Diese Seligkeit gross zu sein ohne etwas zu sein

Überblickskommentar:

Dem lyrischen Ich sitzt in der S-Bahn ein junger Mann gegenüber, der während der Fahrt durch vorbeiziehende Landschaften, den Ansagen zu den Stationen und auftretenden Musikern reglos ein Buch liest. Das lyrische Ich fordert auf, die Außenwelt zu vergessen und sich den Helden (Mungo Park, Samurai) zu öffnen, denn dann könne ein ‚Auferstehungswunder’ geschehen, das das Alltagsleben transzendiert. Es bietet sich an, die verborgenen Hauptmotive der Lektüre zu erhellen (analog zu sichtbarer und dunkler Materie) und bringt als Beispiel für einen Schöpfungsmythos im Epos das Kalewala. Wenn das ‚Auferstehungswunder’ gelingt und das schöpferische lyrische Ich gehört wird (der junge Mann die Augen hebt), weht der Logos (der Schwingenschlag des Reihers), und der Mund des Dichters kann die Transzendenzferne aufheben, indem er mit der Mandorla des Gedichts den gesuchten Sinn reanimiert.
 
Sowie Pessoa, aus dessen Werk der Gedichttitel stammt, in seinem schäbigen Zimmer Worte findet, die seine Seele retten, ist der Dichter in der Lage, in der bewegten Alltagswelt und in dem jungen Mann das ‚ewig Göttliche’ zu finden. Das Gedicht wird damit zum Ort der Wiederbelebung der Transzendenz, zum auferstehungswunder.

Diese Seligkeit gross zu sein

ohne etwas zu sein

Reglos
was geht dort vor

Junger mann im
frühschichtfrühlicht
mir gegenüber
mit auf den schuhen

Farbspritzer wie
Aiax Oileus
seinerzeit hat den verkleideten

Gott an den beinen
erkannt
und

5An der leinenhose Ihr haupt bis fast zu den brauen
Wollmützenbekränzt
und
dieses malergesellengesicht
leute ein

Leute aussteigend
stationen angesagt anschlüsse hindernisse
Die villen vorüber die wälder
kulturpflanzen

Verglichen mit ihren wildformen größer zwar
10Aber es fehlen die bitter die giftstoffe
Mit denen fressfeinde oder auf slawisch auch
Eine
groschengitarre
vollkommen unbeirrbar

Gebeugt über ein
vielhundertseitendruckwerk
within you
within you without you
Solide einbanddeckel without you
die Sie ganz und gar

15
Lass fahren
das grün da draußen die vögel

Im wind lass verwehn
hol dir ins herz eingeschlossen

Den flügelschlag lautloser töne ruhig in händen vornüber in
Portu navigans
vielleicht
Mungo Park
der im fieber

Dschungel
habe die absicht
in der mitte des flusses zu bleiben

20Bis ich die quelle oder auch ein
exzentrischer stern
wo ein
Samurai

Sehnig einer allein gegen armeen von
Aliens aus teflon
serien

Serien
toter symbole
wenn aber der richtige kommt

Da sieh was für
auferstehungswunder
ach welche sehnsucht
Zieht Sie welches
erregungsniveau
das festzuhalten

25Einen achtstundentag lang auf spröden staccato
Stelzen
sagen Sie sprechen Sie es unverhüllt aus
vor dem
Fachmann
ich kann Ihnen vergleichsweise

Neunzig prozent der
materie
liegen geschätzt
Als dunkle in einer noch hypothetischen form
30Viel erhellendes mitteilen über
struktur sowie tragfähigkeit
und

Genese der hauptmotive
auf seinem knie
z.b.

