bereich der ’sperrigen Welt‘, des uns und des wir; wohingegen das Oben der Bereich der Transzendenz ist (der Himmelsobjekte). Das lyrische Ich spiegelt durch sein Gedicht diese Struktur wider.
 
Versgruppe 1 zeigt eine Onanie-Szene, bei der ein Mann als Vorlage eine Figur aus dem Film ‚Manche mögen’s heiß‘ benutzt. Mit der Zweistockwerkstruktur und den DOPPELHALBAUGEN der Libellen in VG 2 wird das Welt- und Liebesverständnis in ein Oben und Unten geteilt. VG 3 und 4 führen diesen Gedanken an unterschiedlichen Figuren (Maria, Euridike,Venus) fort und enden in der Entschleierung des Mythos. Mit dem an die Venus (als Liebesgöttin und als Planet) gerichteten Musenanruf in VG 5 bittet das lyrische Ich um Licht, das sich in seinen Augen, in seinem Gedicht widerspiegeln soll. Das paradoxe Motiv der Blindsicht / Der Seher in VG 6 führt das Bild der Augen fort und verlockt in VG 7 den Leser, dem Seher/Dichter auf einem Traumpfad zu folgen und sich nicht zu fürchten (Luk. 1,30). So sollte sich auch die Hauptfigur Jack Dawson im Film ‚Titanic‘ nicht vor einem Eisberg fürchten, den dieser zeigt sich unter dem Blickwinckel der Transzendenz nur als Schaumspiel (VG 8). Mit VG 9 blickt das Gedicht auf VG 1 zurück: Es endet mit der vollzogenen Onanie.
 
 

SIT INFRA

 
Und
holen ganz einfach uns eine runter

Von unserem saugeilen
Überbett-

Monitor die dann genau wie auf
Shell-Sweety Curtis

Diese
Monroe
rutscht
die dann rum auf uns wenn
5Wir voll steif auf dem Rücken und
Schon ist sie ausgetrickst Marilyn
Und die
Zweistockwerkstruktur

 
Wie sie in jedem Dorfteich
Libellen

Mit DOPPELHALBAUGEN auch die erkennen
10
Oben
nur Himmelsobjekte

Unten nur sperrige Welt
 
Wo Dornranken

Sich in die Fersen und mit versteckten
GIFTTIEREN sogar ein Hawai
15Seit eingeborenen Tagen
 
Heil jedoch
in der Höhe blüht

Venus im Byssusschleier
Den Mauna Kea voll
Schaulust herabzieht
 
20
Gieß dich

Aus in meine Augen sei mir Holde
Wohlgesinnt gieß dich aus bis meine
Augen Sterne deines Goldes sind denn schließlich
 
Heiliges
hier kann es und dort locken

25Und irgendwo mag auch ein
Drache
sein

Doch wer von der
Blindsicht

Der
Seher
gezogen

 
Den
Traumpfad
wer den noch

Wandelt
der fürchtet sich nicht

30Und selbst ein
Eisberg
für so einen

Jack
wär er kein RAMMBLOCK

 
Nein nur maskierte Gischt
Schaumspiel allein
Gut nicht und auch nicht schlecht
35Aus dem alles ist
 
Fluffig
wie unsere
Antiallergie-Decke
die wir
Weil trotzdem waschmaschinengerecht
Ganz
umstandslos drüberziehn

Husch über den One-Night-Stander
40Wenn unsere Prozedur wenn die
Zu unserer Erleichterung wieder fürs erste
Um ist

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: lat. ‚Er / Sie / Es möge unterhalb sein‘. Angespielt wird auf ein dem Kopernikus zugeschriebenes Diktum: ‚ut supra, sic infra‘ (‚wie oben, so auch unten‘). Mit dem in einen Wunsch veränderten zweiten Teil des Zitates (’sit‘ statt ’sic‘) wird der immanente, ‚untere‘ Bereich einer dualistischen Weltsicht heraufgerufen. Der fehlende ‚obere‘, transzendente Bereich (‚ut supra‘) ist von einem Leser, der nicht ‚blind‘ für die Transzendenz (vgl. zu v.26) ist, sondern die Sehergabe hat (s. zu v.27), zu ergänzen.
 
