Arkadische Rhapsodie

Überblickskommentar:

Das Gedicht behandelt in rhapsodischer Form (vgl. dazu die Anm. zum Titel) das Verhältnis von Immanenz (Realität) und Tod (Transzendenz). Ausgehend von einer Reise auf die Peleponnes (Arkadien, vgl. dazu die Anm. zum Titel) bezieht sich das lyrische Ich auf den Gott Pan (Versgruppe I), imaginiert eine Entführung in eine barbarische Kultur Nordafrikas (II), setzt dagegen eine antike Auffassung von der Grenze zwischen Leben und Tod (III), behandelt das andere Verhältnis dazu bei den Babyloniern (IV), zeigt in der zentralen Versgruppe (V), dass Immanenz und Transzendenz im Urknall eins waren, zeigt anhand des Bildes der Austern (VI), dass alles Seiende zur Transzendenz zurückkehren möchte, weist daraufhin, dass in der buddhistischen Auffassung (VII) die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz durch die Poesie aufgehoben werden kann, und kehrt zurück zur arkadischen Landschaft mit einem Hirten (VIII), der eine Olive ausspuckt (IX, Sinnbild für das vom heutigen Leser nicht verstandene Gedicht).

Dabei ist das Gedicht achsensymmetrisch um die zentrale Versgruppe V (Ursprung und All = Pan) gebaut: I/IX: Gott/Ewigkeit; II/VIII: Das Ich auf dem Weg nach Afrika / auf einem Weg in Griechenland; III/VII: Die Unterweltflüsse Acheron / Sarasvati; IV/VI: Das Heilige im Inneren der Tempel / im Inneren der Muscheln.

Arkadische Rhapsodie


 
Der
Gott
dieses Tals –Et in Arcadia ego
von erhöhtem Fels
reglos

Bernsteinblick
aus gehörntem Gesicht
über das
Wipfelgewoge

 
5und über das Meer und die Inseln bis hin zu
Apollons Äthiopen

dorthin
, ach, als Junge auf
rammbugbreiten

Matrosenschultern dorthin nur einen Sommer
entführt zu werden, wo sie
die Antilope tanzen
,
wo sie wie Rosenblätter dem Häuptling
10
das Abgeschnittne
besiegter Krieger auflegen – –
 
nein, nicht zum Ort ihrer Untaten
,
zu den unbesuchten allein
schweifen die Seelen immer
zurück vom Ufer des Acheron ruhelos – Weisheit,
 
15
o Weisheit der Babylonier
,
die ihre Grenzsteine im Inneren
der Tempel aufstellten und Schöpfungsgötter
einmeißelten und weltalte Gestirne,
 
denn alles, die
Urglutsekunde
muss ja
20schon
alles enthalten
haben, die sämtlichen subatomaren
Präfigurationen
von
Gold, von Weihrauch und Straußenei
,
langschwänzigen Affen und schwarzglänzenden Sklaven,
mit denen nach Jahr und Tagen die
Kundfahrer
,
die wagemutigen, im Triumph heimkehrten aus dem
Wunderland Punt
,
 
25und glüht nach noch immer in
Morgenröten
, wie
weit offen Austern sie einsaugen,
nachtwund

aufsteigend von ihren Sitzen am Grund
um
Globen aus Licht
zu vollbringen,
 
oder
die
, so bezeugen es die
Brahmanen
,
30mild die Erwählten erleuchten, dass sie
Sarasvati
schauen, den dritten Fluss,
Strom der unteren Welt und der Poesie,
 
so klar, so unabweisbar
wie
ich

diesen Sandweg hier
mit den paar
Oliven
,
35die aus
bienenumsummter Krone
ein
Windstoß

oder ein
Kindskopf
ganz frisch herabwarf:
Vielleicht, dass irgendein
Tityrus
, honiggelockt,Die arkadischen Hirten
der weder Holzäpfel findet noch Esskastanien,
doch eine aufhebt und –
ach, Fruchtfleisch
, es
 
40will sich nicht lösen von seinem Kern
bissfester Ewigkeit – sie mit prustendem
Fluch vor den
Geißbock
spuckt.
 

Stellenkommentar:

Titel: Der Titel verweist auf die auf der Peleponnes liegende Landschaft Arkadien. Sie ist in der antiken Dichtung der Bereich, in der traditionell die Hirtendichtung angesiedelt ist. Die Hirtendichtung drückt in der Schiller’schen Charakterisierung eine sentimentalische Haltung der Natur gegenüber aus. Kennzeichnend dafür ist das Motto „et in arcadia ego“, das Goethe vor seine „Italienische Reise“ setzte. Dies drückt einerseits die Sehnsucht der Gesellschafts-Menschen nach unverbildeter Natur aus, meint andererseits und ursprünglich aber, dass auch in der heilsten Natur der Tod anwesend ist (vgl. dazu z.B. das Bild von Giovanni Francesco Barbieri (1616–1620), Et in Arcadia ego, und das Bild von Nicolas Poussin (1638–1640), Die arkadischen Hirten).
Eine Rhapsodie wurde von wandernden Sängern im antiken Griechenland zur Begleitung eines Saiteninstruments vorgetragen. Inhaltlich handelte es sich meist um Bruchstücke aus Homer oder anderen Epen, die scheinbar unzusammenhängend, in Wirklichkeit aber durch gedankliche Assoziationen miteinander verbunden waren (‚rhapsodisch‘).

