Lesung am 02. Mai 2017 aus „Blauton und Turbulenzgeräusche“

 

 

Liebe Freundinnen und Freunde des Verses!
 
I
 
Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Verse zu hören, und ich danke Ihnen. Ich danke aber auch Ihnen, Frau Lublina, Herr Loch und Herr Schoff, dass Sie die Pforten Ihres Zauberbergs für uns heute Abend gastlich geöffnet haben. Ebenfalls danken möchte ich vor allem meinem Freund Uwe Homes, dass er auch diesmal wieder viele der Mühen, die mit der Herausgabe eines Gedichtbandes verbunden sind, so selbstlos auf sich genommen hat, und Herrn Dr. Hufmann sowie Frau Grig vom Frieling-Verlag, dass es wieder ein so ansprechender Band geworden ist; und danken möchte ich auch meinem Freund Rainer Elsmann, dass er auch diesmal wieder eine seiner faszinierenden Fotografien für die Umschlaggestaltung zur Verfügung gestellt hat.
Blauton und Turbulenzgeräusche. Daraus werde ich Ihnen heute Abend vierundzwanzig Gedichte vorlesen, also die knappe Hälfte; nach dem zwölften, denk ich, sollten wir eine kleine Pause einlegen. Wer den Band zur Hand hat, mag gern darin mitlesen (ich werde die Seitenzahlen ansagen); das Druckbild unterstützt ja den modernen Vers, der auf seine ursprüngliche Stütze, die Musik, verzichten muss. Mit Musik kann ein Vers natürlich viel leichter Kraft entfalten, magische sogar, selbst wenn, ja häufig gerade dann, wenn man die Worte gar nicht versteht. Denken Sie an Lieder in fremden Sprachen, das können sogar sehr fremde sein: Tangi-Lieder z.B. der Südsee-Insulaner oder Gesänge von Ba-a-ka Pygmäen. Von den letzteren, so wird beispielsweise berichtet, genügte ein einfacher Tonbandmitschnitt, um Louis Sarno, einen später berühmten Amerikaner aus Jersey, für immer in den afrikanischen Busch zu locken, wo er dann sogar eine Ba-aka-Frau heiratete. Andere wiederum, wenn sie nur das Arekuru toppu no naka der Pop-Gruppe Tokio Hotel singen hören, ziehts magisch nach Japan.
Kein Wunder also, dass man früher hinter solchen Kräften Götter vermutete – in der Antike bekanntlich die Musen, nicht ohne Grund auch die Hochgekehlten geheißen, und, natürlich, als Hahn in ihrem Korbe Apoll. Doch was für eine tiefe Intuition nun aber des Mythos, dass bei der Geburt dieses Gottes, des Gottes der Kunst, Delos, die Geburtsinsel, aufhörte, ruhelos über das Meer zu flottieren! Sie wurde ortsfest, und nicht genug damit: Sie wurde auch über und über und durch und durch golden (leider nur vorübergehend). Apolls Lieblingstier aber, der Schwan, avancierte zum Wappentier für begnadete Dichter: Pindar als Schwan von Theben, seiner Heimatstadt oft auch Dirkäischer Schwan,nach einer dortigen Quelle, und der Schwan von Avon für Shakespeare.
Das alles aber ist noch gar nichts gegen die indischen Götter! Die gingen nämlich höchstselbst direkt in die heiligen Texte, die Veden, ein. Damit wurde die Sprache selbst göttlich, etwa das preisende Om mani padme hum (du Juwel in der Lotusblüte) oder das allidentifizierende tat twam asi (das bist du). Und auch Versmaße partizipierten an dieser Göttlichkeit, weil sie Schutz gegen profane Zudringlichkeiten boten.
Heute, wir wissen es alle, ist das herrschende Paradigma nicht mehr die Religion, sondern die Wissenschaft ist es und die Technik. Denken wir, von der Religion herkommend, nur einmal an die Astronomie !
