Seestück bei Monemvasia

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich glaubt im Morgengrauen durchs Fenster auf dem Meer ein Schiff zu sehen (Versgruppe 1), das in ihm eine Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat aufkommen lässt (Vg 2), und führt drei Beispiele für sehnsüchtig erwartete Schiffe an (Vg 3+4). In Versgruppe 5 wird dagegen karikierend der Traum eines Buchhalterpärchens gestellt: die Kreuzfahrt auf dem Traum-Schiff Sea Cloud.
Den dazu aufgeführten (überflüssigen) Informationen hält das lyrische Ich die Sinnfrage entgegen (Vg 6) und zeigt am Beispiel der Figur des Schriftstellers Aschenbach (aus Thomas Manns Künstler-Erzählung ‚Der Tod in Venedig‘) das Aufscheinen der Transzendenz in der Kunst (Vg 7). In der Versgruppe 8 fasst das lyrische Ich dies im Bild der Rose in Verse.

Seestück bei Monemvasia


 
gewahrst du
im Morgengrauen
am Horizont
sind es vier sind es fünf diese senkrechten
nebelbesegelt in Reihe gleiten sie Riesenstriche
Schemen der an dem
düstermächtigen

5Felsmassiv im Nordosten verlischt
Geistercode oder Traum

und zurück bleibt dir unter dem Schlafzimmerfenster
jetzt dein knallblauer Opel Corsa, dreitürig, Bj.01 –
 
Halluzination
,
mutmaßlich
,
10als
kompensatorisches Vollschiff
,
wenn psychische
Herzchen
, die Vögel bewohnen Nester
und die Fische Höhlen zwischen den Klippen,
wenn aber
die Sehnsucht, hörst du, wenn sie
 
Wohnung genommen hat in deinen Augen,
15glänzt überall ihre Gestalt –
ob
Senta in ihrer Spinnstube
,
Ariadne auf ihrem kahlen Eiland
,
Henrique
, Portugals keuscher Prinz,
wenn er von seinem
Altan
auf
Cabo de Sao Vicente

 
schlaflos hinausstarrte
aufs dunkle Gewoge,
20dass sie zurückkehren sollten, die
Karavellen
,
vergoldet
das harte
Heldengeschlecht von jenen
entzogensten Küsten
,
die
irdische
Meere bespülten
 
„denn
dort unten
jaja
da ist sie die
Sea Cloud
3000 Sea cloud
Quadratmeter Segelfläche an den vier Masten sieben
25Tage geht das von Piräus nach
Kusadasi
Hapag die
Hapag

Lloyd
ein uralter Traum
von uns
müssen Sie wissen
3550
Euro aber alle 32 Kabinen klimatisiert und sehr stilvoll Holz
bzw. Messing mit Antiquitäten eingerichtet“ – soweit,
mittlerweile ist greller Mittag
, in den
Ruinen über dem Hafen

30das Bottroper Buchhalterpärchen
 
und du bedankst dich
. Das
Weltwissen
, erstens,
verdoppelt sich alle sieben Jahre,
aber die Sinnfrage
, fand
Aschenbach
,
als er von Cholera hörte,
35ist mit Informationen nicht zu beantworten,
 
und blieb im Liegestuhl
sitzen: den
dämmernden Blick

festgesogen am
Schattenriss
seines hübschen Polen,
der – schon hob er den Arm auf der Sandbank draußen –
im Gegenlicht zwischen den
schwarzfigurigen Fingern

40plötzlich dies Götteraug ist und
 
wenn sie die Rosen entblättern

dass sie in Nacht verfließen
fallen die Rosenblätter
Kind morgenrot dir
zu Füßen

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Monemvasia ist eine Stadt auf der Peleponnes. Der Blick des lyrischen Ich aus dem Fenster wirkt wie der Blick auf ein gerahmtes Bild, auf ein Seestück (Fachbezeichnung für eine Darstellung des Meeres mit Schiffen).

