Abendland

Überblickskommentar:
 
Auf der Realebene gibt das lyrische Ich Bruchstücke eines Anrufs der Tante Lena aus Rom wieder und fordert den/die mit der Tante Telefonierende(n) auf, entsprechend zu erwidern. Das lyrische Ich hat eine solide Halbbildung (Fragmente der griechischen Mythologie dürfen vorausgesetzt werden) und ist offensichtlich Astronom. Das Paar hat anscheinend gerade vom Balkon aus den Himmel betrachtet.
 
Auf der übertragenen Ebene thematisiert das Gedicht die Entstehung von Neuem aus Altem: Neue Sterne und Planeten entstehen aus Supernovae; das christl. Abendland aus der Antike. Dazu genutzt wird die griechische Mythologie, insbesondere die ‚Seitensprünge‘ des Zeus, hier mit Leda, Europa und Danae. Dies erklärt die sexuellen und die Zeugungs-Anspielungen. Die typologische Figur der Halbkugel (Himmelswölbung, Hirnschale, Pantheon-Kuppel, Eierschale) verbindet die Mythologie mit der Astronomie und die Kulturen untereinander.
 
Die strukturelle Situation des Gedichts wird durch das Telefonat, das von dem lyrischen Ich indirekt (medial vermittelt) wiedergegeben wird, gespiegelt. Es verdeutlicht die Weitergabe/Veränderung von Informationen von einer Kultur zur anderen. Die formale Aufbau des Gedichts (s. dazu unter Aspekte der Form) zeigt den zyklischen Charakter von Vergehen und Entstehen.
 

Abendland

Wer?
Tante
Lena
? Jetzt nicht! Nein, auch nicht aus
Rom
!
Sag ihr
: Balkonabend, ja, und
wir
naschen gerade
Ambrosia
vom
reißenden Kreisen des Kosmos
,
Licht der

 
So? Und das
Pantheon
hat sie – ?
Märtyrermystik
,
okay
!
5Sag ihr, auch
wir wissens nicht
, dies blässliche
M1-Gestrichel
,M1
obs
Ossuarien
sind oder doch
Stierorgasmuskaskaden
,
 
mir jedenfalls, wenn ich dort hinschau, auf meiner
Kalotte

als gäbs einen
Kriechstromkontakt
, so
knistert mirs Fell
,
synchron aber am
Pluspol
, d.h. wo die Hoden –
 
10Wie? Auch die
Thermen
will sie – ?
Angeli, vangeli
!
Sag ihr, sie fliegt schon selbst hübsch die
Engelsbahn

mit
230 km/sec
,
während, von fern her, strahlhell
und
 
oh
Albireo
!
Augenpaar du, paradoxes, des Schwans
!
Reiner Azur und verlockendster Dotter
!
 
15herrlicher stets dies Glänzen,
wie es herankommt
,
und heißer gar, sag ihr, großartiger noch als
Neros Rom

rotglühend beim
Brutgeschäft
über dem
goldenen Gott
!
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel lässt zunächst eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Gegenstand Abendland erwarten. Die Eröffnungsverse brechen mit dieser Erwartung, sie scheinen zunächst als reine Zeit- und Ortangabe (aus Rom … Balkonabend v.1f) zu sein, erst im Verlauf des Gedichts erkennt der Leser, dass das Thema tatsächlich die Kulturgenese ist.

v.1: Die Eröffnung des Gedichtes (Handyanruf, der vom lyrischen Ich indirekt wiedergegeben wird) konterkariert sofort die im Titel hervorgerufene Erwartung: eine Thematisierung des ‚Abendlandes’. Fetzen aus dem prosaischen Handyanruf werden auch in den Versen 4 und 10 kolportiert.

