Schienengeschichte

Überblickskommentar:

Das Gedicht folgt nicht der chronologischen Ordnung: Die Strophe I ist zeitlich zwischen die Strophen VI und VII einzuordnen. Strophe VIII ist eigentlich zeitlose Reflexion. Der Gang der Handlung chronologisch:

II Das lyrische Ich blickt reflektierend und melancholisch auf Welt und Sonnenuntergang. Bewegung als Illusion. (v.19-27)
III Unglücklich über den Stillstand ist das lyrische Ich später bereit, sich in die Welt zu begeben und Verantwortung zu übernehmen. (v.28-36)
IV In einem Hochgeschwindigkeitszug sucht es das Glück (v.37-45)
V und begegnet einem sportlich wirkendem jungen Mann. (v.46-52)
VI Das Ich setzt sich neben ihn und beschließt, ein Gespräch zu beginnen. (v.53-59)
I Monolog des Ichs, der junge Mann hört zu. (v.01-18)
VII Der junge Mann nutzt eine Atempause des Ichs, um technische Einzelheiten aufzuzählen. (v.60-72)
VIII Das Ich sinniert mit Beispielen aus Antike und Gegenwart, warum zwei Personen nicht zueinander finden.(v.73-81)
IX Der junge Mann (uninteressiert) ist indessen eingeschlafen, (v.82-90)
X das Ich betrachtet ihn und versucht sich in seine Psyche einzufühlen. (v.91-99)
XI Das Ich wünscht sich, die Anima (den weiblichen Anteil) des Schlafenden zu aktivieren und ihm eine Seele zu geben. (v.100-108)

Für die mythologische Schicht des Gedichtes spielt das Schicksal des Phaethon eine Rolle. Phaethon, Sohn des Helios (vgl. v.51), bittet seinen Vater, einmal den vierspännigen Sonnenwagen (vgl. die 4 Hochgeschwindigkeitszüge in Strophe VII) lenken zu dürfen. Helios versucht vergeblich, ihn von diesem Plan abzubringen (vgl. das Thema der drohenden Vorzeichen in Strophe I). Bei der Fahrt des Phaethon lenkt dieser den Sonnenwagen zunächst zu weit von der Erde, dann zu nah, sodass ein Weltbrand droht. Zeus tötet den ungeschickten Lenker mit einem Blitz, Phaethon stürzt in einen Fluss (vgl. v.9), seine trauernden Schwestern werden in Pappeln am Flussrand verwandelt (vgl. Strophe XI), sein Geliebter Kyknos eilt herbei und trauert um ihn. Von Apoll wird er daraufhin aus Mitleid in einen Schwan verwandelt.

Die einzelnen Strophen haben auf einer zweiten Ebene jeweils besondere Themen:

I Das Deuten von Zeichen im Hinblick auf das zu erwartende Schicksal, die Betrachtung mit dem Ziel der Ideenschau.
II Bewegung und Änderung der moralischen Haltung in der Moderne als Illusion.
III Angeregt durch Erhabenheit des Gefühls übernimmt das lyrische Ich Verantwortung.
IV Das Ich beschließt Teilhabe an der Moderne, hier symbolisiert durch Zugfahrten.
V Der junge Mann vertritt die Charakteristika der Moderne: Zielgerichtetheit, Bewusstheit und Tatendrang.
VI Versuch durch Kommunikation die Differenzen mit der Moderne zu überwinden.
VII Die Antwort des jungen Mannes enthüllt unfreiwillig die unterschwellige erotische Dimension der Technik.
VIII Erörterung des Ortes, durch den Kommunikation/Beziehung möglich wird.
IX Scheitern der Kommunikation, dargestellt durch zwei unterschiedliche Funktionen des Hirns (Orientierung / Schlaf)
X Parallelisiert mit dem Aufgehen der Sonne wird das Heraufkommen der Ideen, die im Gegenüber geschaut werden.
XI Gestaltet wird der Wunsch, die moderne technische Welt zu beseelen.

Am Beispiel der Begegnung eines klassisch gebildeten Mannes mit einem jungen technikbegeisterten Mann wird im Gedicht über die Sinnhaftigkeit von Zeit, Bewegung und Ziel in der gegenwärtigen Welt nachgedacht. Die Fahrt und der Sturz des Sonnenwagens/der Hochgeschwindigkeitszüge sind als Gefährdung der Erde durch unreflektiert genutzte Technik zu deuten.

Schienengeschichte


 
IÜber die Wolken zunächst sprichst
du
die
Wolkenzüge

und ihre rasende Auffahrt schwarzblaue Pracht
unter
hermetischen Himmeln
aber am Rücken
sehen
Sie
nur wie
ungebändigt dies Flügelschütteln

5Wetterumschlag das ist die Gefahr
falls rot heute nacht
noch
denn mit Bedacht aus
Vorzeichenliteratur
hatte sie zu bestehen
Assurbanipals große Bibliothek
zu einem vollen Drittel
weil auch jetzt sagen Sie selbst dass es wahr ist
Bussarde nicht ohne Grund überall
stürzen sie
tot aus der Höhe
10
Benvenuto Cellini
zumindest man weiß an zwei Löchern nur hing es
die er bemerkte in seinem Block und schon war es ein
Narziss
Benvenuto Cellini: Narziss
den er machte pfeif auf den Herakles
denn nach Betrachtung

nur nach Betrachtung glauben Sie mir verlangen die Dinge
die vernünftigen wie auch die vernunftlosen und sollen
15selbst
Buschmannträger
wenn zur Begleitung der
Jagd

denken Sie Buschmänner sogar nach einer Zeit
setzen sich nieder wartend bis ihre
Seelen
sie einholen
sie selbst nämlich sind sich ihr
eigenes – –