v.1: Leicht veränderte umgangssprachliche Formulierung für Onanie: ‚Sich einen runterholen‘. Mit uns sind hier wahrscheinlich die Männer gemeint, die sich eine Frau als Objekt, als Onaniervorlage vorstellen. Hier wird allerdings auch angespielt auf ein Welt- und Liebesverständnis, das Unten nur sperrige Welt (v.11) bzw. Sexualität und oben die Sphäre der Transzendenz bzw. den Eros sieht (Oben nur Himmelsobjekte v.10).
 
v.2f Überbett- / Monitor: Gedacht ist an einen Bildschirm entweder dem Bett gegenüber hoch an der Wand oder an einen an der Decke befestigten Bildschirm über dem Bett.
 
v.3 Shell-Sweety Curtis: Eine Figur aus dem Film „Manche mögen’s heiß“, in dem der Schauspieler Tony Curtis als ‚Joe‘ vorgibt, ‚Shell Junior‘ zu sein.
 
v.4 Monroe: Die Schauspielerin Marilyn (v.6) Monroe in dem gleichen Film (vgl. zu v.3), die als ‚Sugar‘ auftritt.
 
v.4ff: Im o.g. Film rutscht ‚Sugar‘ auf dem steif auf dem Rücken liegenden ‚Joe‘ rum und versucht, ihm mit Küssen ein erotisches Gefühl zu vermitteln. ‚Joe‘ hat sie damit ausgetrickst, dass er vorgibt, gefühlskalt zu sein.
 
v.7 Zweistockwerkstruktur: Die Zweistockwerkstruktur mit ihrem ‚oben / unten‘ ist programmatisch für das ganze Gedicht. In der ersten Versgruppe wird sie sowohl im Onaniebild als auch in der erotischen Szene zwischen Curtis und Monroe benutzt. Aber auch auf das traditionelle Verhältnis zwischen Transzendenz (Oben) und Immanenz (Unten) wird angespielt. Natürlich kann man auch an die Doppelstockbetten des Zuges im o.g. Film denken.
 
v.8 Libellen / Mit DOPPELHALBAUGEN: Libellen haben zwei halbkugelförmige Facettenaugen, die aus bis zu 30.000 Einzelaugen bestehen. Der obere Teil der Komplexaugen ist eher auf Fernsicht eingestellt, der untere Teil auf Nahsicht (https://www.nwv-bremen.de/website-help/32-ak-libellen.html).
 
v.10f: Vgl. zu v.1. Die sperrige Welt könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Wahrnehmung der Transzendenz ‚ausgesperrt‘ ist.
 
v.12ff: Hier werden drei Bilder übereinandergefügt: 1) Im Mythos des antiken Sängers Orpheus wird dessen Gattin Eurydike von einer versteckten Schlange in die Ferse gebissen und so in die Unterwelt geholt. 2) Bei der Vertreibung aus dem Paradies verflucht Gott Adams Acker („Dornen und Disteln soll er dir tragen“ Gen. 3,18). 3) Gleichzeitig wird durch ‚Ferse‘ und ‚GIFTTIERE‘ auch das Gegenbild zur Vertreibung, die Erlösung durch die liebende Gottesmutter, evoziert: Maria zertritt der Schlange den Kopf. Damit wird auf ein ‚Himmelsobjekt‘ (v.10) verwiesen, die Göttin der Liebe, symbolisiert durch den Planeten Venus (Heil jedoch in der Höhe / Venus v.16f).
 
v.16ff: Auf dem Mauna Kea (v.18), dem höchsten Berg auf der Insel Hawaii (v.14), gibt es ein großes Observatorium, mit dessen Teleskop (Schaulust v.19) auch der Planet Venus (v.17) beobachtet werden kann. Der ‚Schleier‘ der Venus besteht aus ‚Byssus‘, einem antiken, aus den Fäden einer Muschelart gefertigten kostbaren Gewebe. Dass der Schleier durch das Teleskop ‚herabgezogen‘ wird, entspricht der Entschleierung des Mythos (bzw. der Transzendens) durch die moderne Technik.
 