v.1 Lena: Kurzform von ‚Helena‘, die in der griechischen Mythologie die aus einem Ei geborene Tochter Zeus’ und Ledas war. Leda wurde von Zeus in Gestalt eines Schwanes verführt, wodurch sie die Mutter von Helena, Klytemnästra und der Dioskuren Kastor und Polydeukes (römisch: Castor und Pollux) wurde. Die Entführung Helenas durch Paris führt zum Untergang Trojas (vgl. dazu den Brand Roms (zu v.14ff)).

v.1 Rom: hier nicht nur als touristisches Ziel, sondern auch als vermittelnder Ort zwischen Antike und christlichem Abendland

v.2 Sag ihr: Das Gedicht strukturierend wiederholt in v.5, v.11 und v.16. Durch die Aufforderung, Information weiterzugeben, wird angespielt auf die Übermittlung zwischen Kulturen, aber auch auf die frohe Botschaft des Evangeliums.

v.2 wir: Neben dem Paar auf der Realebene, das einen Abend auf dem Balkon genießt, auf der mythologischen Ebene die gesamte griechische Göttergemeinschaft incl. Zeus, deutlich gemacht durch den folgenden Hinweis auf Ambrosia als Speise der Götter.

v.3 Ambrosia: Ambrosia (griech. Unsterblichkeit) ist die Speise und Salbe griechischer Götter. Ihr verdanken die Götter die Unsterblichkeit. Das lyrische Ich zitiert (unbewusst?) den griechischen Astronomen Ptolemaios, von dem folgendes Epigramm überliefert ist: „Weiß, ich bin sterblich, ein Eintagswesen, doch wenn ich der Sterne / wirbelnde Bahnen erforsch, wie sie sich drehen im Ring, / haftet nimmer mein Fuß auf dem Boden: dann bin ich beim höchsten / Zeus, und Ambrosia nährt, Speise der Götter, auch mich.“

v.3 reißenden Kreisen des Kosmos: Das lyrische Ich scheint eine Stelle aus Platons Phaidros zu paraphrasieren. Dort heißt es im Abschnitt über die Unsterblichkeit der Seele: „Denn die unsterblich Genannten … stehen so auf dem Rücken des Himmels, und hier stehend reißt sie der Umschwung mit fort, und sie schauen, was außerhalb des Himmels ist.“ (Platon: Phaidros. Nach der Übersetzung von Fr. Schleiermacher, 247c). Vgl. auch zu v.3 (Ambrosia) und v.12 (230 km/sec). Astronomisch gesehen ist auch das Kreisen der Milchstraße gemeint.

v.3 Licht der – : Wie hier fortzusetzen ist, ist unsicher. Es könnte das Licht der Milchstraße, die sich durch das Sternbild Schwan zieht (vgl. v.13), gemeint sein. Wichtig aber ist hier die Figur der Satzellipse (so in v.3, v.4, v.9 und v.10), die auf der grammatischen Ebene den Zusammenbruch einer Kultur oder eines Sterns versinnbildlicht.

v.4 Pantheon: Das Pantheon (griechisch von pân ‚alles‘ und theós ‚Gott‘) in Rom war ursprünglich ein allen Göttern Roms geweihtes Heiligtum. Den Bau, der heute gemeinhin als Pantheon bezeichnet wird, ließ Kaiser Hadrian zwischen 118 und 125 n. Chr. auf dem Marsfeld in Rom erbauen. Er besteht aus zwei Hauptelementen, einem Pronaos mit rechteckigem Grundriss und Tempelfassade im Norden sowie einem kreisrunden, überkuppelten Zentralbau im Süden. Das Pantheon war für mehr als 1700 Jahre die größte Kuppel der Welt gemessen am Innendurchmesser und gilt allgemein als am besten erhaltenes Bauwerk der römischen Antike. Sein Einfluss auf die Architekturgeschichte, vor allem die der Neuzeit, ist enorm.

v.4 Märtyrermystik: Das Pantheon dient seit dem 13. Mai 609 als römisch-katholische Kirche, geweiht der heiligen Maria (Sancta Maria ad Martyres). Der Titel verweist darauf, dass große Mengen von Märtyrerreliquien in die Kirche gebracht worden waren. Das Errichten von Neuem in Altem (die christliche Kirche im antiken Gebäude) stellt den Übergang von einer Kultur zur anderen dar.

