Rose von Jericho

Überblickskommentar:
 
In den ersten beiden Versgruppe stellt das lyrische Ich sich als Sprayer vor, der tagsüber Wände reinigt und nachts Blätter beschreibt. Dahinter steht das Bild eines Dichters, der Gedichte verfasst und sich um die Reinheit der Sprache bemüht. Mit dem ‚Paradiesvogelartigem‘ in der dritten Versgruppe kann ebenfalls der Dichter gemeint sein, der öffentlich auftritt, alternativ aber auch der Leser der Gedichte. Die vierte Versgruppe beschreibt, wie die Rose von Jericho erblüht: nämlich dann, wenn das Gedicht einen Leser findet, der ‚offen‘ für die Transzendenz ist. Die nur der Immanenz verhafteten Leser müssen sich gedulden, bis sie sterben (fünfte Versgruppe).
 
Rose von Jericho (getrocknet)Rose von Jericho (blühend)

Rose von Jericho


 
Sie wie Sie mich jetzt sehen
der
frühe morgen
und
ich hier

Ich schrubbe die rathauswand
saubermannähnlich
Sie täuschen sich leicht
weil
wunderbar selbstenthusiasmiert

Bin ich sozial riskant eine
kippfigur nachts
nämlich

 
5
Pssst!
unter der nebelkappe hey hoody geh ich auf spray
Laubbäume
ausschließlich und die
ganz oben
das blattwerk
Fast unerreichbar
wie
kirschbaumrinde
diskret
Als es noch gottkaiser gab
für
Kojimas kassiber
Kojima Takanori
 
Nur
paradiesvogelartiges
was als
territorialer typus
bekannt
10
Fällt manchmal ein
und entlaubt dreist die wipfelregion
Für
balzbühnen
natürlich
tief unten auf plattem sand

Lauthals damit die
sonne
sie ausleuchtet oder der mond
 
Und so ein
kronenblatt
sieh wenn es dann
abwärts

Trudelt irgendwo
über den weg voll hoffnung

15Suchts mit
geheimen mund
nach dem kuss einer wunde
Denn nur aufgemalt ach bis es offenes
Blut trinken
darf bleibt sein herz
 
Für die übrigen gilt es
geduld
bis sie eingehn
Stumm in den humus der welt bei den wurzeln
20Untergehakt mit dem krummen
dunkel

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Die Rose von Jericho (Anastatica hierochuntica), auch Wüstenrose genannt,wächst als einjährige krautige Pflanze. Ihre Größe hängt von der Wassermenge ab, die ihr in der Wachstumsphase zukommt. Am Ende der Wachstumsphase rollt sich die Pflanze ein. Die tote Pflanze dient dann dem zwischenzeitlichen Schutz der Samen, die nun (in der Natur nach einem kräftigen Regenguss) sofort zu keimen beginnen. Die Rose von Jericho ist ein Symbol für das Gedicht.

v.1 Sie wie Sie mich jetzt sehen: Das lyrische Ich redet den Leser an und weist daraufhin, dass dessen Wahrnehmung seiner Person unvollständig, weil zeit- und personenabhängig ist (vgl. auch v.3 Sie täuschen sich leicht). Im Folgenden (v.3ff) wird das lyrische Ich von einer anderen Seite charakterisiert.

v.1 der frühe morgen: In Verbindung mit dem Titel könnte man hier an das Heraufdämmern einer neuen Zeit denken.

v.1 ich hier: Unausgesprochen bleibt, dass der Leser in eine Gegenposition (‚Sie da‘) gerückt wird.

v.2: Auf der Realebene redet hier ein Sprayer (s. v.5 spray), der mit der Säuberung öffentlicher Gebäude bestraft worden ist. Übertragen könnte man sagen, dass die heutige herrschende Meinung (rathauswand) Kunstwerke, die nicht ihrer Auffassung der Welt entsprechen, aus dem öffentlichen Raum entfernen möchte (saubermannähnlich). Der Künstler wird als sozial riskant (v.4) eingestuft. Man könnte auch sagen, dass der Dichter die Aufgabe hat, die herrschende Sprache zu ‚bereinigen‘.

v.3 Sie täuschen sich leicht: Fortsetzung des Gedanken aus v.1

v.3 wunderbar selbstenthusiasmiert: Die Begeisterung des lyrischen Ich wird nicht von dieser Welt hervorgerufen, sondern wurzelt in ihm selbst und ist auf das Wunder (die Transzendenz) ausgerichtet.

v.4 kippfigur nachts: Eine ‚Kippfigur‘ ist eine Abbildung, die zu spontanen Gestalt- bzw. Wahrnehmungswechseln führen kann. Die Bezeichnung bezieht sich auf die zwei Seiten des lyrischen Ich (der Tag gehört der Welt, die Nacht der künstlerischen Produktion).

v.4 nämlich: Der scheinbar harmlose Zusatz kann als poetologischer Hinweis die Aufgabe des Dichters gelesen werden: So wie Adam die Aufgabe hat allen Dingen Namen zu geben (nämlich), so hat der Dichter die Aufgabe die Welt im Gedicht zu ordnen.

v.5: Der Sprayer verbirgt sich bei Nacht und Nebel in einem Sweatshirt mit Kapuze (‚hoodie‘), um auf spray zu gehen. Der Leser wird durch das Pssst! zum Komplizen dieser Mission gemacht.

v.6 Laubbäume ausschließlich … blattwerk: Ein Sprayer benutzt normalerweise Wände für seine Kunst; dass hier ausschließlich Blätter besprüht werden, weist darauf hin, dass eigentlich der Dichter gemeint ist, der sein Gedicht auf ein Blatt schreibt.