Als er im Wasser umhertreibt
Väinämöinen
brütet
Väinämöinen
Die ente das weltei aus denn dort war staunen Sie nur damals
Der sitz des samens
aus mythischen schichten

35Und vor Ihren augen die Sie dann zu mir auf
ein reiher

Sich in die frühe hebt mit wundermächtigen flügeln
In seinem trunkenen schwingenschlag
wird mein mund

Die sprache
indem sie das schweigen bricht

Verwirklicht sie was
sein schoß
gewollt hat

40
Den erhofften helden
denn das ist es doch was wir suchen
Eines Gottes spur suchen wir suchen sinn wenn wir
Voran uns so tasten am alphabet
blindekuh
bis wir
ihn

Aufleuchten lassen
herzher ins leben gehaucht lippenbild

In einer
mandorla
aus worten das wir bzw. das Sie
45
Ja Sie natürlich

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel ist ein leicht geändertes Zitat aus F. Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fragment 12, 19.03.1930, Nr.4): „…und bei der Erhabenheit all meiner Träume, Hilfsbuchhalter in Lissabon! Doch der Gegensatz zerreibt mich nicht – er befreit mich; und die Ironie, die in ihm liegt, ist mein Lebenssaft. Was mich herabsetzen sollte, hisse ich als mein Banner; und das Lachen, mit dem ich über mich lachen sollte, ist ein Fanfarensignal, mit dem ich eine Morgenröte, in der ich mich selbst erfinde, erschaffe und grüße. Die nächtliche Seligkeit, groß zu sein, ohne etwas zu sein! Die ernste Herrlichkeit des unbekannten Glanzes … Und mit einem Mal spüre ich die Erhabenheit des Mönchs in der Einsamkeit, des Eremiten in der Einöde, der weiß, dass Christus in den Steinen anwesend ist und in weltabgeschiedenen Höhlen. Und an meinem Tisch in diesem absurden, schäbigen Zimmer schreibe ich namenloser kleiner Angestellter Worte, die die Rettung meiner Seele sind, und vergolde mich mit dem unmöglichen Sonnenuntergang über hohen, weiten, fernen Bergen, mit meiner Statue, dem Ersatz für die Freuden des Lebens, und meinem Ring des Verzichts, unerschütterliches Juwel ekstatischer Verachtung, an meinem Apostelfinger.“

v.1f Reglos … / Junger mann … mir gegenüber: Dem lyrischen Ich sitzt in einer S-Bahn ein junger Malergeselle gegenüber. Junger mann kann als Anrede verstanden werden.

v.1 Reglos was geht dort vor: Das lyrische Ich zeigt mit der Frage, dass es erstaunt ist, dass der junge Mann ein vielhundertseitendruckwerk (v.13) liest und so in unserer beschleunigten Gegenwart (während einer S-Bahn-Fahrt) reglos an Zeitlos-Geistigem teilnimmt.

v.2 frühschichtfrühlicht: Der Morgen steht traditionell für den Anfang einer neuen Kulturstufe. Darüber hinaus verweist der Begriff auch auf die im Pessoa-Zitat (s. zum Titel) genannte Morgenröte, in der Pessoa sich in der Gestalt des Hilfsbuchhalter Bernado Soares neu erfindet und erschafft. Vgl. auch zu v.43 und Aspekte der Form, zu v.2.

v.2f mit auf den schuhen / Farbspritzer: Das eigentlich überflüssige mit ist Kennzeichen eines schichtspezifischen Sprachgebrauchs.

v.3 Aiax Oileus: auch Ajax der Kleine (zur Unterscheidung von Ajax dem Großen), griechischer Held vor Troja.

v.3f hat den verkleideten / Gott an den Beinen erkannt: Im 13. Gesang der Ilias erkennt Aiax Oileus den als Kalchas verkleideten Gott Poseidon: „War doch das nicht Kalchas, der göttliche Deuter des Fluges; / Denn ich erkannte der Füße Gestalt und der Schenkel von hinten, / Als er hinweg sich gewandt; leicht sind ja die Götter erkennbar“ (Ilias, Gesang 13, v.70-72, Übersetzung von J. J. Donner). Die Assoziation zeigt, dass das lyrische Ich im lesenden Malergesellen einen inkarnierten transzendenten Teil ‚erkennt‘.

v.4f und / An der leinenhose: Das und knüpft an v.2f an: auch auf der Hose sind Farbspritzer.

v.5f Ihr haupt … / Wollmützenbekränzt: Angeredet ist der junge Mann, der seine Wollmütze bis zu den Augenbrauen heruntergezogen hat. Der Begriff ‚Haupt’ und das Attribut ‚bekränzt’ zeigen, dass er gerne ein Held wäre.