v.4 okay: Der Sprechende zeigt hiermit sein Einverständnis mit Hilfe eines umgangssprachlich codierten Jargons.

v.5f wir wissens nicht: Die Frage ist, ob M1 als alt (Knochen) oder als neu (Samen) interpretiert werden kann.

v.5 M1-Gestrichel: M1 wird der Krebsnebel im Sternbild Stier genannt. Er ist das erste Objekt im Messier-Katalog. Der Messier-Katalog ist eine Auflistung von 110 astronomischen Objekten, hauptsächlich Galaxien, Sternhaufen und Nebeln. Die Objekte des Katalogs wurden zwischen 1764 und 1782 von dem französischen Astronomen Charles Messier zusammengestellt. Er war einer der Ausgangspunkte für die systematische Erforschungen von Galaxien, Nebeln und Sternhaufen, und die dort vergebenen Nummern sind nach wie vor die übliche Bezeichnung vieler wichtiger Himmelsobjekte. M1 ist ein Supernovaüberrest (vgl. den Link zum Gedicht), der Stern, aus dem er entstand, explodierte im Sommer 1054 n.Chr.

v.6 Ossuarien: Als Ossuar bezeichnet man ein Behältnis, das der Aufbewahrung menschlicher Knochen dient. Ossuarien können mit M1 verglichen werden, weil beide Überreste bewahren bzw. sind.

v.6 Stierorgasmuskaskaden: Anspielung auf das Sternbild Stier und dessen mythologische Bedeutung: Als Stier entführt Zeus Europa (der Gründungsmythos für das Abendland). Seine häufigen Liebesabenteuer klingen in den Orgasmuskaskaden an. (Vgl. auch den Link zu M1, der Krebsnebel sieht wie ein Hoden (v.9) aus).

v.7 Kalotte: In der Geometrie: die gekrümmte Fläche eines Kugelabschnittes; in der Architektur: eine flache Kuppel; in der Anatomie: das knöcherne Schädeldach

v.8 Kriechstromkontakt: Kriechstrom ist ein Leckstrom, der an der Oberfläche eines Isolierstoffes entlang fließt. Kontakt als Anspielung auf sexuelle Bedürfnisse. Gedacht sein könnte auch an das Erscheinen des Zeus als Blitz vor Semele sein.

v.8 knistert mirs Fell: Abwandlung der Redewendung ‚juckt dir das Fell‘ und ebenfalls Anspielung auf sexuelles Begehren, hier wohl auch das von Zeus als Stier

v.9 Pluspol: Der Strom fließt vom Minuspol (hier: Kopf, Kalotte) zum Pluspol (hier: Hoden). Der Stromfluss wird durch die Betrachtung von M1, bzw. der Sterne angeregt. Neben dem elektrischen positiven Pol ist der Pol einer Kuppel (Kalotte, Erdkugel) mitzuhören.

v.10 Thermen: Badehäuser im römischen Reich. Hier sind wohl nicht die bekannteren Caracalla-Thermen gemeint, sondern die Diokletiansthermen (s. zu v.10 Angeli).

v.10 Angeli, vangeli: ital.: ‚Engel, Evangelien‘. Salopper Hinweis auf die Verkündigung der frohen Botschaft durch den Erzengel Gabriel. Angespielt wird auf die Kirche Santa Maria degli Angeli, die von Michelangelo in die Ruinen der Diokletiansthermen integriert wurde.

v.11 Engelsbahn: Tante Lena fliegt nicht nur als Touristin, sondern auch als Erdbewohnerin durch den Kosmos (s. zu v.12: 230 km/sec). Gedacht könnte auch sein an die Bahn der Milchstrasse, unsere Galaxis, die im ‚Kosmos kreist‘.