 
II
kurzum
bei Einbruch der Dunkelheit
20täglich wenn du hinaustrittst auf deine Terrasse
Blick gen Westen
wo glühend schienenmobil
der Hochgeschwindigkeitswurm sein Raumpotenzial
ausreizt auf
Neuzeitnomadenfraß
die
ankommen
denkst du werden sie wie gewohnt
25dort wo sie immer schon sind und
als moralische Anstalt

zeitgemäß läuft nur Zelluloid nachher gleich
Chaplin

zweidutzendmal die Sekunde Bewegung
als Illusion
 
III
spät
dann jedoch wenn der
Stillstand
zehrt
und
der Stolz zu schwächeln beginnt

30nochmals die Terrasse rings aber der
Abgrund nun

schwärzester Nacht und
die Leuchtschrift der Sterne

ein
Pochen
fühlst du da plötzlich im Puls ein Pochen wie alles
sechshundert Kilometer in jeder Sekunde

wie es
Kurs hält blindlings auf die Feuer der Hydra

35und halb besinnst du dich da und halb
auf deine
Verantwortung
für die Welt
 
IVund
hin und her
und findest dich wieder
auch du irgendwann dann im
ICE
Ausfahrt Saarbrücken

oder kurz hinter Paris
TGV-gestählt

40zwischen blassgelb zerplatzenden
Banlieues

oder im
Shinkansen
gar wenn er ein
taifungefügter

Blitz nach
Yodogawa
abzischt und den
Fujisan
Der Shinkansen vor dem Fujisan
samt allen fünf Seen
auf Endzeit beschleunigt

du aber für diesmal bist du der Meinung
45
rund ist die Kugel
und ja dass du
Glück
haben kannst
 
Vund richtig: Einer zumindest scheint es
einer ist immer dabei das
Gesicht
die reine
Chiffre für ein Dorthin

kampfgewohnt
und
ordentlich aufgeräumt

50wie ein Stadion am Tag vorm Finale
denn
von Siegen nähren sich
welche Söhne sind

der Sonne und Kraft ist ihnen die Lust ihrer Taten
 
VIda heißt es gut an sich halten
und
visuelle Übergriffe
vermeidend
55kurz ein Gruß und ein Platz schräg im
Blickschatten

mit Sicht hinaus in die
steigende Dunkelheit

ob
Greifvögel
vielleicht oder frühe Fledermäuse
um ihn beiläufig genug zu einem Gespräch
zu versuchen über den
Wald und die Witterung
heute
 
VII
aber dann
zwischen Jagdzug genau in die
Atempause

61und Ziel platziert er dir
souverän
das Gesetz des Druckausgleichs

bei gelöster Bremse und die Vorzüge der
Neigetechnik
– in Italien
der
Pendolino
der
X2000
in Schweden – Aufbau
und Fahrgestell hydraulisch gegeneinander
65beachtlich auch
CargoSprinter
die Transporteinheit im Normalfall
zehn Wechselbehälter à 16 t Eigengewicht
oder die
Polyurethanschwellen
mit ihrem
fulminanten

Anwachsen auf 400 PS pro Radachse glasfaserverstärkt
Rekord ist Japan aber beim
Transrapid
wo die Hoffnung liegt
70
Führmagnet
Leitschiene Stator kein Rollreibungsverlust
der Motor die wandernden Felder Werk
einer
vollkommen neuen Schöpfung ohne direkten Kontakt

 
VIII
Strabo
als Geograph sieht die Sache räumlich ein Fluss
der
Halex
ist es für Strabo an dem sich die Geister scheiden
75denn die Grillen am lokrischen Ufer zirpen sie sagt er
an dem von Rhegium dagegen haben sie keinen Ton
für
Aristoteles
wiederum war beim Denken das Herz von Bedeutung
das Hirn aber sorgte für Kühlung im Blut
doch in Wirklichkeit
wissen wir
sinds die Neuronen
80
Spiegelneuronen
sinds heute woran alles hängt
weil sie verantwortlich sind für wenn es nicht funkt
 
IXdu also im
Rekordegewirr

während du kurz an den
Ultraschall
denkst
und die
Fledermaus
die für den kleinen Frequenzentrick
85mehr als die Hälfte des Hirnrindenraums reserviert
hat jener das
Sprintergesicht
schon zur Seite
stumm
in die Schlummerstützen gedrückt
und hat dich wie einen ausgelaugten
Luftkurort Plau am See
beispielsweise
90unvorgewarnt
aus dem Netz genommen

 
Xund im
Staunen
wenn nun deine Augen
reglose Kristallkugeln
rätseln
was
dämmernd
hinter der
Stirn
dort heraufkommt
contemplando
fisso fisso
La bionda in gondoletta
95quella bocca e quel sen
und ist
atmende Bahn nur des Schlafs
was
ihr Schauen erfühlt

anschwellend abschwellend Woge
zeither und ist
Urflutschwere
je länger sie schaun über dem Urhügel der
hinauf
ins lebendige Licht
will
 
XIda als
Sturmgott
am liebsten oder ein wilder Kriegsmann
101
Asag
z.B. der gegen Axthiebe unempfindlich und Speerwurf
Geschlechtsverkehr haben konnte sogar mit Felsen
oder wenigstens
Seeheld
und maststolz zum Siege nahend
ja
eindringen
möchtest du da machtvoll ins
Vorweltgefilde

105möchtest
an weißen Händen
– ganz hell
müssen sie sein wenn sie vom Grund zu dir hin
sich heraufstrecken weiß und wie
Seenelken
kühl –
eine
Meerjungfrau
dir an die Brust ziehn