v.6 dieses malergesellengesicht: Der Satz wird mit v.12f vollkommen unbeirrbar / Gebeugt über … fortgesetzt.

v.6-12: Geschildert wird die S-Bahn-Fahrt mit Fahrgästen, Ansagen, Ausblicken auf Häuser und Gärten und mit musizierenden Migranten. Diese Fahrt kann parallel gesehen werden zu Heldenfahrten wie z.B. dem Argonautenzug oder der Entdeckungsreise des Mungo Park (vgl. zu v. 18ff).

v.6f leute ein / Leute austeigend: Das lyrische Ich nimmt die Heldenperspektive des Malergesellen ein: Es sind für ihn unbedeutende kleine Leute.

v.8ff kulturpflanzen / … / fressfeinde: Das Bild steht für die Gegenwart, die alles auf Nutzen hin züchtet und dabei die ehemaligen transzendenten Bezüge (‚Bitter- und Giftstoffe’) eliminiert, sodass sie ihren Feinden (z.B. der kapitalistischen Ausbeutung der Natur) hilflos ausgeliefert ist.

v.12 groschengitarre: Im Begriff groschengitarre wird der Akt des Spielens mit dem des Gebens zusammengezogen.

v.12f vollkommen unbeirrbar / Gebeugt: Die Reglosigkeit des jungen Mannes und seine Unbeeinflussbarkeit durch die Umgebung wird hier von Innen motiviert mit einer Lesehaltung (ruhig in händen vornüber v.17), die gleichzeitig eine Demutsgeste darstellt.

v.13f vielhunderseitendruckwerk … / Solide einbanddeckel: Offensichtlich handelt es sich um ein gebundenes Buch (im Gegensatz zum modernen Paperback). Der Umfang des Buches steht im Gegensatz zur Kurzlebigkeit unserer Zeit. Die einbanddeckel stehen gleichzeitig symbolisch für etwas im Inneren ‚Eingebundenes’. Das gehört auch within you (v.13) und ins herz eingeschlossen (v.16).

v.13f within you / … without you: Ein Song der Beatles von der LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967), in dem George Harrison von einem Standpunkt außerhalb der Zeit (Reglos, Ewigkeit) über den Fluss des Lebens und die Einheit alles Seienden (within you / … without you) reflektiert. Der Song wird vermutlich gerade auf der groschengitarre (v.12) gespielt.

v.14 die Sie ganz und gar: zu ergänzen wäre z.B. ‚fesselt‘ oder ‚in Bann schlägt‘. Der unvollständige Satz, die Ellipse, zeigt, wie der junge Mann das ihn Umgebende ausblendet.

v.15 Lass fahren: Die Wendung erinnert an die letzten drei Verse der vierten Strophe des Kirchenliedes „Ein feste Burg ist unser Gott“: „Lass fahren dahin, / sie haben’s kein’ Gewinn, / das Reich muss uns doch bleiben.“ Die Verse meinen sinngemäß: ‚Lass die äußere Welt, das (innere) göttliche Reich wird bleiben‘.

v.15f das grün da draußen die vögel / Im wind lass verwehn: Das lyrische Ich bestätigt das Verhalten des Lesenden, der das grün der wälder, kulturpflanzen (v.8) und deren fressfeinde (v.11), die vögel, am S-Bahn-Fenster unbeeindruckt vorbeiziehen lässt.

v.16f hol dir ins herz eingeschlossen / Den flügelschlag lautloser töne: Das lyrische Ich fordert den Lesenden auf, sich vermittels des gedruckten Wortes (lautloser töne) das Geistige (den flügelschlag des Logos) ins herz zu holen. Das Partizip Perfekt eingeschlossen zeigt, dass der geistige Funke eigentlich nicht erst ‚hereingeholt‘ werden muss, sondern schon von je her im Herzen des Menschen inkorporiert ist. Vgl. auch zu v.35ff ein reiher ….

