Ieraki Limena

Überblickskommentar:
 
Auf einer Wanderung auf der Peloponnes sieht das lyrische Ich plötzlich den Binnensee bei Ieraki Limena (Versgruppe 1) und wird sich bei dessen Anblick der Tatsache bewusst, dass es trotz der Entfernung des modernen Menschen von der Transzendenz immer noch durch einen inneren Kern mit ihr verbunden ist. Diesen Kern findet es in archetypischen Symbolen (VG 2) und in der Verschränkung der Photonen in der modernen Quantenphysik (VG 3). Er klingt in allen Wesen, wie auch schon Buddha in seiner Erleuchtung erfuhr (VG 4). Die letzte Versgruppe kehrt zum Bild des Binnensees zurück und zeigt dann die Wesensgemeinsamkeit am Beispiel der zu 99% gleichen Genome von Mäusen und Menschen.

Ieraki Limena


 
Von halber Höhe
aus plötzlich
– zwischen Bergzügen, hinter denen irgendwo
Küste beginnen muss, und von Olivenhainen umfangen
und Weingärten und weißen Häusern –
5
der See
: zu klein, wie er da liegt, für die Menge der weiteverwöhntenDer Binnensee
Yachten und Fischereifahrzeuge. Denn
in Not und Gefahr
,
 
in Krisensituationen –
das Bewusstsein aber
, zu weit
hat es sich schon entfernt vom Kern, vom Unhintergehbaren der Person –
werden die tieferen Schichten mobilisiert, kann es
10zu Überschwemmungen mit
archetypischem Material
kommen: Flugdrachen,
sonneverdunkelnd,
oder auf Schäfchenwolken erdenwärts auch
Engel
, Blumen einer andern Welt im Strahlenhaar,
vom Selbst zum Ich
15die Überbringer heller Energien –
Lichtquanten
,
 
und bleiben
– sogar wenn paarweise
polarisiert und scheinbar nichts sonst als das wechselseitige
Gedächtnis ihrer Schwingungsrichtung – nur umso mehr
und über makroskopische Distanzen
 
20auf ihre Quelle rückbezogen. So wars der Morgenstern,
bei dessen Anblick
Shakyamuni
im achten Jahr

zur Wirklichkeit aufwachte:
Alle Wesen

sind mit der Wesensnatur ausgestattet!
Und von allem dem
25singt ein
Erinnern
gleicher Melodie
uns im Gehör,
klingt mir in deiner
,

dir in meiner Stimme,
wenn der Blick sich
30in die Tiefe klärt.
Wie Binnenseen
, die sehr unvermutet
 
durch schmale Fahrrinnen demselben
Ozean sich grenzenlos verbinden – nicht anders,
da in
nur einem einzigen Prozent ihrer Gene

völlig verschieden, Menschen und Mäuse: sodass
35das Nagergenom
uns
freundlich
den Weg aus der
Erbkrankheit
weist.
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Ieraki Limena (engl.: Limenas Gerakas) ist eine Stadt an der südlichen Ostküste der Peloponnes mit einem Hafen, der an einer Art Binnensee liegt und der nur durch eine schmale Fahrrinne mit dem Mittelmeer verbunden ist.

v.1ff: In der ersten Versgruppe wird der Moment beschrieben, wie das lyrische Ich auf einer Wanderung auf der Peloponnes plötzlich den Binnensee bei Ieraki Limena sieht. Wie sich später zeigt (v.30ff), wird diese Wanderung als Bild für die Suche des Menschen nach der Transzendenz genutzt. Von halber Höhe gibt die Position des Menschen zwischen Himmel und Erde wieder.

v.5f: Anzunehmen ist, dass der See ein Symbol für den transzendenten Kern des Menschen ist. Er ist zu klein, weil die Verbindung zur Transzendenz schmaler geworden ist. Und auch aus der Sicht der Menge, die nur an Vergnügen (Yachten) und Ökonomie (Fischereifahrzeuge) interessiert ist und ins Weite strebt, ist er zu klein. Wird der See als ein Symbol für das Unbewusste verstanden, birgt er trotz seiner Kleinheit die Möglichkeit sich ins Unendliche zu weiten, d.h. die Beziehung zur Transzendenz aufzunehmen.

v.6 Denn in Not und Gefahr, / in Krisensituationen: Die Gegenwart, die die Verbindung zur Transzendenz zu verlieren droht, wird als Krise verstanden. Wie in einem Krankenheitsverlauf ist die Krise aber auch der Umschlagspunkt, von dem aus das Rettende (aus den tieferen Schichten (v.9)) eintreten kann. Das erinnert an Hölderlins Ode „Patmos“: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ (v.1-4). Zu denken ist auch an das Gedicht „In Gefahr und großer Not / bringt der Mittelweg den Tod“ von Friedrich von Logau und den (fast) gleichnamigen Film Alexander Kluges.

v.7f das Bewusstsein aber, … / … Unhintergehbaren der Person: Dem Bewusstsein inhärent ist die Fähigkeit, sich von seinem Urgrund, dem Kern zu entfernen. Dieser Kern ist von der Rationalität / Reflexivität nicht erreichbar (‚unhintergehbar‘). Vgl. dazu Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität.