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Die Gattungsbezeichnung ‚Geschichte’ weist darauf hin, dass hier ein längeres Gedicht, ein Epyllion, ein kleines Versepos folgt. Die ‚Schienen’ (als Parallelen, die sich nicht schneiden) können als Symbol dafür verstanden werden. dass die beiden Personen des Gedichtes nicht zueinander finden. Die Schienen nehmen die Dominanz der Technik in unserer Welt als Thema auf, die -geschichte verweist auf die historische Dimension des Wissens und Lebens.

v.1 du: Selbstanrede des lyrischen Ich

v.1f Wolkenzüge / und ihre rasende Auffahrt: Erste Evokation des Themas Geschwindigkeit durch die doppeldeutige Verwendung des Wortes ‚Zug’. Erste Anspielung auf das mythologische Motiv, die Fahrt des Phaethon (zum Phaethon-Mythos s. Ovid, Metamorphosen, Buch I, 749 – II, 400).

v.3 hermetischen Himmeln: Bild für die schwer zugängliche Transzendenz

v.4 Sie: verdeckter Übergang von der Selbstanrede zum Gespräch, jetzt wird ein Mitreisender angeredet (s. v.46ff).

v.4 ungebändigt dies Flügelschütteln: Bild für den folgenden Wetterumschlag, gleichzeitig Vorausdeutung auf die in v.9 genannten Bussarde. Natürlich auch die durch Phaethon nicht zu bändigenden Rosse des Sonnenwagens, die an ihren Rücken Flügel tragen.

v.5 falls rot heute nacht: eventuell Vordeutung auf den durch Phaethon verursachten Brand der Erde

v.6 Vorzeichenliteratur: Bereits in den vorangehenden Versen wurden Dinge, die in der Geschichte als ‚Vorzeichen’ aufgefasst wurden, präsentiert: Wolken (v.1), Flügelschütteln (v.4) und rot (v.5) als Zeichen für Gefahr und Wetterumschlag. Auch die in v.9 genannten Bussarde wurden von den römischen Auguren zur Vorhersage genutzt.

v.7 Assurbanipals große Bibliothek: Assurbanipal war von 668 v. Chr. bis 631 v. Chr. König des Assyrischen Reiches. Seine Bibliothek in Ninive umfasste 25.000 Tontafeln und war die größte Schriftsammlung des Alten Orients. Der größte Teil der Bibliothek war durch Werke der Beschwörungs-, Omen- und Ritualwissenschaft gefüllt.

v.9: Neben der oben erwähnten Bedeutung der Bussarde als Vorzeichen (vg. zu v.6) ist das Abstürzen der Raubvögel auch als Paradigma der Moderne zu verstehen: Die Bussarde stehen als Raubvögel am Ende einer Nahrungskette, daher reichern sich in ihnen Giftstoffe (u.a. Blei) in so hohem Maße an, dass sie heute tatsächlich tot vom Himmel stürzen. Mythologisch: Der Sturz des Phaethon.

v.10ff Benvenuto Cellini: italienischer Goldschmied und Bildhauer (03.11.1500 – 13.02.1571). Der Marmorblock, aus dem er seinen Narziss schuf, war eigentlich vorgesehen, daraus einen Herkules zu meißeln. Goethe gibt in seiner Übersetzung von Cellinis Autobiographie eine etwas abweichende Darstellung: ‚Geschwind ließ mir der Herzog (von Florenz) … ein Stück griechischen Marmor kommen, damit ich ihm jenen antiken Ganymed restaurieren möchte … Als das Stück ankam, überlegte ich, dass es eine Sünde sei, es in Stücke zu trennen … zu dem ganzen Stücke aber machte ich ein kleines Wachsmodell und nannte die Figur Narziss. Nun hatte der Marmor leider zwei Löcher, … deshalb machte ich die Stellung, die man sieht.‘ (Das Leben des Benvenuto Cellini. Übersetzt von Goethe, Ende des 5. Kapitels).

v.11f Narziss / … Herakles: Der Gegensatz dieser zwei Männertypen bestimmt die Strophen V, VII, VIII und XI.

v.12ff denn nach Betrachtung / …. / .. vernunftlosen: Hier wird Plotin zitiert, der die Betrachtung des Schönen preist, die im Ding die Idee ahnt und in der Überwindung der Neigung zur Materie von dem sinnlich Schönen zum geistig Schönen aufsteigt: „nach der Betrachtung verlangen alle Dinge, auf dies Ziel richten sie sich, nicht nur die vernünftigen, auch die vernunftlosen Geschöpfe“ (Plotins Schriften, Bd IIIa, S.3, Felix Meiner 1964). Auch Anspielung auf die Tradition der Ding-Gedichte (z.B. Rilke), in denen gezeigt wird, dass der betrachtete Gegenstand Chiffre für eine Idee ist. Mit der Unterscheidung zwischen vernünftigen und vernunftlosen Dingen wird auf den Unterschied zwischen von Menschen gemachten Gegenständen und Gegenständen der Natur verwiesen. Gemeinsam ist beiden Arten, dass ihnen eine Idee zu Grunde liegt.

v.15ff Buschmannträger: ‚Buschmänner’ ist eine Bezeichnung für das Nomadenvolk der San im südlichen Afrika. Sie gelten als dessen erste Bewohner und stehen möglicherweise sogar an der Wurzel des menschlichen Stammbaums insgesamt, wie genetische Untersuchungen zeigen.

v.15 Jagd: Die assoziative Verknüpfung mit dem Vorhergehenden erfolgt über den Begriff ‚Jagdzug’ (v.60), er knüpft an die Wolkenzüge (v.1) und die Situation der Strophe I an (Gespräch im fahrenden Zug).