v.17f in / Portu navigans: „In portu navigo” – „Ich fahre im Hafen zur See.” Inschrift in dem erblichen Wappen des Humanisten Sebastian Münster. Münster schuf mit der „Cosmographia” eine geographisch historische Weltbeschreibung, die mit knapp 50 Auflagen zum nach der Bibel am meisten gelesenen Buch des 16. und 17. Jahrhunderts überhaupt avancierte. Dabei bediente er sich weitestgehend des Wissens anderer, indem er Reiseberichte zusammentrug, antike und zeitgenössische Quellen studierte und die gesammelten Informationen anschließend kompilierte. In den mehr als zwei Jahrzehnten Bearbeitungszeit verließ Münster nur selten sein Studierzimmer. Die in ihr Studierzimmer ‚eingeschlossene’ Figur Münsters nimmt das Motiv des im Inneren ‚Eingebundenen’ wieder auf (vgl. zu v.13f).

v.18 Mungo Park: britischer Afrikareisender (*1771 – †1806), der auf seiner zweiten Afrikareise gestorben ist

v.19f habe die absicht … / Bis ich die quelle: Um sich vor Angriffen der Tuareg (wie auf seiner ersten Afrikareise) zu schützen, schreibt Mungo Park in seinem letzten Brief an seine Frau, dass er die Absicht habe, nicht an den Ufern des Niger anzulanden und sein Vorhaben auf keinen Fall aufzugeben, bis er sein Ziel erreicht habe. Dieser Vorgang kann parallelisiert werden mit dem Verhalten des Malergesellen in der fahrenden S-Bahn, der die an ihm vorbeiströmende Landschaft nicht wahrnimmt. Parallel zu sehen sind wälder kulturpflanzen (8) mit dem Dschungel (v.19) und die angreifenden Tuaregs mit den fressfeinden (v.11). Auf der übertragenen Ebene gilt das Leben traditionell als Reise, die zurück zum göttlichen Ursprung führt (zur quelle) und auf der die Gegenwart (‚das Ufer‘) nicht zu wichtig genommen werden darf.

v.20 exzentrischer stern: Im astronomischen Sinne ist ein Stern bzw. ein Planet, der von der normalen elliptische Bahn abweicht, gemeint. Die ‚exzentrische Bahn’ erinnert an Hölderlins Vorrede zum Hyperion: „Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung.“ Der Weg von der Kindheit zur Vollendung ist vergleichbar mit Mungo Parks Weg zur Quelle. Hier wird auf utopische Romane angespielt.

v.20 Samurai: Kriegerkaste des vorindustriellen Japans. Die Figur des Samurai spielt heute bei Jugendlichen in Fantasy-Romanen, in Computerspielen und in Fernsehserien als Einzelkämpfer, der sich gegen Horden von Feinden wehren muss, ein große Rolle.

v.21 Aliens aus teflon: Hier werden zwei Begriffe verknüpft, die im normalen Bewusstsein mit der Erkundung des Weltraums verbunden sind (Teflon als Abfallprodukt der Raumfahrt). Damit liegt eine Ausweitung der Reise-Metapher vor: von der S-Bahn-Fahrt über die Expedition des Mungo Park in Afrika bis zur fantastischen Weltraumeroberung.

v.22 toter symbole: Als Symbol bezeichnet man vereinfacht ein einen tieferen Sinn (Signifikat) andeutendes Zeichen (Signifikant). Ist dieser tiefere Sinn verloren gegangen oder ist die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant verloren, so kann von ‚toten Symbolen’ gesprochen werden. Die seit der Aufklärung voranschreitende instrumentelle Vernunft hat in breiten Schichten zur Entleerung der traditionellen religiösen Symbole geführt.

v.22f wenn aber der richtige kommt: erinnert an die Arie „Aber der Richtige, wenn’s einen gibt auf der Welt“ aus der Oper „Arabella“ von Richard Strauss

v.23 Da sieh was für auferstehungswunder ach welche sehnsucht: Bezug genommen wird auf die leibliche Auferstehung Christi am dritten Tag nach seinem Tod. Mit dem Abstieg Christi in die Hölle wird der Verlust der Transzendenz in der Gegenwart (Serien toter symbole) parallelisiert und die Hoffnung auf die Wiederauferstehung eines Bezugs zur Transzendenz verbunden. Da sieh nimmt den Ton der Bibel auf. Die Formulierung ach welche sehnsucht zeigt, dass dem Begehren des Menschen das Gefühl des Nichthabens, eines Mangels eingewebt ist, aus dem das Bedürfnis nach Sinngebung durch die Transzendenz folgt.