v.1 gewahrst du: Hier steht nicht ’siehst du‘, sondern das pointiertere gewahrst du, um über das reine Sehen hinaus die innere Schau, das ‚Wahrnehmen‘, vorzubereiten. Das gewahrst du bedarf grammatisch eines Objekts, das hier durch den Titel vorangestellt ist. Andererseit ist die Objektergänzung auch durch das folgende diese senkrechten … Riesenstriche (v.2f) möglich.

v.2f: Die beiden Verse zeigen, wie das lyrische Ich sich aus einer schemenhaften Wahrnehmung (vier oder fünf Striche in Reihe im Nebel) ein Segelschiff zusammensetzt, das später (v.23ff) als Sea Cloud identifiziert wird. Die Zusammensetzung der Wahrnehmung spiegelt sich in der zerstückelten Syntax wider. Die vierfache Brechung der Syntax entspricht den vier Masten der Sea Cloud. Das unerwartete Auftauchen eines großen Segelschiffes erinnert auch an das Auftauchen des Fliegenden Holländers im 1.Akt von Wagners gleichnamiger Oper. Die unheimliche Athmosphäre des Holländers wird im Gedicht auch durch die Begriffswahl in der 1. Versgruppe hervorgerufen: ‚Grauen‘ (v.1), ‚Nebel‘ und ‚Riesen'(v.3), Schemen und düstermächtig (v.4), Geistercode (v.5).

v.4f düstermächtigen / Felsmassiv
: Vor der Stadt Monemvasia liegt ein Felsmassiv im Meer.

v.6 Geistercode oder Traum: Die Vorstellung, dass es einen außerhalb unserer normalen Wahrnehmung liegenden Bereich gibt (‚Geister‘), der uns Zeichen sendet (‚Code‘), ist analog zu sehen zum Verhältnis Transzendenz / Immanenz. In ähnlicher Weise ist auch das Verhältnis Traum / Realität zu interpretieren.

v.9 Halluzination
: kommentiert die in v.2f geschilderte schemenhafte Wahrnehmung als irreal

v.9 mutmaßlich: altes Wort für ‚vermutlich‘

v.10 kompensatorisches Vollschiff: Das lyrische Ich setzt die vier Riesenstriche am Horizont zu einem vollständigen Schiff zusammen und kompensiert damit einen von ihm empfundenen Mangel (s. Sehnsucht v.13).

v.11 wenn psychische – : scheinbarer Abbruch des Satzes, wird aber wieder aufgenommen und fortgesetzt mit v.13f wenn aber die Sehnsucht …, wenn sie // Wohnung genommen hat.

v.11f Herzchen, die Vögel … / … zwischen den Klippen
: Das lyrische Ich redet sich selber an (wie auch z.B. in v.1 du). Vögel und Fische haben im Gegensatz zum lyrischen Ich im Diesseits ihre Heimat.

v.13ff wenn aber … / … Gestalt – : Da das lyrische Ich seine Heimat nicht im Diesseits sieht, sondern in der Transzendenz, ersehnt es den Übergang in die Transzendenz und nutzt dafür die traditionelle Schiffsmetapher.

v.16 Senta in ihrer Spinnstube: Gemeint ist die Senta aus Wagners Oper, die im zweiten Aufzug mit ihrer Ballade vom Fliegenden Holländer die Ankunft seines Schiffes herbeisehnt.

v.16 Ariadne auf ihrem kahlen Eiland: Angespielt wird auf die Oper ‚Ariadne auf Naxos‘ von Richard Strauss. Ariadne – verlassen von Theseus – sehnt sich nach dem Tode und hält Bacchus, der auf einem Schiff ankommt, für der Todesboten Hermes.