v.17 Seelen: ‚Freiseele’ ist ein Begriff aus der Ethnologie und der Religionswissenschaft. Er bezeichnet die in vielen Mythologien und Religionen verbreitete Vorstellung von einer Seele, die fähig ist, unabhängig vom Körper zu existieren und daher dessen Tod überlebt. Wenn sie schon zu Lebzeiten des Menschen den Körper zeitweilig verlassen kann, ohne dass dies seinen Tod herbeiführt, spricht man von einer Exkursionsseele. Der Gesprächspartner suggeriert, dass die Seele mit der modernen Geschwindigkeit (z.B. der Züge) nicht Schritt halten kann (vgl. auch zu v.108). Norbert Bischof berichtet in seinem Buch „Kraftfeld der Mythen“ (Piper Verlag, München 1998) von Trägern auf einer Safari, die sich weigern, nach einer Rast wieder aufzustehen: „Sie seien nun tagelang so schnell gelaufen, daß ihre Seelen hinter ihnen zurückgeblieben wären; nun müßten sie warten, bis jene sie wieder eingeholt hätten“ (S. 137).

v.18 eigenes – – : Zu ergänzen ist Ziel (aus v.61). Hier wird der ‚Monolog’ vom Zuhörer unterbrochen, Fortsetzung in Strophe VII (v.60).

v.19ff: Das lyrische Ich blickt in Strophe II reflektierend auf die Gegenwart. Die Haltung ist von Stolz (v.29) und Verachtung für die Schein-Bewegung der Moderne geprägt. Vgl. auch zu v.28ff.

v.19 kurzum: Der Satzbau der Strophe ist zerstückelt: Das Wort kurzum ist zu denkst du (v.24) zu ziehen. Die resümierende Bedeutung des Wortes kurzum knüpft auch an die Betrachtung der Geschwindigkeit (vgl. zu v.17) an.

v.21 Blick gen Westen wo glühend
: Das Ich betrachtet die untergehende Sonne, die mit einem Hochgeschwindigkeitszug verglichen wird. Genutzt wird dabei das vielen Kulturen geläufige Bild des Sonnenwagens, den z.B. in der griechischen Mythologie Helios mit Feuerrössern lenkt.

v.23 Neuzeitnomadenfraß: Neuzeitnomaden (Sloterdijk) im Gegensatz zu den Buschmännern (s.o. zu v.15ff), Zeitfresser für die ‚zeitsparenden’ Hochgeschwindigkeitszüge, aber auch für die Sonne als Zeitmaßstab.

v.24f ankommen … / dort wo sie immer schon sind: Für die modernen Nomaden wird die Bewegung als Illusion (v.27) entlarvt, sie kommen immer nur bei sich selber an. Die positive Gegen-Figur wurde oben v.15ff geschildert: Die Buschmänner warten, dass ihre Seele sie einholt. Mit gemeint ist aber auch der immer gleiche Lauf der Sonne, die immer wieder dort ankommt, wo sie schon war: der Weg des Sonnenwagens. Den Gegensatz dazu bringt v.34.

v.25 als moralische Anstalt: Angespielt ist auf die Schiller-Rede „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“, in der er den sittliche Einfluss der Bühne propagiert, die den Menschen durch die Vorführung der mannigfaltigen menschlichen Tugenden erzieht und belehrt. Dies wird hier zeitgemäß (v.26) und ironisch auf Filme von Chaplin (z.B. „Modern Times“) angewandt. Es findet weder eine wirkliche Änderung des Ortes noch eine Änderung der moralischen Haltung statt: Beides wird als Illusion entlarvt.

v.26 Chaplin: Charlie Chaplin (16.04.1889 – 25.12.1977), englischer Komiker, Schauspieler, Regisseur, Komponist und Produzent. Vielleicht ist hier an seinen Film „Modern Times“ zu denken.

v.27 zweidutzendmal die Sekunde: Die übliche Bildwiederholungsfrequenz im Kino beträgt 24 Bilder pro Sekunde.

v.28 spät: Nicht nur als Zeitangabe des Tages zu verstehen, sondern auch als Hinweis auf eine Spät- bzw. Endzeit.

v.28 Stillstand: Der Stillstand steht im pointierten Gegensatz zu den (im Gedicht ausführlich genannten) Hochgeschwindigkeitssystemen der Moderne.

v.28f zehrt / und der Stolz zu schwächeln beginnt
: Das lyrische Ich leidet an seiner Existenz in einer Art ‚Elfenbeinturm‘ und möchte aus seiner Vereinsamung durch Stolz hinaustreten (vgl. auch v.35.f).

v.30f Abgrund nun / schwärzester Nacht
: Auf der konkreten Ebene der ‚Abgrund‘ der Dunkelheit beim Hinaustreten. Zugleich wird dieses Bild überblendet mit der Vorstellung, dass die Moderne als Abgrund wirkt und als Nacht der Transzendenzlosigkeit wahrgenommen werden könnte.

v.31 die Leuchtschrift der Sterne
: Angespielt wird auf Kant: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, …. der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Dies ist die Gegen-Figur zur ‚moralischen Anstalt’ (s. zu v.25).

v.32ff: Während in der II. Strophe die Sonne, bzw. der in der Ferne vorbeifahrende Zug als ‚Wurm’ und ‚Fraß’ abqualifiziert wurde, identifiziert sich das Ich jetzt über das Pochen des Pulses mit Zeit und Geschwindigkeit, auch wenn es den Kurs der Gegenwart offenbar für gefährlich hält (vgl. zu v.34).

v.33: Angegeben ist die Geschwindigkeit der Sonne, sie beträgt 617,3 km/s.