v.24 erregungsniveau: Erregungsniveau (auch Arousal) ist ein Begriff der Psychologie und der Physiologie, welcher den allgemeinen Grad der Aktivierung des zentralen Nervensystems beim Menschen und bei Wirbeltieren bezeichnet. Charakteristische Merkmale sind Aufmerksamkeit, Wachheit, Reaktionsbereitschaft.

v.24ff das festzuhalten / … / Stelzen: Auf der konkreten Ebene ist der Geselle während seines Arbeitstages bemüht, die Stelle im Gedächtnis zu behalten, bis zu der er morgens gelesen hat. Im Gegensatz zu der Sprache, in der sein Held beschrieben ist, ist seine Arbeitswelt charakterisiert durch eine spröde, abgehackte (staccato) und gestelzte Sprache.

v.26 sagen Sie sprechen Sie es unverhüllt aus: Auf der übertragenen Ebene die Aufforderung, das, was im Herzen eingeschlossen ist (vgl. zu v.16), zu enthüllen.

v.27 Fachmann: Das lyrische Ich, der Dichter, wird hier als derjenige Fachmann bezeichnet, der das ‚Verhüllte erhellen’ kann.

v.27 ich kann Ihnen vergleichsweise: Der Satz wird mit v.30 Viel erhellendes mitteilen fortgesetzt.

v.28f: Das Standardmodell der Kosmologie ergibt in der Abgleichung verschiedener Modelle folgende Zusammensetzung des Universums nach Massenanteil: Etwa 73 Prozent Dunkle Energie, 23 Prozent Dunkle Materie und rund 4 Prozent „gewöhnliche Materie“ (z. B. Atome). Dunkle Energie und Materie können nicht direkt nachgewiesen werden, sondern müssen über Hypothesen erschlossen werden. Das lyrische Ich nutzt diese Erkenntnis der Physik um zu zeigen, dass die reale, sichtbare Welt nur eine geringe Bedeutung hat.

v.30 struktur sowie tragfähigkeit: Diese der Architektur entstammenden Fachbegriffe leiten über zum Bau einer neuen Welt, der in den folgenden Versen zitiert wird (s. zu v.31ff).

v.31ff auf seinem knie z.b. / Als … / Die ente das weltei aus: Abwandlung des finnischen Nationalepos „Kalevala“: Vor Entstehung der Welt treibt die Urmutter Ilmatar im weiten Wasser. Als eine Ente einen Nistplatz sucht, hebt sie ihr Knie aus dem Wasser und die Ente brütet darauf die Eier aus, aus denen die ganze Welt entsteht. Dann gebiert die Ilmatar den Urzeitsänger Väinämöinen (Elias Lönnrot: Kalevala, I, 102ff).

v.31 auf seinem knie: Der Malergeselle hält sein Buch mit den ‚hauptmotiven’ (Weltschöpfung und Heldenmythos) auf den Knien aufgeschlagen.

v.34 Der sitz des samens: nicht nur übertragen, sondern auch konkret zu nehmen: Der Maler hält sein Buch vor/auf seinem Schoß.

v.34f aus mythischen schichten / und vor Ihren augen: Die Phrase könnte wie folgt ergänzt werden: ‚entsteht die Welt dem Lesenden‘.

v.35ff ein reiher / … / … schwingenschlag: Zitat aus Josef Weinhebers Gedicht „Jüngling“ aus dem Zyklus „Menschliche Landschaften“: „Vom Weiher aus, vom Birkenhag / ein Reiher / sich in die Frühe hebt / mit wundermächtigen Flügeln / In seinem trunkenen Schwingenschlag / aufbrandet, Feuer um Feuer, / der junge Tag.“ (J. Weinheber. Gedichte. Hamburg 1966, S. 63, v. 6-12). Die Verknüpfung von jugendlichem Helden und Natur findet sich auch an weiteren Stellen des Gedichtes: 1) S-Bahn-Fahrt des jungen Mannes durch Gärten (v.8ff), 2) Fahrt des Mungo Park durch den Dschungel (v.13ff) und 3) Treiben des Väinämöinen im Urwasser (v.32).