v.10ff: Zugrunde liegt die Tiefenpsychologie von C.G.Jung, in der die Archetypen und deren Wirken im Unbewussten dargestellt wird. Als solche archetypischen Vorgänge werden hier die Flugdrachen, / sonneverdunkelnd und die auf Schäfchenwolken erdenwärts (schwebenden) … / Engel benutzt.

v.13ff Engel … / … / heller Energien: Im christlichen (und auch im tiefenpsychjologischen) Verständnis sind Engel Überbringer transzendenter Botschaften. Sie vermitteln Energien aus dem umfassenden Selbst in das rational eingeschränkte Ich.

v.15 Lichtquanten: Die Bezeichnung ‚Lichtquant‘ wird gelegentlich auch für das Photon verwendet. Das Photon ist die elementare Anregung (Quant) des elektromagnetischen Feldes. Anschaulich gesprochen sind Photonen das, woraus elektromagnetische Strahlung besteht. Möglicherweise übersetzt die Metapher Engel (mit) Blumen einer anderen Welt im Strahlenhaar (v.13) die quantenphysikalische Erkenntnis ins Poetische.

v.16ff: In der 3. Versgruppe bezieht sich das lyrische Ich auf die Quantentheorie. Quantenverschränkung meint, dass zwei Teilchen eine nichtlokale Verbindung miteinander eingehen können (z.B. durch Polarisation), die man als ‚Verschränkung‘ bezeichnet. Messungen bestimmter Zustände verschränkter Teilchen sind korreliert, d.h. misst man die Polarisation des einen Teilchens, weiß man ohne weitere Messung den Zustand des anderen. ‚Nichtlokal‘ bedeutet, dass auch bei Trennung und bei beliebiger Distanz (also auch über makroskopische Distanzen (v.19)) dieser Zustand erhalten bleibt, die Teilchen also ein wechselseitiges / Gedächtnis (v.17f) füreinander behalten. In der Quantentheorie gibt der Spin die Schwingungsrichtung (v.18), den Drehimpus eines Teilchens an. Der Autor nutzt diese quantentheoretischen Erkenntnis, um eine ‚Verschränkung‘ zwischen Immanenz und Transzendenz, dem lyrischen Ich und seiner Quelle (v.20), dem Göttlichen darzustellen.

v.21 Shakyamuni: Neben der Bezeichnung als Buddha – der „Erwachte“ – wurden Siddhartha Gautama auch andere Ehrennamen verliehen, darunter Shakyamuni (der Weise aus dem Volk der Shakya).

v.21 im achten Jahr: Mit 35 Jahren sah Siddhartha am 8. Dezember (!) bei Tagesanbruch den Morgenstern (Venus) und hatte eine Erleuchtung. Er wurde von einer einfachen, normalen Person in ‚Den Erleuchteten‘, den Buddha umgewandelt. Die Acht spielt in Buddhas Lehre eine herausragende Rolle: Der achtfache Pfad führt zur Erleuchtung.

v.22f Alle Wesen / … ausgestattet!: Die Kursivierung dieses Satzes legt die Vermutung nahe, es handle sich um ein Buddha-Zitat. Dies konnte leider bisher nicht verifiziert werden. Es entspricht aber im Kern der buddhistischen Lehre, die davon ausgeht, dass die Erleuchtung darin besteht, die Erfahrung der göttlichen All-Einheit zu machen.

v.25 Erinnern: Das Erinnern lässt sich als Parallele zur Nichtlokalität in der Quantentheorie (s. zu v. 16ff) deuten: Auch bei zeitlicher Entfernung trägt jeder Mensch ins sich die gleiche Melodie, eine Erinnerung an seinen Ursprung.

v.27f: Nicht nur der Einzelne ist mit seinem Ursprung verbunden, alle Menschen sind über die gemeinsame Wesensnatur miteinander verbunden.

v.30ff Wie Binnenseen, … / …. grenzenlos verbinden: Wiederaufnahme des Bildes aus der ersten Versgruppe (vgl. zu v.1ff und v.5f)

v. 33f: Wissenschaftler haben das Erbgut der Maus nahezu vollständig sequenziert und im Internet veröffentlicht. Rund 99 Prozent der Nager-Gene besitzen, so zeigt der Vergleich, eine menschliche Entsprechung (Spiegel 05.12.2002).

v.35 uns: Der Plural zeigt, dass das lyrische Ich nicht mehr nur von sich als Individuum, sondern jetzt von allen Menschen spricht, die alle mit dem Grenzenlosen verbunden sind.

v.36 Erbkrankheit: Gemeint ist hier nicht eine genealogische Erkrankung, sondern die Selbstüberschätzung (Superbia) des modernen Menschen, die ihn immer weiter von der Transzendenz entfernt. Diese Entfernung kann aufgehoben werden durch das Bewusstsein der gemeinsamen Wesensnatur aller Wesen, also auch der Menschen und Mäuse.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht ist symmetrisch um die mittlere, dritte Versgruppe angeordnet (6/9/4/9+2/6), in der die Quantentheorie genutzt wird, um die Verbindung zwischen Immanenz und Transzendenz zu konstatieren. Zu den in 4. Versgruppe eingeschobenen Versen 27f vgl. den Stellenkomentar.