Aufhebung

Überblickskommentar
 
Grundgedanke: Der Wunsch nach Ausweitung des durch den Rationalismus eingeschränkten Weltbildes hin zu einer holistischen Wahrnehmung der Welt.
 
Der in den Kursiva geäußerten Wunsch des lyrischen Ich (in der Rolle des Herkules), die Verengung des Mittelmeereingangs aufzuheben, wird in den drei Versgruppen jeweils mit anderer Metaphorik demonstriert: VG 1 nutzt Termini der Wahrnehmungstheorie, VG 2 arbeitet mit Begriffen aus der Geologie und VG 3 mit solchen aus der Biologie. Die Verengung des Mittelmeereingangs entspricht den Hemmzonen (v.2), den Schadwirkungen (v.10)und den toxischen Sinkstoffen (v.14). Die Vernunft soll aus ihrer instrumentellen Einengung hin zu einer ganzheitlichen Weltsicht, die auch den Mythos umfasst (Seeungeheuer v.19), erweitert werden.
 
 

AUFHEBUNG

 
Auf
hochrezeptiven Feldern

Hemmzonenrückbildung
– wenn
Sogkräfte

Wenn sie gekannte Figuren
über-

5Vollständig machen
 
War Kalpe mein Werk und Abyle −

 
Plötzlich mit
Schüttergebieten

Des
Grundgebirgs
unermesslich
Angstpräpariertes Herz
10Wo Schadwirkungen durch
Segment-

Anzeigen sich lichten
 
Vorm Ozean sicher mein Boot −

 
Tempelbaumhaupt
und hinab
Durch
toxische Sinkstoffe
bis
15Um seine
Einheitswurzel

Funktionskreise schickend: Die
Schließen den
Drachenbaum
ein
 
So gebt sie mir wieder die Fülle

Seeungeheuerdurchdroht
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Begriff verweist auf das hegelsche Verständnis der Dialektik: Die Einengung der Wahrnehmung soll beseitigt (aufgehoben) werden, sie soll dabei aber bewahrt (aufgehoben) und in in eine neue Synthese (hin)aufgehoben werden.
 
v.1 hochrezeptiven Felder: Unter einem rezeptiven Feld (z.B. im Auge) versteht man den Bereich von Sinnesrezeptoren, der an ein einziges nachgeschaltetes Neuron Informationen weiterleitet. Die hochrezeptiven Felder stehen für eine umfassendere Wahrnehmung, die von dem einzelnen Neuron auf die Rationaltät eingeschränkt wird. Das ‚Auge‘ steht für die Wahrnehmung beider Bereiche.
 
v.2 Hemmzonenrückbildung: In der Biologie ist eine Hemmzone eine Zone auf einer Nährbodenplatte, in der durch das Auftragen eines antimikrobiellen Agenz kein Wachstum von Bakterien oder Pilzen stattgefunden hat. Gemeint ist ein Bereich, in dem die Rückbildung des Zusammenhangs alles Lebendigen aufgehoben ist. In der Physiologie ist die Hemmzone ein um einen Druckreiz sich entwickelnder Bereich herabgesetzter Reizempfindung. Hier könnte gemeint sein, dass eine bestimmte Form der Weltanschauung, nämlich die mythische, durch den Druck der Rationalität herabgesetzt wird.
 
v.3f: Die Anziehungskräfte (Sogkräfte) einer holistischen Weltanschauung sind in der Lage die Wahrnehmung der Wirklichkeit (gekannte Figuren) aus der rationalen Einschränkung der Moderne herauszulösen und sie
über- / Vollständig
zu machen.
 
v.4f über-/Vollständig In der Mathmetik werden bestimmte vollständige Systeme (z.B. Banach-Räume) übervollständig genannt, wenn es möglich ist, aus ihnen ein Element zu entfernen und sie dennoch vollständig bleiben. Daneben ist ‚Übervollständigkeit‘ (engl. over-completeness) ein Konzept der theoretischen Chemie (s. dazu den Artikel ‚Basissatz (Chemie)‘ in Wikipedia).
 
