Evangelistrias

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich denkt beim Anblick des fast verlassenen Nonnenklosters Evangelistrias auf der Peleponnes über An- und Abwesenheit der Transzendenz nach. Parallelisiert werden Himmel und Meer mit Transzendenz und Immanenz (Vergruppe I), die Gebete der Nonnen (gelebte Transzendenz) mit den Funksignalen in der Gegenwart (abwesende Transzendenz) und das Abschmelzen der Antarktis mit dem Verlust der Transzendenz (Versgruppe II). Das Abschmelzen der Antarktis könnte durch Schneefall landeinwärts kompensiert werden, dieser rational-messende Bezug auf die Welt wird als emotionslos, fruchtlos (‚abgeerntetes Stoppelfeld‘) und jugendlich unreif charakterisiert (Versgruppe III). Als Beispiel für eine ‚beständigere‘ Beziehung zur Transzendenz dient Telephos (der, obwohl in ‚amerikanisch‘ rationaler Umgebung aufgewachsen, die göttliche Herkunft bewahrt) und das Koan des Meister Ummon (das zeigt, dass, auch wenn der Baum verdorrt, das göttliche Pneuma weiterwirkt) (Versgruppe IV + V).

Evangelistrias


 
Stille
, behutsam
sich kräuselnd –
eine einzelne Nonne
nur ists,
die letzte vielleicht
im Halbrund

demütiger Zellen hier um die weiße Kuppelkirche
5hinter der nichts als
der unsterbliche Himmel
und
Steilsturz
des Felskaps ins schwankende Element.
Und
wir
, wo wir herkommen,
gipfelstolz
,
raumüberwindend

 
Stahlgittersignale von
Funkmasten

als
andres Epochen-Projekt
. Immerhin: weltweit –
10wenn sie denn tatsächlich abtaut,
die keusche Antarktis
,
wie einige
Glaziologen
glauben –
volle fünf Meter
weltweit hebt sich der Meeresspiegel und
selbst

Florida wird dabei überflutet
mit 33,33 Prozent seiner Millionäre;
 
15doch durch
Schneefall
landeinwärts, nach andern,
wird der Eisverlust kompensiert.
Messend

beziehn wir uns auf die Welt – Fastenzeit für Gefühle,
Askese als Strichcode.
Stoppelfeld
, sagst du,
abgeernteter Jugend? Nicht doch,
mein Mio
, nein,
20
keimen will es
, dein Kinn, deine Schönheit
tritt jetzt in ihre beständige Phase.
Telephos
,
 
ausgesetzt, zulpte an Hindinnenzitzen,
lernte laufen bei
krummbeinigen Cowboys
und wurde
erst recht Spross des Herakles
.
Aber der Baum
,
25wollte das Mönchlein wissen,
wenn er verdorrt, die Blätter fallen?
 
Vollkommene Manifestation
des goldenen Windes. Sprach Ummon.
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Das Kloster Evangelistrias liegt auf der Peleponnes.

v.1 Stille: Gemeint ist sowohl die Stille, die das lyrische Ich auf dem Felskap beim Kloster über dem sich kräuselnden Meer wahrnimmt, als auch die mystische Stille, aus der eine Beziehung zur Transzendenz entspringt.

v.2 eine einzelne Nonne: Die Nonne steht – wie das korrespondierende Mönchlein (v.25) – für den Transzendenzbezug des Menschen.

v.3f im Halbrund / … Kuppelkirche: Das Bild des Klosters mit der einzelnen Nonne, das das lyrische Ich hier beschreibt, steht sinnbildlich für die Situation der Transzendenz in der Jetztzeit.

v.5 der unsterbliche Himmel: Das Adjektiv, das dem Himmel (der Transzendenz) Unsterblichkeit beilegt, verweist darauf, dass der Mensch sterblich ist. Das Motiv der Sterblichkeit wird mit dem ‚verdorrten‘ Baum (v.26) wieder aufgenommen.

v.6: Wie in v.3f kann hier das Bild der Natur als Widerspiegelung des Verhältnisses von Transzendenz (Kuppelkirche auf Felskap) und Immanenz (schwankendes Element = Meer) gesehen werden.

v.7 wir: Das wir, das lyrische Ich und der Leser, also der moderne Mensch wird der ‚einzelnen Nonne‘ entgegengesetzt. Der moderne Mensch wird als ’stolz‘ und den Raum beherrschend charakterisiert.

v.7 gipfelstolz: Der moderne Mensch wird als Subjekt dargestellt, das einerseits ständig Leistung erbringen muss und andererseits meint, stets Höchstleisung erbracht zu haben.

v.7 raumüberwindend: Der moderne Mensch ist stolz darauf, nicht nur den Raum der Erde, sondern auch den Weltraum zu erobern.

v.8: Die ‚Funksignale von den Stahlgittermasten‘ stehen im Gegensatz zu den (nicht erwähnten Gebeten in den) weißen Kuppelkirchen.