v.34 Kurs … auf die Feuer der Hydra
: Unsere Galaxie, die Milchstraße, gehört zu einem Verbund von Galaxien, der als „Lokale Gruppe“ bezeichnet wird. Die Milchstraße bewegt sich mit rund 38 km/s auf das Schwerkraftzentrum der Lokalen Gruppe zu. Die Lokale Gruppe ist Teil einer viel größeren Einheit – des Virgo-Galaxienhaufens (bezeichnet nach dem Sternbild Jungfrau). Dieser Galaxienhaufen bewegt sich mit ca. 400 km/s in Richtung des Hydra-Centaurus-Superhaufens, der hinter dem Sternbild Hydra liegt. Hydra heißt ein neunköpfiges schlangenähnliches Ungeheuer der griechische Mythologie. Der Kampf gegen die Hydra war eine der 12 Aufgaben des Herakles (v.12). Herakles konnte sie zunächst nicht besiegen, da ihr jeder der abgeschlagenen Köpfe wieder nachwuchs, erst als die abgeschlagenen Köpfe mit Feuer ausgebrannt wurden und sie nicht mehr nachwuchsen, gelang ihm der Sieg. Daneben ist natürlich an die Fahrt des Phaethon im Sonnenwagen zu denken. Dass die Moderne sich auf die Feuer der Hydra zubewegen könnte, wird als blindes Geschehen (blindlings) dargestellt.

v.36 Verantwortung: Angeregt durch das Gefühl der Erhabenheit (Sternenhimmel, Kant und Schiller) erinnert das lyrische Ich sich an seine Bindung an die Gemeinschaft. Auf der mythologischen Ebene ist die Verantwortung des Helios für den geregelten Lauf der Sonne gemeint.

v.37 hin und her: Die Formulierung korrespondiert mit der Formulierung und halb … und halb (v.35) und zeigt die Widerstände des lyrischen Ich, den Entschluss zu fassen, Verantwortung zu übernehmen bzw. des Helios, Phaethon den Sonnenwagen zu überlassen.

v.38 ICE: deutscher Hochgeschwindigkeitszug (bis zu 320 km/h). Dieser und die im folgenden genannten Hochgeschwindigkeitszüge stehen als Metapher für die Moderne, die hier als beschleunigte Welt aufgefasst wird.

v.38 Ausfahrt Saarbrücken: Grenzstadt zu Frankreich. Durch den Wortbestandteil ‚Brücke‘ wird hier verdeutlicht, dass zwei Bereiche miteinander verbunden werden sollen. Der Begriff ‚Ausfahrt‘ wird eigentlich für Autobahnen benutzt, die Nutzung hier weist auf eine übertragene Bedeutung von Ausfahrt hin, des Ausstiegs aus einem Paradigma. Die ICE-Linie 82 führt über Saarbrücken und den Abzweig Baudrecourt nach Paris. Die geografische Bewegung dieser Strophe (von Saarbrücken über Paris nach Japan), von West nach Ost, vollzieht die Fahrt des Sonnenwagens des Helios während der Nacht (von seinem Palast im Westen über den Okeanos zu seinem Palast im Osten) nach.

v.39 TGV-gestählt: Train à grande vitesse (deutsch: „Zug für große Geschwindigkeit“), französischer Hochgeschwindigkeitszug (ebenfalls bis zu 320 km/h). Durch den Zusatz gestählt und die zerplatzenden Banlieues (v.40) erhält der Zug Geschosscharakter.

v.40 Banlieues: französische Ausdruck für die Vororte einer Großstadt

v.41 Shinkansen: japanischer Hochgeschwindigkeitszug (443 km/h im Testlauf). Der Shinkansen gilt als der sicherste Hochgeschwindigkeitszug; er nutzt die Neigetechnik (vgl. zu v.62), und seine Pünktlichkeit ist konkurrenzlos (hat ein Lokführer mehr als 15 Sekunden Verspätung, so hat er sich schriftlich zu verantworten).

V.41f taifungefügter / Blitz
: Wetterphänomene (vgl. v.5), der Blitze schleudernde Zeus wird evoziert. Taifun bezeichnet einen tropischen Wirbelsturm in Ost- und Südostasien, er wird durch ein mächtiges Tiefdruckgebiet gebildet.

v.42 Yodogawa: Der Endbahnhof der Shinkansen-Strecke Tokaido-Shinkansen liegt in der Stadt Osaka im Stadtviertel Yodogawa.

v.42 Fujisan: der höchste Berg Japans (auch ‚Fujiyama‘). Die Strecke Tokaido-Shinkansen führt an ihm vorbei. Die fünf Seen (v.43) liegen in einem Bogen um die nördliche Hälfte des Fujisan. Der Fujisan gilt im Shintoismus als heiliger Berg.

v.43 auf Endzeit beschleunigt: konkret auf die Höchstgeschwindigkeit des Zuges beschleunigen. Dadurch, dass hier die Wahrnehmung umgekehrt wird (nicht der Zug scheint beschleunigt, sondern die durchfahrende Landschaft), wird auf die Relativität der Zeit, die spezielle Relativitätstheorie angespielt.

v.45 rund ist die Kugel: Die Erde, die Sonne, die Kugel der Fortuna und einer der vollkommenen platonischen Körper jenseits aller Relativität.

v.45 Glück: Vorgriff auf das in der folgenden Strophe explizierte Gefühl

v.47 Gesicht: Gesicht wird hier verstanden als Spiegel der Seele.

v.47f die reine / Chiffre für ein Dorthin
: Das Dorthin verweist zunächst auf ein zu erreichendes Ziel und thematisiert damit auch das Charakteristikum der Moderne, die Geschwindigkeit (s.o. zu v. 38). Philosophisch gemahnt das Dorthin an das Gerichtetsein des Bewusstseins und kann daher hier ebenfalls als Kennzeichen der Gegenwart verstanden werden. Mit dem Begriff Chiffre wird das Thema der 1. Strophe (Deuten von Zeichen im Hinblick auf das zu erwartende Schicksal) wieder aufgenommen. Rein ist die Chiffre, weil sie auf Transzendentes hindeutet.