v.6: In den Kursiva (v.6, 12 und 18f) spricht das lyrische Ich als Herkules. Während dessen zehnter Arbeit hat er einigen antiken Autoren zufolge (z.B. Pomponius Mela) die Meerenge von Gibraltar durch die (immer noch so genannten) Felsen Kalpe … und Abyla verkleinert, um den Durchzug von Seeungeheuern (v.19) vom Ozean (v.12) in das Mittelmeer zu verhindern. Der Ozean steht für eine holistische Weltanschauung, die auch den Mythos (Seeungeheuer) umfasst und durch die ‚Felsen‘ der Rationalität eingeengt wird. Das lyrische Ich als Herkules erbittet sich (von den Göttern?) in den letzten beiden Versen die Aufhebung dieser Eineignung.
 
v.7 Schüttergebiet: Ein Schüttergebiet ist das Gebiet an der Erdoberfläche, in dem ein Erdbeben ohne instrumentelle Hilfsmittel mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen werden kann.
 
v.8f: Das Grundgebirge als Epizentrum eines Erdbebens kann analog zum unermesslichen Ozean gedeutet werden. Es entspricht dem Zentrum des Menschen, dem Herzen, das durch das plötzliche Einbrechen des Unermesslichen erschüttert und geängstigt wird.
 
v.10f: Eine Segment-/Anzeige ist in eine Oberfläche integriert, sodass durch Aufleuchten (sich lichten) einzelne oder mehrere ihrer Segmente als Buchstaben, Zahlen oder Zeichen ablesbar werden (z.B auf einer digitalen Uhr). Das durch die Angst verdunkelte, geschädigte Herz wird durch die Erschütterungen, die die zugrunde liegenden (geologischen) Segmente offenbaren, erhellt.
 
v.12: Der mythischen Figur des Herkules wird ironischer Weise unterstellt, sie habe sich durch Rationalität vor dem Mythos schützen wollen (vgl. zu v.6). Das Boot ist traditionell ein Symbol für den Lebensweg.
 
v.13ff: Der Baum steht hier metaphorisch für den Menschen bzw. das menschliche Leben. Beginnend im spirituellen Zentrum, dem haupt, führt der Weg durch einen mit toxischen Stoffen belasteten Bereich (die Um-Welt) hinab zur Wurzel. Von diesem Ursprung ausgehend ergeben sich Kreise, die alle Lebensbereiche umfassen (auch mythische und imaginäre (vgl. zu v.15f)). Als Beispiel für den mythischen Bereich steht der ‚Drache‘ (wie in v.19 die Seeungeheuer (vgl. zu v.6)). In der christlichen Tradition steht der Drache als Schlange für das Böse.
 
v.13 Tempelbaumhaupt: Der Tempelbaum gehört zur Pflanzengattung ‚Plumeria‘. Das haupt ist sowohl die Krone des Baumes als auch die haupt-Sache des Menschen, sein religiös-spirituelles Zentrum – wie eben auch ein Tempel.
 
v.14 toxische Sinkstoffe: In der Abwasserreinigung werden Blei, Cadmium und Quecksilber als toxische Sinkstoffe bezeichnet (im Gegensatz zu den nicht absinkenden Schwebstoffen).
 
v.15f Einheitswurzel / Funktionskreise: In der Mathematik ist i als imaginäre Zahl die Wurzel aus -1, genannt Einheitswurzel. Der ‚Einheitskreis‘ ergibt sich in einem Koordinatensystem mit dem Mittelpunkt 0 und dem Radius 1. Alle Einheitswurzeln liegen auf diesem (Funktions-)Kreis.
 
v.17 Drachenbaum: Drachenbäume sind keine echten Bäume, sie gehören zu den Spargelgewächsen.
 
v.18f: siehe zu v.6