v.6 ganz oben: Die Ortsangabe weist auf die Nähe zum Himmel (zur Transzendenz) hin (wie auch in v.10 wipfelregion).

v.7 Fast unerreichbar: In der Moderne ist die Transzendenz nur noch schwer erreichbar.

v.7f kirschbaumrinde … / … Kojimas kassiber: Im 14.Jh. bricht der japanische Dichter Kojima Takanori ein Stück Rinde von einem Kirschbaum auf und verbirgt darunter ein Gedicht, mit dem er dem verbannten Kaiser Go-Daigo, der auf seinem Weg ins Exil an diesem Baum vorbeikommen muss, seine Treue versichert. So wie Kojima seinem Kaiser dadurch die Treue zeigt, huldigt der Dichter durch sein Gedicht, eine geheime Botschaft (kassiber), der Transzendenz.

v.8 als es noch gottkaiser gab: Die Titel des japanischen Herrschers (Tenno = ‚himmlischer Herrscher‘) verweist auf seine gottähnliche Stellung. Auf der übertragenen Ebene wird auf die ehemalige Anwesenheit der Transzendenz in der Welt hingewiesen.

v.9 paradiesvogelartiges: Der Dichter sieht sich selber als jemanden, der noch Bezug zu ehemaligen Orten der Transzendenz hat (paradies) und in der heutigen Zeit wie ein Fremder (exotisch) wirkt. Das ‚artig‘ verweist auf ‚ars‘, die Kunst. Alternativ kann man im ‚Paradiesvogel‘ auch den Lyrik-Leser sehen.

v.9 territorialer typus: eine Tierart, die ein festes Revier beansprucht. Die Bindung an das Territorium, die Erde (‚Terra‘), zeigt dass der Dichter zwar dem Himmel verbunden ist, aber in der heutigen Zeit lebt. Alternativ kann sich der Ausdruck auch auf den der Immanenz verhafteten Leser beziehen.

v.10 Fällt manchmal ein
: Neben der konkreten Bedeutung bezogen auf das Verhalten von Vogelschwärmen auch Anspielung auf den Einfall, die Inspiration.

v.11 balzbühnen: Während der Paradiesvogel auf einem freien Platz seinen Balztanz aufführt, bauen z.B. die Laubenvögel aus Blättern und Schmuckelementen ein Balzbühne, mit der das Weibchen beeindruckt werden soll.

v.11 tief unten auf plattem sand
: ironische Charakterisierung der Gegenwart (vgl. v.6 ganz oben)

v.12: Vögel versuchen, mit ihrem Balzgesang Weibchen anzulocken. Der Dichter singt ‚lauthals‘ die Transzendenz (sonne bzw. mond) an, um sie in seinem Gedicht zum Erscheinen zu bewegen.

v.13 kronenblatt
: Angespielt wird auf die Baumkrone ebenso wie auf die Krone der Kaiser und die Dichterkrone.

v.13f wenn es dann abwärts / Trudelt
: Mit dem Bild des fallenden Blattes ist die Veröffentlichung und Aufnahme (vgl. zu v.14ff) eines Gedichtes gemeint. Das abwärts stellt die Verbindung von der ‚Baumkrone‘ zum tief unten (v.11) her und damit von der Inspiration zur Rezeption.

v.14 über den weg voll hoffnung: Gemeint ist, dass das veröffentlichte Gedicht wie das Samenkorn im biblischen Gleichnis (vgl. Luk. 8,11-15) auf fruchtbaren Boden fällt.

v.15: Das Gedicht wird als ‚geheimer Mund‘ bezeichnet. Seine Botschaft bedarf der Offenheit einer wunde (die Oberfläche muss durchbrochen sein). Dass hier der Liebeskuss, der das Erkennen hervorruft, nicht vom Mund, sondern von der Wunde gespendet wird, zeigt, dass der Leser durch den Prozess des Verstehens auch aktiv am Diskurs beteiligt ist. Der Kuss (der Muse) ist auch als Inspiration zu verstehen. Die Wunde erinnert an den ungläubigen Thomas, der seinen Finger in Christi Seite legen muss, um sicher zu sein, dass die Transzendenz in der Immanenz existiert (vgl. Joh. 20.24-29).

v.16f: Ein Gedicht kann nur dann seine eigentliche Wirkung entfalten (sein herz als Lebenszentrum), wenn der Leser ‚offen‘ ist und es zum Leben erweckt. Das Blut trinken erinnert natürlich auch an den symbolischen Akt des Abendmahls, hier wird allerdings nur die Struktur dieses religiösen Ritus genutzt. S. auch zum ‚Titel‘.

v.18 Für die übrigen gilt es geduld bis sie eingehn: Gemeint sind diejenigen, die keinen Zugang zur im Gedicht vermittelten Transzendenz haben und daher geduld bis zu einem ’natürlichen‘ Zugang zur Transzendenz haben müssen.

v.19f: Das Sterben, der Zerfall und der Gang zu den Wurzeln, die die Gestorbenen im dunkel festhalten, ist aber auch Voraussetzung für eine Wiederauferstehung aus der Erde.

Aspekte der Form:

Reimschema: a/b/a/b//x/a/a/x//a/b/a/b//a/b/x/b/a//x/a/a. Die Waisen sind durch Binnenreim gebunden: v.5 (hey/spray), v.8 (kaiser/kassiber), v.15 (mund/wunde), vielleicht auch v.18 (übrigen/eingehn).

v.18ff: Die Versgruppe wird auffällig vom dunklen u-Klang dominiert.

Schreibe einen Kommentar