v.49f: Das Bild des Wettkampfes nimmt die antike Haltung des Agon auf.

v.49 ordentlich aufgeräumt: ironischer Kommentar

v.51f: Die beiden Verse sind ein abgewandeltes Hölderlin-Zitat: „Von ihren Taten nähren die Söhne der Sonne sich; sie leben vom Sieg; mit eignem Geist ermuntern sie sich und ihre Kraft ist ihre Freude“ (Hölderlin, Hyperion, erstes Buch, 7.Brief). Hyperions Plan, Griechenlands ehemalige Größe durch die Teilnahme am Befreiungskrieg gegen die Türken wiederherzustellen, scheitert. Offen bleibt, ob der junge Techniker, der mit Hyperion verglichen wird, in ähnlicher Weise scheitern wird. Seine Fokussierung auf Taten wird durch die Umstellung des Hölderlin-Zitates und die Endstellung des Wortes in der Versgruppe betont. In der Mythologie war Hyperion der Vater des Helios.

v.51f welche Söhne sind / der Sonne: Phaethon ist Sohn des Helios.

v.54 visuelle Übergriffe: Zusammen mit versuchen (v.59) und Witterung (v.59) geben die Begriffe den Versen auch eine erotische Konnotation.

v.55 Blickschatten: Während hier der Ältere sich nicht direkt in den Blickwinkel des Jüngeren setzt, stellt sich im Phaethon-Mythos Phaethon, als er seinen Vater im Himmel aufsucht, entfernt von Helios auf, um nicht von dessen Strahlen verbrannt zu werden.

v.56 steigende Dunkelheit: Nicht nur die beginnende Dämmerung während der Zugfahrt, sondern auch ein Begriff für die Spätzeit.

v.57 Greifvögel: vgl. zu v.9

v.59 den Wald und die Witterung: Neben dem Gesprächsthema Wetter (vgl. Str. I) schwingt auch die Jagd-Bedeutung ‚Witterung aufnehmen’ mit.

v.60: Inhaltlich wird hier an Strophe I angeknüpft (s. zu v.18).

v.60 Atempause: Diese Pause ist vergleichbar der Pause, die die Buschmänner auf ihrer Jagd machen (vgl. v.15ff).

v.61 souverän: von lat.: superanus, „über allen stehend“. Phaethon steht als Lenker des Sonnenwagens nicht nur über Allen, er begehrt, wie z.B. der Sonnenkönig Ludwig, die alleinige Souveränität; dies ein Bild für den Herrschaftsanspruch der Technik in der Moderne.

v.61f das Gesetz des Druckausgleichs / bei gelöster Bremse
: Schienenfahrzeuge sind mit Druckluftbremsen ausgestattet, in diesen muss nach dem Bremsvorgang ein Druckausgleich erfolgen. Dieser Druckausgleich ist ebenfalls in den Hydraulikzylindern, mit denen moderne Neigetechnik-Fahrzeuge ausgestattet sind, notwendig. Die ‚gelöste Bremse‘ weist auf die riskante Fahrt des Phaethon.

v.62 Neigetechnik: Unter Neigetechnik versteht man eine Technik, bei der die Wagenkästen eines Eisenbahnzuges zur Kurveninnenseite geneigt werden können und damit die empfundene Seitenbeschleunigung reduzieren. Bei der aktiven Neigetechnik sorgen meistens hydraulische Stellzylinder (Hydraulikzylinder) dafür, dass die Wagenkästen auslenken. Der Neigewinkel kann bis 8° betragen. Die Technik dient dazu, in Kurven höhere Geschwindigkeiten fahren zu können. Während das lyrische Ich sich dem jungen Mann ‚zuneigt‘, nimmt dieser nichts als Technik wahr.

v.63 Pendolino: italienischer Hochgeschwindigkeitszug mit Neigetechnik

v.63 X2000: schwedischer Hochgeschwindigkeitszug mit Neigetechnik

v.65 CargoSprinter: moderner Transportzug mit einer Zuladung von 160t in 10 Containern

v.67f Polyurethanschwellen … / … glasfaserverstärkt
: Für Hochgeschwindigkeitsstrecken werden besondere, verschleißfeste Bahnschwellen benötigt. Hierzu nutzt man Kunstholzschwellen aus glasfaserverstärktem Polyurethan. Aus Polyurethan werden auch latexfreie Kondome hergestellt.

v.67f fuliminanten / Anwachsen: Mehrere Technikbegriffe dieser VII. Strophe lassen, wie auch ‚fulminantes Anwachsen‘ sexuelle Konnotationen erkennen: Druckausgleich, gelöste Bremse, Neigetechnik, Pendolino, Fahrgestell, Eigengewicht, Polyurethan (s.o.), Schwellen, Stator, Rollreibungsverlust, Kontakt. Dies mag im Auge des Betrachters liegen, kann durch die von Männern geprägte Technik gerechtfertigt werden, kann aber auch mit der erotischen Situation dieser Gedichtpassage erklärt werden.

v.69 Transrapid: in der Bundesrepublik Deutschland für den Hochgeschwindigkeitsverkehr entwickelte Magnetschwebebahn. (Eigentlich Zusammenfassung des Gedichtes in einem Wort: Trans-zendez und rapid (lat. reißend, schnell)=Geschwindigkeit)

v.70f Führmagnet, Leitschiene, Stator kein Rollreibungsverlust / … die wandernden Felder: Fachbegriffe der Magnetschwebetechnik: Führmagneten halten die Magnetschwebebahn an der Leitschiene seitlich in der Spur, sie wird von einem wandernden elektrischen Feld (‚Wanderfeld‘) vorangezogen, dadurch gibt es keinen Rollreibungsverlust. Der Stator (auch „Ständer“) ist der feststehende, unbewegliche Teil der Elektrik, die die Magnetfelder hervorbringt.