Die sieht nun mit ihren Teleskopen und Spiegelteleskopen, dass beispielsweise die Ursa Maior alles andere ist als eine verstirnte große Bärin; und sie entdeckt keine Spur davon, dass die Seelen der Menschen, um sich zu inkarnieren, vom oberen Himmel herabsteigend an den sieben Planeten vorbeigleiten und von deren unterschiedlichen Metallen entscheidend für Charakter und Schicksal affiziert werden. Ja, wir selber können mit einfachem Fernrohr schon sehen: Auf dem Parnass oben gibts keinen Apoll, nicht einmal heilige Schwäne! Die haben ihr Habitat als Cygnus Cygnus in Linnés binärer Nomenklatur aufgeschlagen und zerfallen in Geno- und Phänotyp, die lassen ihre Gehirnwellen noumenal in den Modi des griechischen Alphabets schwingen und schütten Dopamin aus in Form von Gesang, deren Körper besteht, unter ein Rastermikroskop gepackt, fast nur aus Leere – genauso wie unser eigener.
Gottverlassen nun also, ach, auch die Dichter! Und damit nicht genug: Ihr wichtigstes Werkzeug, die Analogie – unglaubwürdig erscheint sie jetzt, denn in der Wissenschaft gilt Ursache und Wirkung, nicht die bildhafte Entsprechung. Vorbei also mit der Überzeugungskraft von Vergleichen, Metaphern, Symbolen, mit den Sternen als Augen der Geliebten, mit dem Mond als ihrem Angesicht! Alles, wissenschaftlich gesehen, lachhaft. Allerdings gibt es Skeptiker, die sagen: Das wissenschaftliche Paradigma, vielleicht ist es ja kein letztgültiges und hat seine Zeit ebenso wie der Mythos. Kann man sich zwar heute nicht vorstellen, konnte aber ein alter Ägypter mit der Doppelhelix ebensowenig. Die Skepsis beruht auf dem Verdacht: Nicht in dem zwar, was sie sagt, sei Wissenschaft fragwürdig, sondern in dem, was nicht sagt, weglasse, methodisch bedingt weglassen muss. Und wie die Wissenschaft den Mythos in ein ironisches Zwielicht taucht, so spiegelt die Skepsis, für den Mythos Partei ergreifend, genau dieses Licht zurück mit einem lächelnden Warts ab, auch du bist nicht ewig! Dann wäre die Analogie also doch nicht entthront, ja, mehr noch, sie stünde für ein Entsprechungszeichen zwischen Mythos und Wissenschaft. Und Wahrheit, Wahrheit wäre dann etwas, was nicht durch ein je kulturell relatives Paradigma erschließbar wäre, sondern was allenfalls aufscheint im Netz analoger Annäherungsversuche, wie sie in diversen kulturellen Paradigmen unternommen worden sind und noch unternommen werden.
Doch nicht nur die Analogie, auch die Sprache selbst scheint heute fragwürdig geworden: Nichts Göttliches, sondern lediglich Kehlkopffunktion, die sich mindestens bis zum Cro-Magnon-Menschen und der Kopula – aus Leder, mit der er zwei Steine verband, zurückverfolgen lässt – Poly-lith nennt das die Wissenschaft. Kopula, Polylith – Sie hören schon: Kalte Laborterminologie! Nicht sehr lyrisch! Und außerhalb des Labors, was hören Sie da? Ich vermute: meist lauwarmes Alltagsgebrabbel! Das gültige, runde, wahre Wort jedoch, das die Dichter brauchen, es entzieht sich so wie die Frucht, nach der der hungrige Tantalus immer wieder vergebens hascht. Nur: Vor analogen Problemen standen die Dichter seit je. Im Schutt von Babylon soll man eine Tontafel gefunden haben, auf der ein Dichter klagt, dass nunmehr schon alle Formen verbraucht seien. Trotzdem fanden Dichter immer wieder zu einer eigenen Sprache: wie gute Köche, die aus der Unmenge brauchbarer und unbrauchbarer Zutaten und trotz der genauso großen Menge der fehlenden kraft kulinarischer Phantasie diejenigen zusammenzustellen verstehen, die für ein schmackhaftes Menu taugen. Und wann gab es vielfältigere Zutaten als heute, in der globalisierten Welt? Und außerdem: Wann hatte man raffiniertere Küchengerätschaften? Heute, wo wir wie selbstverständlich mit diesen superscharfen japanischen Haiku-Kurouchi-Urmessern hantieren und eckigen Tamagoyaki-Pfannen. Hören wir uns einmal an, wie das geht!
 