v.9 andres Epochen-Projekt: Das Gebet ist durch das Funksignal, die Religion durch die Technik ersetzt worden. Mit dem Begriff ‚Epoche‘ wird suggeriert, dass es in Zukunft auch weitere – möglicherweise auch wieder religiöse – Epochen geben könnte.

v.10 die keusche Antarktis: Das Abtauen der Antarktis wird durch das Attribut ‚keusch‘ mit der Nonne und der weißen Kuppelkirche in Verbindung gebracht als Hinweis auf das Verschwinden der Religion.

v.11 Glaziologen: Glaziologie (Gletscherkunde) ist die Wissenschaft von Formen, Auftreten und Eigenschaften von Eis und Schnee. Sie ist eine der wichtigsten Disziplinen der Polarforschung und eine Datenquelle der Klimatologie.

v.12 volle fünf Meter: Einige neue Forschungsergebnisse (Sondergutachten des wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung von 2006) lassen innerhalb von 300 Jahren einen Anstieg des Meeresspiegels um 2,5 m bis zu 5,1 m erwarten.

v.12 selbst / Florida: Das selbst ist hier ironisch zu verstehen: natürlich wird bei einem Anstieg des Meeresspiegels auch das Millionärsparadies Florida nicht verschont.

v.15 Schneefall: Die mit dem Abtauen der Antarktis verbundene wärmere Luft führt in der zentralen Ostantarktis zu vermehrten Schneefall, der Gletscher dort wachsen lässt. Dies kann nach neueren Forschungen das Abtauen allerdings nicht kompensieren.

v.16ff Messend / … / … Strichcode: Charakterisierung des ‚Weltbezuges‘ der instrumentellen Vernunft (Strichcode und Emotionslosigkeit) als Gegensatz zur religiösen Weltanschauung, die durch die Begriffe Fastenzeit und Askese evoziert wird.

v.18f Stoppelfeld, sagst du, / abgeernteter Jugend?: Möglicherweise eine Anspielung auf Hölderlins Gedicht „An die Natur“ („Tot ist nun, die mich erzog und stillte, / Tot ist nun die jugendliche Welt, / Diese Brust, die einst ein Himmel füllte, / Tot und dürftig wie ein Stoppelfeld;“ VII, v.1-4). Das angeredete du wäre dann Hölderlin, dessen Position (das lyrische Ich betrauert den Verlust von Natur und Glauben) aber im Folgenden (v.19ff) widersprochen wird.

v.19 mein Mio: Möglicherweise Anspielung auf das Jugendbuch von Astrid Lindgren „Mio, mein Mio“, in dem geschildert wird, wie ein Waisenjunge ein Traumland von einem bösen Ritter erlöst.

v.20f keimen will es … / … beständige Phase: Im Gegensatz zu Hölderlin (vgl. zu v.18f) wird hier der Übergang von der Jugend zum Erwachsenen (Bartwuchs) nicht als ein Verlust gesehen, sondern als ein Gewinn an Schönheit, als Beginn einer stabileren Weltbeziehung.

v.21 Telephos: Sohn der Halbgottes Herakles, der ausgesetzt wurde, weil ein Orakel ihn als zukünftigen Mörder brandmarkte, der in der Wildnis aber überlebte, weil eine Hirschkuh (Hindinnenzitzen v.22) ihn säugte.

v.23 krummbeinigen Cowboys: Hier wird assoziativ die Hirschkuh mit den (amerikanischen) Kuhhirten verbunden. Dies steht exemplarisch für das Bewahren des Transzenzdenzbezuges von Einzelnen (einzelne Nonne v.2) in der rationalisierten westlichen Zivilisation.

v.24 erst recht Spross des Herakles: Dass Telephos in einer feindlichen (transzendenzfernen) Welt überlebt, zeigt das Fortwirken seiner göttlichen Abkunft.

v.24ff Aber der Baum /… / des goldenen Windes: Ein Koan der Zen-Meisters Ummon. Ein Koan ist eine kurze Anekdote, die zur Ausbildung eines Zen-Schülers benutzt wird. Das zitierte Koan ist das 27. des Hekiganroku. Das Hekiganroku (dt. etwa Aufzeichnungen des blaugrünen Felsen) ist eine Sammlung von 100 Kōan aus der Blütezeit des chinesischen Chan-Buddhismus. Das Koan kann in diesem Gedicht folgendermaßen verstanden werden: Auch wenn die Transzendenz sich entfernt (‚Der Baum verdorrt‘), gibt es eine höhere Ebene, in der das Vergehen ‚aufgehoben‘ (im ‚goldenen Wind‘) ist und eine Wiederannäherung möglich erscheint.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus fünf Versgruppen (7/7/7/5/2), eigentlich aber aus vier Siebener-Gruppen. Die beiden letzten Verse sind abgesetzt und zeigen damit die höhere Ebene der Transzendenz.

v.6 Steilsturz des Felskaps: Der doppelte Hebungsprall verweist auf die gefährdete Stellung des lyrischen Ich.

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