v.72 vollkommen neuen Schöpfung ohne direkten Kontakt: Auf der Realebene: Zusammenfassung der Magnetschwebetechnik. Kulturphilosphisch: die Moderne, ohne Transzendenz schaffend.

v.73 Strabo: Strabon (* etwa 63 v. Chr. – † nach 23 n. Chr.), lateinisch Strabo (‚der Schielende‘), antiker griechischer Geograph und Geschichtsschreiber. Er schrieb eine 17-bändige ‚Geographie‘.

v.74ff: Im 6.Buch (1.Abschnitt, §9) seiner „Geographie“ berichtet Strabo: „Um den Fluss Halex, welcher Rhegine von Lokris scheidend ein tiefes Tal durchläuft, zeigt sich etwas sonderbares an den Grillen; denn die auf der Uferseite der Lokrer singen, die [Gegenseitigen] sind gesangslos“ (Übersetzung von Ch. G. Groskurd). An diese geographische Schilderung fügt Strabo die Legende des lokrischen Sängers Eunomos: Als diesem während eines Wettgesangs eine Saite sprang, flog eine Grille auf seine Zither und ersetzte den Ton. Hier identifiziert sich das Ich mit den singenden Grillen, der junge Mann ist mit den tonlosen Grillen gleichzusetzen.

v.77f: Aristoteles (384-322 v. Chr.) „jedoch meinte, dass das Herz (es ist, das war bekannt, durch die Blutgefäße mit allen Organen verbunden) das zentrale Empfindungsorgan (Akropolis des Körpers) und damit auch der Sitz des Bewusstseins und damit der Sitz der geistigen Funktionen sei.“ „Das Gehirn hatte nach Ansicht von Aristoteles die Aufgabe, das aufwallend und heissblütige Herz zu kühlen“ (Geschichte der Gehirnforschung. Bernd Fischer. 11. Aktualisierung 2009). Im Gegensatz zum jungen Mann, der offensichtlich nur ‚kühl’ mit dem Hirn denkt, ist es bei Aristoteles und dem Ich auch das Herz, das Gefühl, das denkt.

v.79ff: Die Moderne ist der Auffassung, dass das ‚Funken’ von Spiegelneuronen (s. zu v.80) die Voraussetzung für eine emotionale Beziehung (auch Liebe) ist. Der Autor ironisiert allein durch seine Formulierungen (in Wirklichkeit wissen wir (v.79) und weil sie verantwortlich sind für wenn (v.81)).

v.80 Spiegelneuronen: Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern (aktiv) gestaltet würde. Die Fähigkeit Empathie zu zeigen, hängt von der Fähigkeit ab, die Gefühle Anderer in unserem neuronalen System abzubilden. Man hat die mögliche Bedeutung der Spiegelneuronen in Verbindung mit emotionaler Empathie schnell erkannt.

v.82 Rekordegewirr: Ironische Zusammenfassung der VIII. Strophe und direkte Anknüpfung an v.69 Rekord

v.83 Ultraschall: Anknüpfung an v.81 funkt

v.84 Fledermaus: Die Fledermaus orientiert sich mit Ultraschall in der Wirklichkeit (v.79), so wie die Menschen dies lt. v.79ff mit Spiegelneuronen versuchen. Anknüpfung an v.57 frühe Fledermäuse.

v.86 Sprintergesicht: Vgl. Strophe V und insbesondere v.65 CargoSprinter

v.87 stumm: vgl. zu v.108 Meerjungfrau. Die kleine Seejungfrau opfert ihre Zunge, um in einen Menschen verwandelt zu werden.

v.88f ausgelaugten / Luftkurort Plau am See: Der Luftkurort ist als Gegenbild zum heiligen Berg Fujiyama mit seinen fünf Seen zu verstehen (vgl. v.42f); ‚ausgelaugt’ deutet auf das unglückliche Verhältnis der Partner hin. S. auch zu v.90.

v.90 aus dem Netz genommen: Überlagerung zweier Bilder: Kommunikations- und Spinnennetz. Zugrunde liegen unterschiedliche Zweierbeziehungen: Ein partnerschaftliches Verhältnis und ein Jäger-Beute-Verhältnis. Mit dem Einschlafen und dem aus dem Netz genommen wird auch der Tod des Phaethon beschrieben. Durch Luft und See ist der Weg des Absturzes markiert.

v.91 Staunen: Aristoteles sieht im Staunen den Beginn des Philosophierens.

v.92 reglose Kristallkugeln: Einerseits Metapher für die staunenden Augen, andererseits traditionelles Requisit der Vorhersagekunst. Damit Anknüpfung an Strophe I und deren Thema: Deutung von Zeichen.

v.93 dämmernd: vgl. Einbruch der Dunkelheit v.19. Hier Dämmerung vor Sonnenaufgang (heraufkommt).

v.93 Stirn: Auf der konkreten Ebene betrachtet das lyrische Ich Stirn, Mund (bocca v.95) und Brust (sen v.95) des jüngeren Mannes. Auf der übertragenen Ebene ist die Stirn ein Hinweis auf möglicherweise dahinter ruhendes Göttliches.

v.94f: Antonio Lambertis „Barcarola“ wird vertont üblicherweise als „La biondina in gondoletta“ (‚Das Blondinchen in der Gondel’) bezeichnet. Im Lied betrachtet ein Venezianer seine schlafende blonde Geliebte und träumt von der Vereinigung mit ihr. Diese Situation ist der im kommentierten Gedicht vergleichbar. Mit dem Gondellied wird erstmals in den Bereich des Maritimen als einen Archetypus des Unbewussten eingeführt.