Küchenlied
Mit doppeltem Bügel
Auf Kurs
Kontaktgeschehen
Tierlieder
Südstück
 
II
 
Ja, diese Saturnringe! Galilei war bekanntlich der erste, der einen entdeckt hat: mit einem Fernrohr. Seitdem gilt: Je mehr Technik, desto weniger Mythos. Mit unseren heutigen Spiegelteleskopen können wir nicht nur über die Milchstraße hinausschauen, sondern wir sehen auch: Der einst göttliche Kosmos besteht fast nur aus Vakuum (also genau wie unser eigener Leib). Und mittels des Super Proton Synchroton des CERN können wir sogar bis fast zum Urknall zurückblicken: Nur 10hoch minus 43 Sekunden trennen uns noch davon, die Plancksche Schranke.
Von alldem kann jedermann sich heute in Fernsehsendungen, beispielsweise mit Harald Lesch, selber ein Bild machen (wenn er nicht lieber die Sportschau, die Hafenkante oder die Criminal Minds guckt). A propos fern-sehen – in der Antike übrigens hieß das: von Lilybaion bis nach Karthago sehen können, sprich von Sizilien bis Afrika. Aber was hatten die damals für Augen! Empedokles, wie sein Zunftgenosse Alkmaion u.a. auch Physiologe, sah noch Urfeuer in ihnen brennen. In Akrigent lebend, also nicht gar so weit weg vom Ätna, wusste er, wie so etwas aussieht. Das leuchtete natürlich auch aus den Augen der Götter, noch intensiver sogar, weil niemals auch nur durch den kürzesten Lidschlag unterbrochen. Woran Götter zudem unfehlbar zu erkennen waren. Wenn also damals jemand mit nur ein Paar Flügelchen an den Sandalen als Hermes Psychopompos, als Seelengeleiter also, Sie ansprach, um Sie in die Unterwelt abzuholen, brauchten Sie ihm nur auf die Augen zu schauen und wussten: Aha, nein, der klimpert, der ist nur Schlepper in ein Bordell. Ja, noch im Mittelalter hatte auch der christliche Gott etwas von diesem Augenfeuer, wenn er als Sonne segnend vom Himmel blickte. Ein Segen, der noch die kleinsten Wesen erreichte: Eidechsen z.B., Lazerta geheißen, falls sie von Alterserblindung bedroht waren, holten sich frische Sehkraft einfach durch einen Blick in die aufgehende Sonne. Sie mussten nur, bevor sie sich schlafen legten, eine geeignete Position finden
Die moderne Naturwissenschaft nun hat zwar, trotz strengster Befragung der Magna Mater Natura, eine solche Regenerationsgnade für Echsenaugen noch nicht bestätigen können. Sie scheint aber auf gutem Wege. Hat sie doch immerhin schon festgestellt: Es gibt Insekten, die mit noch ganz anderen Körperteilen hören können als mit Ohren. Da wäre vielleicht auch für den Homo Sapiens noch Evolutionspotenzial! Andererseits aber: Sind uns nicht oft schon unsere zwei Ohren zuviel? Lärm! Überall Lärm! Vor allem Verkehrslärm! Früher, da gab es zwar auch schon Verkehrstechnik, aber war sie laut? Des Dädalos Flugapparat zumindest bestand im Wesentlichen aus Wachs und Federn. Und die Argo? Nicht irgendein Lärm, den sie beim Fahren entwickelte, drang über den Orbis terrarum hinaus bis hinab in die Unterwelt, sondern der Ruhm ihrer Geschwindigkeit (Argo heißt ja auch nicht die Laute, sondern die Schnelle)! Man weiß das sehr genau, weil Sthenelos, ein Krieger, der am Ufer des Schwarzen Meeres beerdigt worden war, bei Persephone inständig um Kurzurlaub einkam, nur um von seinem Grabhügel aus einmal einen Blick auf dieses Schiffswunder werfen zu dürfen! Einzig Poseidon, heißt es, fühlte sich indigniert und glaubte, das Goldene Zeitalter, jetzt gehe es zu Ende.Vielleicht hatte er ja doch mit seinen feineren Götterohren ein Knarren der Wanten oder ein Stöhnen der an den Rudern schwitzenden Helden gehört und hat es bis in die Zukunft extrapoliert, unsere Gegenwart also, die ja von Lärm erfüllt ist: Lärm auf den Straßen, Lärm am Himmel (es scheint massenweise Leute wie Howard Hughes zu geben, diesen Milliardär, der sein halbes Leben im Flugzeug hinbrachte) und Lärm zu Hause, wenn wir Bayreuth oder, je nachdem, Judas Priest auf den originalen Heavy-Metal- Dezibel-Pegel hochfahren.
Bis zum Katzenjammer. Und dann: Sehnsucht nach Klosterstille… Lotus-Sitz… Yoga mit Asana-Übungen… Nur eben: Nicht lange! Schon bald nämlich wieder diese Unruhe, irgendwo irgendwas zu verpassen, und wärs nur den Teil einer Fernsehserie ….
 