v.1: Gemeint ist Pan, der Gott der Hirten, der mit Ziegenfüßen und Hörnern (v.3 gehörntem Gesicht) dargestellt wird. Das griechische Wort ‚pan‘ bedeutet ‚all‘.

v.2 reglos: Anspielung auf die Mittagsstille, in der Pan traditionell ruht

v.3 Bernsteinblick: korrespondiert mit honiggelockt (v.37)

v.4 Wipfelgewoge: Im Gegensatz zum heute weitgehend baumlosen Arkadien wird hier der antike Hain suggeriert, über den hinaus der Blick geht.

v.5 Apollons Äthiopen: Nach mythologischer Vorstellung zog Apollon bei abnehmendem Licht im Winter zu den Äthiopern, nach Äthiopien, dem heutigen Ägypten. Der Blick des Gottes (und des lyrischen Ich) geht von der Peleponnes über das Mittelmeer und die griechischen Inseln hin bis Nordafrika.

v.6f dorthin, ach, … / … dorthin: Anklang an Goethes Gedicht „Mignon“: „Dahin! Dahin / Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!“, das auch für die deutsche Italien-Sehnsucht steht

v.6 rammbugbreiten: Der Rammbug, ein Schiffsbug mit Rammsporn diente antiken Kriegsschiffen zum Nahkampf.

v.8 die Antilope tanzen: Das Ritual, das eine Antilopen-Jagd vorbereitet. Vergleichbar damit ist Rilkes „Tanzt die Orange“ (XV. Sonett an Orpheus).

v.10 das Abgeschnittene: Der schottische Forschungsreisende James Bruce berichtet in seinem Reisebericht ‚Zu den Quellen des Blauen Nils‘, dass er in Gondar, der damaligen Hauptstadt Äthiopiens, im Jahr 1770 beobachtete, wie Krieger die abgeschnittenen Hoden ihrer besiegten Feinde wie Rosenblätter vor dem Häuptling auflegten. (Vgl. K. Farrington: Atlas der Expeditionen. Wien 2001, S.72)

v.11ff: Die Versgruppe nimmt Bezug auf Dantes „Göttliche Komödie“, die mit Dantes Gang durch das Inferno beginnt. Vergil führt ihn an das Ufer des ersten Unterweltflusses, des Acheron, an dem die lauen Seelen in rastlosen Scharen umherlaufen (Göttliche Komödie, 3. Gesang). Dass die Seelen nicht zum Ort ihrer Untaten zurückkehren wollen, sonder lieber zu unbesuchten Orten schweifen, kann damit erklärt werden, dass sie nicht an ihre Untaten erinnert werden wollen.

v.14ff: Während im antiken Mythos (und auch bei Dante) die Grenze zwischen Ober- und Unterwelt (Immanenz und Transzendenz) durch den Acheron markiert ist, verlegen die ‚weisen‘ Babylonier diese Grenze in den Bereich des Inneren (ihrer Tempel). Die babylonischen Grenzsteine (Kudurru) wurden, wie Inschriften zeigen, auch in Tempeln aufgestellt. Auf ihnen sind Götterembleme bzw. Sternkonstellationen eingemeißelt zu finden.

v.19 Urglutsekunde: Gemeint ist der in der Naturwissenschaft angenommene ‚Urknall‘, durch den unser Universum entstanden ist. Die Metapher weist mit ‚Glut‘ auf die den Ursprung der Materie und mit ‚Sekunde‘ auf den der Zeit hin.

v.19ff muss ja / schon alles enthalten haben: Aus dem Urknall entstehen nacheinander die subatomaren Teilchen und dann die Atome und damit die Elemente, aus denen das Universum zusammengesetzt ist.

v.21 Präfigurationen: ‚Präfiguration‘ (auch Typologie) ist speziell ein Begriff der christlichen Theologie. Man versteht darunter die Deutung alttestamentarischer Stellen als Vorausdeutung auf neutestamentarisches Geschehen (z.B. „So wie Jonas drei Tage lang im Bauch des Wales lag, so lag auch Christus drei Tage lang im Grab.“). Durch die Wahl des Begriffes ‚Präfiguration‘ macht das lyrische Ich deutlich, dass mit dem Urknall nicht nur Materie und Zeit, sondern auch Transzendenz entsteht.

v.20 von Gold, von Weihrauch und Straußenei: Angelehnt an die Gaben der Heiligen Drei Könige: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Die Myrrhe hat der Autor vermutlich durch ein Straußenei ersetzt, um auf den mythischen Ursprung des Alls aus einem Ei hinzuweisen. Mit der Spezifizierung als Straußenei knüpft er an Versgruppe II an und verweist auf den Ursprungsort der Menschheit: Afrika.