v.12 230 km/sec: Das Sonnensystem bewegt sich mit 230 km/sec um das Zentrum der Galaxis. (Neuere Untersuchungen lassen eine höhere Geschwindigkeit von ca. 280 km/sec vermuten.) Vgl. auch v.3 (vom reißenden Kreisen des Kosmos).

v.12 während, von fern her, strahlhell: Zugrunde liegen die Kategorien Zeit, Raum und Licht.

v.13 Albireo: der Stern Beta Cygni im Sternbild Schwan. Albireo ist ein Doppelsternsystem mit einem orangeroten Riesen und einem kleineren, bläulichen Begleiter. Der orangerote Riese wird sich wahrscheinlich zu einer Supersnova entwickeln und seine schweren Elemente wie z.B. Eisen in die Umgebung abstoßen. Daraus können neue Sonnen und Planeten entstehen.

v.13 Augenpaar … des Schwans: Das Doppelsternsystem Albireo bildet im Sternbild die Spitze eines fliegenden Schwans. Mitgedacht werden muss auch die mythologische Bedeutung des Schwans: Zum einen war der Schwan die Gestalt, in der Zeus Leda verführte und Helena, Klytemnästra und die Dioskuren zeugte, zum anderen ist der Schwan das Symboltier der Sänger: Kyknos wurde, als er um seinen Geliebten Phaeton trauerte, von Zeus in einen Schwan verwandelt und singt seitdem trauernd.

v.13 paradoxes: Paradox, weil die beiden Augen des Paars (des Doppelsternsystems) unterschiedliche Farben haben.

v.14: Die beiden Farben verweisen auf das Doppelsternsystem Albireo (s. zu v.10). Daneben verweist der Dotter aber auch auf das Ei, aus dem Helena und die Dioskuren geboren wurden und damit auf das In-der-Welt-Sein. Der ‚reine Azur‚ verweist auf Göttliches.

v.15 wie es herankommt: Suggeriert wird hier das Herankommen der zukünftigen Supernova Albireo. Hier kann man auch an das Erscheinen Jupiters als Goldregen bei Danae denken. Generell ist an die Ankunft eines Neuen Gottes zu denken.

v.16f heißer … als Neros Rom / rotglühend: Angespielt wird auf den Brand Roms, den Nero angeblich gelegt hat, um sein Bauprojekt, die Domus Aurea, verwirklichen zu können. Die Domus Aurea (lat. das Goldene Haus) war ein riesiger Palast in Rom, den Nero nach dem Brand der Stadt (64 n. Chr.) auf dem Gelände eines früheren Palastes, der Domus Transitoria, errichten ließ.

v.17 Brutgeschäft: Angeknüpft wird an den Anfang, die Geburtsgeschichte Helenas, an die Kulturgenese und an das Entstehen neuer Sterne aus den Überresten von Supernovae.

v.17 goldenen Gott: Der Koloss des Nero war eine große Bronzestatue dieses römischen Kaisers, die er in der Eingangshalle der Domus Aurea in Rom aufstellen ließ. Sie soll 35 m hoch gewesen sein. Nach dem Tod Neros wurde die Statue in den Sonnengott Sol uminterpretiert.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht spielt mit der Sonettform: es hat 14+3 Verse. Der Aufbau des Gedichts zeigt sich durch die Analyse des Reimschemas: 3 Verse haben keine Reime (v.1, v.4 und v.10), dies sind die Verse, in denen der Handyanruf wiedergegeben wird. Die anderen Verse reimen abba cdc ede fggf. Das zweite Quartett des Sonetts ist also hinter die beiden Terzette gestellt worden. Dadurch erhält das Gedicht einen -bei Sonetten sonst nicht üblichen- symmetrischen Aufbau. Mit der formalen und inhaltlichen Anknüpfung an den Beginn des Gedichts entsteht der Eindruck eines Kreises.

v.12f: Beide Verse weisen eine parallele Zersplitterung der Syntax auf.

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