De profundis

Überblickskommentar:

In der ersten Versgruppe fängt das lyrische Ich in einer Kneipe den Blick eines Gegenübersitzenden auf und wird davon bis ins Herz getroffen (dies ist dem lyrischen Ich ebenso unerklärlich wie die Gültigkeit mathematischer Gesetzmäßigkeiten). Der Gegenübersitzende – nur interessiert an Titten und Tor – verhält sich aber abweisend. Die zweite Versgruppe bringt die Sage vom Untergang Vinetas, die dritte beschäftigt sich mit einer Spur Vinetas und die vierte zeigt das Nachdenken des Försters über diesen Fund.
 
Auf der übertragenen Ebene ringt das lyrische Ich um seine Beziehung zur Transzendenz, hofft sie in der Liebe finden zu können, wird aber von der transzendenzlosen Gegenwart in einen Abgrund fallen gelassen. Dieser Abgrund wird mit dem versunkenen Vineta parallelisiert, der verlorenen Religiosität, deren Überreste ein stiller Leser im Übergangsbereich zwischen Immanenz und Transzendenz – dem Gedicht – wiederfinden kann.
 
Ein verwandter Umgang mit der versunkenen Religiosität ist z.B. in dem Vineta-Gedicht des Romantikers Wilhelm Müller zu finden.

De profundis


 
Warum
mathematische

Gesetzmäßigkeiten gelten
keine
Wissenschaftstheorie
kann es erklären –
wie erst
warum jetzt mir

5als vom Tisch gegenüber
warum dieser Blick
braun unter schmaler Stirn
der sich nur kaum
aufheben wollte vom Sportteil
und der nach der Kellnerin zielend
10irritiert zwischen Titten und Tor jetzt
mit meinem plötzlich sehr tief –
außer Kontrolle

der Atem rasende Herzfrequenz
Blutandrang in den Schläfen –
erschrocken
die Klinge kreuzt
15und lässt mich nach halbherziger Parade als
nicht satisfaktionsfähig fallen
 
in diesen
Abgrund

weit genug für ein
zweites
Vineta

dem eines Abends – so stürmisch
20stieg da die Flut – alle
zwölf Hafentore

stockten
sodass
 
übrig nach Jahr und Tag
übrig blieben
acht Ringe
Vineta mit den acht Ringstrukturen
die
ein stiller pommerscher Förster

25beschäftigt mit Wildbret und Fährten
zufällig aus dem
Ufersand
hob
genau acht

 
aber immerhin Ringe
und jedenfalls
Gold

30das er
sinnend
in seiner Hand wog
manchmal über der
Zeitung
oder
liebevoll auch beim Bier
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Beginn des 130. Psalms (De profundis clamavi ad te Domine: Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir); ein Gebet um die Vergebung der Sünden, das mit dem Erwarten der Erlösung endet. Das lyrische Ich fällt in Vers 16f in diese Tiefe, in diesen Abgrund (v.17), der hier als Transzendenzferne zu interpretieren ist.

v.1f mathematische / Gesetzmäßigkeiten: Mathematik als Geisteswissenschaft verstanden im Gegensatz zu den Naturwissenschaften

v.3: Keine heutige Wissenschaftstheorie kann erklären, warum mathematische Modelle zutreffende Aussagen über die Natur machen können.

v.4 wie erst: zu ergänzen wäre ‚könnte erklärt werden …‘

v.4ff warum jetzt mir … / … dieser Blick: Das lyrische Ich fragt sich, warum es vom Blick des am Tisch gegenüber Sitzenden getroffen wird. Genauso rätselhaft wie die Übereinstimmung von Natur und Geist ist dem lyrischen Ich, warum es von Amors Pfeil plötzlich sehr tief (v.11) getroffen wird.

v.7ff: Das Gegenüber des lyrischen Ich hat eine anderer Welthaltung: Sportteil, Kellnerin, Titten und Tor. Es erhebt kaum seinen Blick, sondern ist der ‚platten‘ Realität verhaftet.

v.11ff außer Kontrolle / … in den Schläfen: Beschreibung der physiologischen Reaktionen auf den ‚coup de foudre‘ (man wird vom Blick einer anderen (unbekannten) Person wie von einem Blitz getroffen). Der Vorgang lässt sich genauso wenig erklären wie Vorgang der Übereinstimmung von Geist und Natur (vgl. zu v.3). Die Reaktion zeigt, dass das lyrische Ich in der Liebe die Transzendenz sucht.

v.14ff erschrocken … / … satisfaktionsfähig fallen: Auch das Gegenüber erschrickt, aber nicht aus Zuneigung, sondern wehrt den tiefen Blick eines anderen Mannes als Zumutung ab. Dieses ehrenrührige ‚Angebot‘ scheint zu einem Duell zu führen, dann aber wird das Gegenüber für nicht satisfaktionsfähig gehalten. Auch als Objekt der Befriedigung kommt es nicht in Frage.