v.17 Henrique: Heinrich der Seefahrer (*1394; † 1460) portugiesisch: Infante Dom Henrique de Avis. Die von ihm initiierten Entdeckungsfahrten entlang der westafrikanischen Küste begründeten die portugiesische See- und Kolonialmacht und stellen den Beginn der europäischen Expansion dar.

v.18 Altan: Ein Söller oder Altan ist eine offene, auf Stützen oder Mauern ruhende Plattform eines Obergeschosses eines Gebäudes.

v.18 Cabo de Sao Vicente: Das Cabo de São Vicente bei Sagres in Portugal bildet die Südwestspitze des europäischen Festlands. Heinrich der Seefahrer schlug in Sagres sein Hauptquartier auf, von dem aus die portugiesischen Entdeckungsfahrten starteten. 1419 gründete er am Kap Sao Vicente seine Seefahrerschule.

v.19f schlaflos hinausstarrte … / dass sie zurückkehren sollten: Wie Senta und Ariandne wartet auch Henrique auf die erlösende Ankunft, auf die Rückkehr seiner Karavellen. Auf der übertragenen Ebene erhofft das lyrische Ich die Wiederkunft der Transzendenz.

v.20 Karavellen: zwei- bis viermastiger Segelschifftyp des 14. bis 16. Jahrhunderts

v.20f vergoldet das harte / Heldengeschlecht
: Heinrich wünscht sich, dass die portugiesischen Entdecker von den afrikanischen Küsten mit Gold zurückkehren. Das Gold ist zugleich das Symbol für die Transzendenz.

v.21 entzogensten Küsten: Eigentlich erwartet der Leser die ‚entlegensten Küsten‘. Die an ein Zustandspassiv erinnernde Formulierung ‚die Küsten sind uns entzogen‘ verweist darauf, dass uns die (ehemals nahe) Transzendenz in die Ferne gerückt ist.

v.22 iridsche: Das explizite Attribut verweist implizit auf den Oppositionsbegriff von ‚irdisch‘: die Transzendenz.

v.23ff „denn dort unten … mit Antiqutäten eingerichtet“: Ein Bottroper Buchhalterpärchen (v.30) protzt mit den technischen Daten des Segelschiffes Sea Cloud, das gerade auf Kreuzfahrt in Monemvasia Station macht. Die genannten Daten sind (selbstverständlich) korrekt (Segelfläche, Masten, Anzahl und Ausstattung der Kabinen). Der genannte Preis dürfte sich auf ‚pro Person‘ beziehen. Diese fingierte direkte Rede ist als ironischer Einschub zu betrachten, der im Gegensatz insbesondere zur Sinnfrage (v.33) steht.

v.23 dort unten: Gemeint ist die Realität im Gegensatz zur Transzendenz ‚dort oben‘.

v.23 jaja: Das jaja klingt wie eine Bestätigung der morgendlichen Wahrnehmung des lyrischen Ich (vgl. zu v.2f).

v.23 Sea Cloud: Die Sea Cloud ist ein 1931 gebautes Luxuskreuzfahrtsegelschiff, das jetzt unter deutscher Flagge Traumschifffahrten anbietet. Der Name des Schiffes lässt sich auf der übertragenen Ebene auch als Verweis auf die Transzendenz deuten.

v.25 Kusadasi: Hafenstadt mit Yachthafen an der türkischen Ägäisküste

v.25f Hapag / Lloyd: Die Hapag-Lloyd AG Kreuzfahrten GmbH ist eine Tochtergesellschaft des Reiseunternehmens TUI AG.

v.26 ein uralter Traum: Für das Buchhalterpärchen ist es die Verwirklichung einer Traumschiff-Reise (vgl. dazu die bekannte Fernseh-Serie), für das lyrische Ich dagegen erscheint das morgendlichen Traum-Schiff (vgl. zu v.2f) als Erfüllung einer Sehnsucht (vgl. v.13ff).