v.23 Kundfahrer: alter Begriff für den Teilnehmer an einer Expedition

v.24 Wunderland Punt: südlich von Ägypten liegendes Land, aus dem ägyptische Expeditionen Gold, Weihrauch, Straußeneier, Affen und Sklaven und vieles mehr heranschafften (dargestellt z.B. im Grab des altägyptischen Wesirs Rechmire)

v.25 glüht nach noch immer in Morgenröten: Angespielt wird auf die kosmische Hintergrundstrahlung, die kurz nach dem Urknall entstand. Da sie auf der Erde mittels des Doppler-Effektes (Verschiebung ins Rot-Spektrum) wahrgenommen wird, wird sie hier mit der Morgenröte verknüpft.

v.26f Austern … nachtwund / aufsteigend: Poetische Bild für die Sehnsucht eines Seienden (hier Austern), das an der Realität leidet (nachtwund) und daher zum Licht (Morgenröten) strebt

v.28 Globen aus Licht: Gemeint sind die Perlen der Austern, aber auch Gedichte.

v.29 die: bezieht sich auf Morgenröten (v.25)

v.29 Brahmanen: Brahmanen sind im indischen Kastensystem Angehörige der obersten Kaste. Im Hinduismus ist es ihr Vorrecht sowie ihre Pflicht, Lehrer des Veda und Gelehrte zu sein, bis heute stellen hauptsächlich sie die Priester.

v.31 Sarasvati: In der indischen Mythologie ein vergöttlichter Fluss, der sich in der Unterwelt mit anderen heiligen Flüssen wie z.B. dem Ganges vereinigt. Sarasvati gilt als weibliche Kraft des Gottes Brahma, die hinduistische Mythologie stellt sie als seine Tochter und Gattin und als gesamte Schöpfung dar. Als ‚Vac‘ („Wort“, „Logos“), so ein anderer Name, verkörpert sie das personifizierte Wort, die perfekte Rede (bzw. die Poesie).

v.32 so klar, so unabweisbar: bezieht sich auf das ‚Erschauen der Morgenröten durch die Muscheln‘ und das Erschauen des Stroms der unteren Welt (der Poesie) durch die Brahmanen. Damit wird der Realität (‚Sandweg mit Oliven in Griechenland‘) die gleiche Existenz-Qualität zugewiesen: Auch in der Gegenwart kann (mittels der Olive = Gedicht) die Transzendenz wahrgenommen werden.

v.32 ich: Das lyrische Ich bezieht sich das einzige Mal explizit auf sich selbst. (In der zweiten Versgruppe geschieht dies nur indirekt.)

v.34 diesen Sandweg hier: möglicherweise eine Metapher für die mit Hinblick auf die Transzendenz unfruchtbare Gegenwart

v.34 Oliven: Der Olivenbaum wird in unterschiedlichen Kulturen vielfältig symbolisch gedeutet (Friedenssymbol, Fruchtbarkeit, Siegeszeichen, Barmherzigkeit etc.). Hier könnte die Olive angesehen werden als Symbol für die ‚Frucht des Dichters‘, das Gedicht.

v.35 bienenumsummter Krone: Im antiken Griechenland wurden Bienen als Hüterinnen der Redekunst und des Gesangs, als „Vögel der Musen“ angesehen. Die Krone des Baumes ist ein Analogon zum Haupt des Menschen.

v.35 ein Windstoß: traditionelles Symbol für das Pneuma (bzw. die Inspiration)

v.36 ein Kindskopf: auf der realen Ebene ein junger Hirte, übertragen: der ’naive, sentimentalische‘ Dichter

v.37 Tityrus: Tityrus ist der Name eines Hirten in der antiken bukolischen Dichtung. Der Name wird zuerst von Theokrit (Idyll 3, 2–4) verwendet, dann vor allem vom römischen Dichter Vergil in dessen Eklogen. Er kann hier als der Leser verstanden werden, der nur schwer einen Zugang zum Gedicht bzw. der Transzendenz findet.

v.39ff ach, Fruchtfleisch, … / … / bissfester Ewigkeit: Sowie sich bei (unreifen) Oliven das Fruchtfleisch nur schwer vom Kern lösen lässt, so lässt sich bei Gedichten häufig der Sinn nur schwer aus dem Text entnehmen. Ebenso wenig lässt sich die Seele vom Körper trennen.

v.42 Geißbock: Rückkehr zum am Anfang genannten Gott dieses Tals (v.1), Pan

Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus einem einzigen langen Satz (einer Periode), der über 9 Versgruppen (4/6/4/4/6/4/4/7/3) reicht. Diese sind um die mittlere Versgruppe (die ‚alles enthält‘ (v.20)) symmetrisch angeordnet (jeweils 18 Verse davor und danach). An zwei besonders poetischen Stellen wird der reine Reim benutzt: nachtwund (v.26) / Grund (v.27) und dass sie (v.30) / Poesie (v.32).

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