v.37 wird mein mund: wird fortgesetzt mit: Den erhofften helden (v.40) Aufleuchten lassen (v.43)

v.38f: Die dichterische Sprache hat die Aufgabe, den in dem Menschen eingeschlossenen Keim des Göttlichen zu enthüllen und wirken zu lassen.

v.39 sein schoß: Überlagerung mehrerer Ebenen, sein schoß kann bezogen werden auf: den Malergesellen, Väinemöinen, Maria und auf Gott.

v.40 Den erhofften helden: Anknüpfung an den in v.3 genannten Helden der Ilias: Alax Oileus. Die folgenden Gleichsetzungen mit Eines Gottes spur (v.41) und sinn (v.41) zeigen, dass die Suche des jungen Mannes nach dem Helden unbewusst eine Suche nach einer Spur der Transzendenz und nach Sinn ist, Sinn, der über Literatur vermittelt werden kann. Darüberhinaus wird der Leser durch die Gleichsetzungen verführt, den ‚erhofften Gott’ , den Messias, zu erwarten. Die erstmalige Einführung des Personalpronomens wir weitet die Suche über den jungen Mann auf das lyrische Ich und auch auf den Leser aus.

v.41 Eines Gottes spur: Erinnert an Rilkes Sonette an Orpheus: „O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!“ (Erster Teil, Nr. XXVI, v.12).

v.41f wenn wir / … blindekuh: Die Menschen sind ‚blind’ für die ‚eigentliche’ Wahrheit, diese kann nur der ‚blinde Seher’ (Homer, Teiresias) mit Hilfe der Dichtung (alphabet) vermitteln.

v.42f bis wir ihn / Aufleuchten lassen: Gemeint ist sowohl der ‚erhoffte Held’ als auch der göttliche Funke.

v.43 herzher ins leben gehaucht lippenbild: ‚Vom Herzen kommend über den Atemhauch und die Lippen ins Leben tretend’. Angespielt wird auch auf den biblische Erschaffung Adams.

v.44 mandorla: Mandorla ist ein Fachbegriff aus der Kunstgeschichte − er bezeichnet eine mandelförmige Glorie oder Aura rund um eine ganze Figur, traditionell Gott, Christus oder Maria. Auch die geöffneten Lippen können als quergelegte Mandorla interpretiert werden. Eine aus Worten gebildete Mandorla umschließt das unsichtbare Zentrum.

v.44f das wir bzw. das Sie / Ja Sie natürlich: ergänzt werden kann in Analogie zum v.40 suchen. Das Gedicht wendet sich mit der Rückkehr zum Sie (v.44) wieder an den Malergesellen. Der pointierte Schlussvers, der das Sie prägnant wiederholt und durch natürlich verstärkt hervorhebt, legt nahe, dass nicht nur der Malergeselle, sondern auch der Leser gemeint ist.

Aspekte der Form:

v.2 frühschichtfrühlicht: Das von der frühschicht zum frühlicht geänderte Kompositum versinnbildlicht, dass auch in einem jungen Handwerker, der zur Frühschicht fährt, ein göttlicher Funken wie ein Frühlicht aufleuchten kann. Der Binnenreim verknüpft so Immanenz und Transzendenz.

v.13 vielhundertseitendruckwerk: Der Umfang des Buches wird durch die Wortlänge versinnbildlicht.

v.21 Sehnig: Zusammen mit sehnsucht (v.23) liegt hier eine falsche figura etymologica vor.

v.21f serien / Serien: Anadiplosis (Wiederholung des letzten Wortes eines Verses am Anfang des nächsten Verses)

v.23 auferstehungswunder: Der zentrale Gedanke des Gedichtes (vgl. den Überblickskommentar), der durch das Bild des Auferstehungswunders eingefangen wird, steht im Mittelvers des Gedichtes.