Unter der Sonne von Woronesch

Unter der Sonne von Woronesch

 

Unter der Sonne von Woronesch

Spätsommerlicht und ringsum die Stoppelfelder vergilben
vergilben falb und phantomschmerzbedrängt –

Rippen: so glauben wir wieder: die Rippen
und drei Tode graben wir tief
Schenkel: so denken wir wieder: die Schenkel
und dreimal greifen wir Leid
Kiefer: so fragen wir wieder: die Kiefer
und dreifach fügen wir blind was uns ungesagt bleibt

Großvater-Tode feldweit verstreut
Schwermut ach über die Erde gekrümmt nach verstümmelten Namen
manche wohl orthodox gläubig
andere die katholisch vielleicht

Schmerzreste wir klauben sie sorgsam zusammen
wir ordnen Leidbrocken nach Stiefeln getrennt
bis unter den Dachfirst stapeln wir hier in aufgelassenen Speichern
was den Todesschrei überstand: Fleischstützen
zugfest wie Kupfer sandsteinbeständig
von Fleisch entblößt und von Atem
Gesichtsschädel ohne Gesicht das Güte
oder gerecht im Zorn

ja Aaskäfer sagt man die Fühler keulenförmig mit Haaren
Hinterleibsspitze meist bloßliegend sagt Fleischfliegenmaden
600 Arten v.a. in eiweißhaltigen Substanzen man sagt auch ein wahrer
Gottesgarten muss es gewesen sein für Mund und After
von Fadenwürmern etc. durchzieht doch der Darm
den Körper als schnurgrader Schlauch – nun aber

teils Wasser teils Harnstoff teils Kohlenoxid das Gesicht
nur Hydro- und Nitro- und Carbo-Konfigurationen
mit schlafendem Sauerstoff-Blau: unkenntlich der reine Ton
mit dem doch einst alles begann

Blau das wie Seen kühl sich verflüssigt
Blau das wie Berge kubisch kristallisiert
Blau das zwischen den Horizonten als Hauch
mittags sich über uns spannt

wenn wir Pelmeni essen am Rain
und schauen den Mehlschwalben zu
wie sie geordnet sich sammeln zum Abflug
und warten noch warten wie lange noch auf die sorgliche kleine

die alle tausend Jahre so heißt es
von abgeerntetem Feld häufelt sie sich ein Korn
um vom letzten endlich sich aufzuschwingen zur Sonne – –

und wie du mich ansiehst leise
sag ich dass über die Jahre vielleicht
nun ja ists dieselbe wohl nicht

und du dass womöglich
eine allein nicht ausreicht

(Lesung im Berliner Literaturhaus 30.01.2014)

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