v.20ff: Das lyrischen Ich betet zur Venus, ihm den Blick so zu öffnen, dass seine inneren Augen fähig sind, die Transzendenz (Sterne deines Goldes) widerzuspiegeln. Dieses Gebet steht in der Tradition des Musenanrufs.
 
v.24: Der Vers zeigt, dass das ‚Heilige‘ sowohl aus der Immanenz (hier) als auch aus der Transzendenz (dort) einen Appell senden (locken) kann.
 
v.25: Die Schlange, der Maria den Kopf zertritt, wird manchmal auch als Drache (als Schlange des Paradieses) bezeichnet. Gleichzeitig liegt diesen Versen möglicherweise die Legende des heiligen Georg zu Grunde. Georg von Kappadokien rettet eine jungfräuliche Königstochter (Heiliges) vor einer Bestie, dem Drachen.
 
v.26 Blindsicht: Blindsicht (engl. blindsight) ist ein Fachbegriff der Hirnforschung. Personen, deren visueller Kortex (ein Teil der Hirnrinde) beschädigt ist, leiden unter der sog. ‚Rindenblindheit‘. Sie sehen (die Augen sind völlig intakt), aber sie wissen nicht, dass sie etwas sehen (der Hirnbereich, der die optische Wahrnehmung verarbeitet, ist beschädigt).
 
v.27: Der Topos des ‚blinden Sehers‘ steht seit der Antike (Teiresias) dafür, dass der Blinde (das innere Auge) die Wahrheit (die Transzendenz) sehen kann, wohingegen das normale Sehen nur den Schleier der Maya (die Immanenz) wahrnimmt.
 
v.28 Traumpfad: Die Traumpfade (Songlines) der Aborigines ergeben eine unsichtbare, mythische Landkarte Australiens, die per Gesang von Generation zu Generation weitergetragen wird. Das lyrische Ich sieht sich als Sänger, der mit seinem Gedicht auf unsichtbaren Pfaden Wandelt.
 
v.29 der fürchtet sich nicht: Der Kontakt mit der Transzendenz wird häufig mit Angst und Schrecken verbunden. Deswegen spricht der Engel Gabriel zu Maria: „Fürchte dich nicht“ (Luk. 1,30).
 
v.30f: Angespielt wird auf den Untergang der Titanic, die durch das Rammen eines Eisberges sinkt. Die Hauptfigur im Film „Titanic“ heißt Jack Dawson, der sich für seine Liebe opfert.
 
v.32ff: Für den liebenden Jack Dawson ist die Realität (der Eisberg) nur maskierte Gischt, d.h. hier wird die Realität als etwas wahrgenommen, das nur ein Schaumspiel ist, als etwas, hinter dem die Wahrheit (die Transzendenz) liegt.
 
v.36ff: Die letzte Versgruppe knüpft mit dem Ende der Onanie-Beschreibung an das Eingangsbild der ersten Versgruppe an.
 
v.36 Antiallergie-Decke: Der Bezug zur Transzendenz (im weiteren Sinne zur Religion) wird hier als Krankheit (Allergie) gesehen, gegen die es sich zu immunisieren gilt.
 
v.38 umstandslos drüberziehn: Das ‚Darüberziehen‘ der Decke ist das Gegenbild zum ‚Herabziehen‘ des Schleiers der Venus. Gleichzeitig wird auf die Folgenlosigkeit der Onanie verwiesen (umstandslos: nicht ‚In-andere-Umstände‘ geraten können) und das Überziehen eines Präservativs suggeriert.
 
v.42 Um ist: Erwartet wird hier eigentlich die Formulierung ‚Wenn unsere Prozedur … erledigt / vorbei ist‚. Das umgangssprachliche um knüpft an das umstandslos (v.38) an, suggeriert aber auch das ‚Umfallen‘ des One-Night-Standers (v.39).