v.17 Abgrund: vgl. zum Titel

v.18 zweites: Das lyrische Ich versinkt in einen Abgrund, der so groß ist wie das sagenhafte untergegangen Vineta (vgl. dazu v.18 Vineta).

v.18 Vineta: Untergegangene sagenumwobene Stadt an der südlichen Ostseeküste (Pommern), die wegen Hochmut und Verschwendung ihrer Bewohner in einer großen Flut versank. Sie erscheint immer am Ostermorgen auf dem Meeresspiegel, um dann – wenn sie nicht erlöst wird – wieder zu versinken. Am Johannistag sind angeblich ihre silbernen Glocken aus der Ostsee zu hören.

v.20 zwölf Hafentore: Um 965 berichtet der jüdisch-maurische Kaufmann Ibrahim Ibn Jakub al Isreli von einer großen Handelsstadt an der Ostsee: ‚Sie haben eine große Stadt am Weltmeer, die zwölf Tore und einen Hafen hat.‘

v.21 stockten: Die Schließung der Hafentore ’stockte‘, wie das Blut in den Adern stockt (ähnlich in v.11ff).

v.23 acht Ringe: Dass hier nicht (wie sonst in der Sage üblich) die Glocken an den Untergang Vinetas gemahnen, sondern acht Ringe, könnte auf die Versuche verweisen, die Sage ernst zu nehmen und die Lage Vinetas zu bestimmen. Der Mathematiker Benno Beginn vermutet Vineta bei der Ostseestadt Barth und meint dies mit alten Luftaufnahmen, auf denen sich (acht) ringförmige Strukturen zeigen, belegen zu können. Im Gedicht sind aber nicht nur die ringförmigen Strukturen gemeint, sondern der Ring als Symbol für die Treue zur Transzendenz (vgl. zum Titel). Die acht ist in der christlichen Zahlensymbolik die Zahl des Neubeginns, der geistigen Wiedergeburt, es ist auch die Zahl der Taufe und der Auferstehung, Symbol des Neuen Bundes.

v.24 ein stiller pommerscher Förster: In Benno Beginns Recherche zur Lage Vinetas (vgl. zu v. 23 acht Ringe) taucht ein Förster als Zeuge für die ringförmigen Strukturen auf, die auf Vineta hinweisen könnten. Wie auch bei den Glocken (vgl. zu v. 23 acht Ringe) folgt der Autor hier nicht der Sage, in der ein Fischer das auftauchende Vineta sieht, sondern er nutzt einen Förster als Fährtensucher.

v.26 Ufersand: Das Ufer kann hier als Übergangsbereich zwischen Immanenz und Transzendenz gesehen werden.

v.26f zufällig … / genau acht: Die Betonung der acht hebt die ‚Zufälligkeit‘ des Fundes im Sand auf.

v.29 Gold: die traditionelle Farbe der Transzendenz

v.30: Mit dem Förster, der die Ringe sinnend in seiner Hand wog, könnte man den Leser parallelisieren, der den Sinn und den Wert eines Gedichtes abwägt.

v.31f: Mit der Zeitung und dem Bier wird das Bild aus der ersten Versgruppe wieder aufgenommen (v.5-10: Der dem lyrischen Ich Gegenübersitzende blickt vom Sportteil seiner Zeitung auf, um bei der Kellerin ein weiteres Bier zu bestellen.). Im Gegensatz aber zur Reaktion des Gegenübers in der ersten Versgruppe steht der Förster der Annäherung an die Transzendenz liebevoll gegenüber.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus zwei Teilen (Versgruppe 1 mit 16 Versen, Versgruppen 2-4 ebenfalls 16 Verse). Der erste Teil zeigt die Perspektive des lyrischen Ich. Im zweiten Teil ist das lyrische Ich verschwunden (im Abgrund), an seine Stelle tritt die Sage von Vineta und der ’sinnende‘ Förster. Diese Aufteilung der Versgruppen verdeckt die sginifikante Rolle der acht: Man könnte das Gedicht auch in vier Versgruppen zu je acht Versen gliedern.

v.10 Titten und Tor: Die alliterierende Vulgarität wird durch das hinzutretende tief (v.12) aufgehoben.

v.16f: Die Leerzeile zwischen Versgruppe 1 und Versgruppe 2 (genau die Mitte des Gedichtes) versinnbildlicht den Abgrund, in den das lyrische Ich fällt.

v.21f: Die Leerzeile zwischen Versgruppe 2 und Versgruppe 3 und die Einrückung des Verses 22 versinnbildlichen die Flut, in der Vineta versinkt.