v.26 müssen Sie wissen: Die Formulierung ironisiert den Zwang zur Anhäufung von (sinnlosem) Informationswissen (vgl. v.35) im Gegensatz zur Sinnfrage (v.33, vgl. auch dazu).

v.29 mittlerweile ist greller Mittag: Nicht nur die gleißende griechische Sonne, sondern auch der Gegensatz zur Transzendenz-entbergenden Nacht, die noch im Traum im Morgengrauen (v.1) nachwirkt.

v.29 Ruinen über dem Hafen: vgl. zu v. 41ff

v.31 und du bedankst dich: nicht nur der höfliche Dank für eine Information, sondern auch das Zurückweisen von überflüssiger Information

v.31f Weltwissen … / … sieben Jahre: Als Messgröße für den Umfang des Weltwissens wird in der Forschung die Anzahl der Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften genutzt; nach diesen Berechnungen wächst das Wissen seit Mitte des 17. Jahrhunderts mit einer Verdopplungszeit von ungefähr 15 Jahren exponentiell. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt sogar etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt.

v.33 aber die Sinnfrage: Das lyrische Ich setzt einen Gegensatz zwischen ‚Sinn‘ und ‚Informations-Wissen‘. Der Sinn ist für das lyrische Ich Daseins-konstituierend, während es sich für die Informationen ‚bedankt‘ (vgl. zu v.31).

v.33 Aschenbach: Der Protagonist aus Thomas Manns Erzählung ‚Der Tod in Venedig‘. Der Schriftsteller Aschenbach verliebt sich in Venedig in einen jungen Polen, bleibt trotz Cholera-Warnung (vgl. v.34) vor Ort und stirbt schließlich daran. Für Aschenbach beantwortet die Liebe die Sinnfrage.

v.36ff und blieb im Liegestuhl … / … / im Gegenlicht
: Zusammenfassung der letzten drei Absätze der o.g. Erzählung (v.33)

v.36 dämmernden Blick: Der Blick Aschenbachs entspricht dem Blick des lyrischen Ich in v.1ff.

v.37 Schattenriss: Der Begriff nimmt den Übergang ins Reich der Schatten vorweg.

v.39 schwarzfigurigen Fingern / plötzlich dies Götteraug: Hier ist nicht nur die konkrete Situation der Erzählung gemeint, wie der junge Pole dem verliebten Aschenbach vor der Sonne zu winken scheint, sondern es ist auch eine poetolgische Interpretation möglich: Durch die schreibenden Finger (gr. Daktylen) zeigt sich die Transzendenz, das Götteraug. Mit dem Begriff ’schwarzfigurig‘ wird wieder auf Griechenland verwiesen: Die schwarzfigurige Keramik gehörte zu den Haupttechniken der griechischen Vasenmalerei.

v.41ff: In den vier Schlussversen setzt das lyrische Ich sein poetologisches Konzept um: es dichtet. Die Rose, das traditionelle Symbol für die Transzendenz, umschließt mit ihren Blütenblättern die Transzendenz (vgl. dazu z.B. Rilkes VI. Sonett des zweiten Teiles der Sonette an Orpheus: „Rose, du thronende, … Kleidung / um einen Leib aus nichts als Glanz“). Mit dem sie sind die Menschen der Gegenwart gemeint, die in transzendenzferner Nacht verfließen. Dagegen steht das Kind, dem aus den Überresten der Transzendenz (Rosenblätter, Ruinen über dem Hafen (v.29)) ein Hoffnung, ein morgenrot dämmert.

v.44 zu Füßen
: Passend zu der poetolgischen Interpretation der Finger (vgl. zu v.39) können die Füße als Versfüße gedeutet werden. Der Versfuß der letzten vier Verse ist tatsächlich der Daktylus (-uu).
 
 
Aspekte der Form:

v.30 Bottroper Buchhalterpärchen: ironische Alliteration, Umwandlung des bilabialen B-Lautes in einen explosiven P-Laut.