v.96 atmende Bahn nur des Schlafs: Mit Bahn werden mehrere Bildbereiche übereinander gelegt: Die Bahnfahrt, die Sonnenbahn und die Lebensbahn. Durch den Zusatz nur des Schlafs wird verdeutlicht, dass die Lebensbahn von unbewussten Elementen bestimmt wird und auf der mythologischen Ebene, dass die Bahn des Phaethon beendet ist.

v.96 ihr Schauen erfühlt: i.e. das Schauen der Augen (vgl. v.91). Ungewöhnliche Zusammenführung zweier sensorischer Erfahrungen (Synästhesie). Zu denken ist gleichzeitig an die platonische ‚Schau der Ideen’.

v.97 anschwellend abschwellend Woge: Die Atembewegung des Schlafenden wird gleichgesetzt mit Wellen des Meeres. Das Atmen wird auch von Rilke als wellenförmig verstanden („Atmen, du unsichtbares Gedicht! … Einzige Welle, deren
/ allmähliches Meer ich bin.“ Sonette an Orpheus, 1. Gedicht des zweiten Teils). Auch Goethe ordnet das Wasser dem Bereich des Seelischen zu (vgl. Goethe: „Seele des Menschen, / Wie gleichst du dem Wasser!“ Gesang der Geister über den Wassern).

v.98 Urflutschwere: Seit unvordenklichen Zeiten seiend (zeither v.97), zusammen mit dem Begriff Urhügel Metapher für einen Schöpfungsmythos.

v.99 ins lebendige Licht: Einerseits Metapher für die Zeugungskraft der Sonne, andererseits Bild für die Verwandlung des Natürlichen durch den Tod (Urhügel auch als Grabhügel verstanden) ins Geistige, ins eigentlich Lebendige.

v.100 da als Sturmgott: Zu denken ist an Zeus, der Phaethon mit einem Blitz erschlägt. Anknüpfung an das Sturmbild am Gedichtanfang (v.1-5). Zusammen mit den folgenden beiden Männerbildern treten hier drei männliche Archetypen hervor, die alle phallische Beigaben haben: der Sturmgott den Blitz, der Kriegsmann den Speer und der Seeheld den Mast. Diese könnten jeweils für eine Geschichtsperiode stehen: die mythische, die heroische und die rationale Epoche. Die Männerbilder sind auf die Selbstanrede des lyrischen Ichs, das du in v.104, zu beziehen.

v.101 Asag: Asag („der den Arm schlägt“) ist ein sumerischer Dämon, der oft mit dem akkadischen Asakku gleichgesetzt wird. Im Gilgamesch-Epos wird Asakku als einer der 13 Sturmwinde (vgl. v.100) genannt. Dass er gegen Speerwürfe unempfindlich sei und Geschlechtsverkehr mit Felsen haben könne, wird z.B. im Großen Buch der Mythologie (Hrsg. C. Scott Littleton, München 2003, Kapitel: Der Kriegsgott Ninurta) referiert.

v103 Seeheld: Eventuell Odysseus (vgl. auch zu v.100)

v.104 eindringen: Die sexuellen Konnotationen der letzten beiden Strophen (vgl. zum Gondellied (v.94f), anschwellend abschwellend (v.97), Urhügel (v.98), die phallischen Symbole der Männerbilder (s. zu v.100)) sind hier besonders deutlich.

v.104 Vorweltgefilde: Zusammenfassung der Begriffe Urflutschwere und Urhügel (v.98)

v.105 an weißen Händen: Kennzeichen der Meerjungfrau (s. dazu zu v.108)

v.107 Seenelken: Die Seenelke (Metridium senile) ist eine Art aus der Ordnung der Seeanemonen (Actiniaria). Im Wort ist der Begriff ‚Seele’ enthalten.

v.108 Meerjungfrau: Zu denken ist an Hans Christian Andersens Märchen „Die kleine Seejungfrau“, in dem sich die Seejungfrau durch die Liebe zu einem Prinzen erhofft, eine Seele zu erhalten. Hier möchte das lyrische Ich den ‚kühlen’ Techniker beseelen. Dies nimmt das Warten der Buschmänner auf ihre Seelen (v.15ff) wieder auf.

V108 dir an die Brust ziehn: Der Vorgang der Heraufziehens vom Meeresgrund ist vergleichbar mit dem künstlerischem Schöpfungsvorgang und knüpft damit an die künstlerische Arbeit Cellinis am Marmorblock (vgl. v.10ff) an. Daneben ist auch an die Figur des trauernden Geliebten zu denken, an Kyknos, den Schwan, der das traditionelle Symbol des Sängers ist. Damit wird das Motiv der am Ufer zirpenden Grillen (v.75 und s. zu v.74ff) wieder aufgenommen.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus 12 x 9 = 108 Versen. Es hat aber nur 11 Strophen, weil Strophe I aus 2 x 9 Versen besteht. Die Strophen V (7 Verse), VI (7 Verse) und VII (13 Verse) ergeben zusammen 27 = 3 x 9 Verse. Die Zwölf verweist auf die 12 Stunden des Tages bzw. der Nacht (Sonnenlauf) und auf die 12 Sternkreiszeichen, die die Sonne durchläuft. Neun ist die Anzahl der Musen.

v.32: Vierfache P-Alliteration, die den Wandel des Fühlens im lyrischen Ich durch den Pulstakt verdeutlicht.

v.46f Einer … / einer: Die Wiederholung eines Wortes am Beginn des nächsten Verses ist eine von Hölderlin geliebte Stilfigur.

v.87: Häufung von u- und ü-Lauten.

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