Zurück in die Ferne
Kontrapunkt
Absolutes Gehör
Bresche
Zwischenräume
Planskizze
 
(Pause)
 
III
 
Wunderbar, wie viele trotzdem heut Abend den Weg hierher gefunden haben! Mai ist für Veranstaltungen ja prekär, beginnt just jetzt doch die Reisezeit. Und wen Madeira und Malle schon langweilen, der kann non stop selbst entfernteste Weltgegenden erreichen, exotische Völkerschaften mit lockenden Namen wie Ibanoi oder Bajau oder Amungme-Papua, indigene Völker, wo es noch Rundtänze und echte Geistheiler gibt – also nicht einfach phantasielos Dr. med., sondern kahuna lapa`au und ähnliche. Eine Heilkunst, fremder für uns noch als die des alten Römers Galen mit ihren vier Körpersäften!
Wer genug Zeit hat, Rentner z.B., der kann aber auch per Schiff reisen. Halade Mystai! Ihr Eingeweihten – ins Meer! Schiffsreisen sind ja sehr zuverlässig geworden. Nicht mehr, wie früher, die umständliche Orientierung an Sternen. Die sind, zur See, bedeutungslos heute, und zu Land ebenfalls: Der Abendstern, christlich die Stella Maris, glänzt ohne Marientrost, und heidnisch, als Venus, braucht man ihn ebensowenig für die Liebe wie den Mars, unseren Nachbarn zur anderen Seite, für den Krieg. Kein Wunder, dass die Gestirngötter beleidigt sich immer weiter zurückziehen! Unsere Astronomie, blind für die Melancholie verlorener Würden, registriert das nur platt als Vakuum-Expansion des Kosmos.
Schiffsreisen also. Sehr gemütlich, weil vergleichsweise langsam. Allerdings: Nur wer bald schon startet, kann Tuválu, diesen Koralleninsel-Staat, noch erreichen, bevor ihn der steigende Meeresspiegel zudeckt. Was nun aber die Amungme-Papua angeht – für den heiligen Gras-Berg dort kommt er so oder so zu spät. Da findet er jetzt schon nur noch die Wühlkrater von Freeport-Copper&Gold.
Andererseits, wie heißt es so schön vom Reisen? Der Weg ist das Ziel. Schauen wir also stets aufmerksam über die Reling. Mit viel Glück erblicken wir dann vielleicht die berühmtesten Enten der Welt. Sie wissen schon: die 29 000 Badewannen-Entchen, die, vor 25 Jahren aus einem Kontainer entwischt, seitdem über die Weltmeere zirkulieren. Oder wir erblicken, mit weniger Glück, weil doppelt so groß wie Deutschland, den Großen Pazifischen Müllstrudel.
Unangenehm dabei vor allem, dass man dann unterwegs schon an den Berg Schmutzwäsche denken muss, den man zuletzt mit nach Hause bringt. Und wehe, wenn dann die Waschmaschine mal wieder defekt ist und kein Reparateur greifbar! Aber:Trösten wir uns! In Japan ist man schon dabei, Waschmaschinen zu entwickeln, die kann man selber mit nur einem einfachem Schraubenzieher bis in die kleinsten Bestandteile zerlegen! Wie gesagt: zerlegen …
Vielleicht aber ist man ja auch irgendwann reisemüde und bleibt zu Hause. Systole und Diastole. Man muss ja nicht gleich ins Kloster gehen wie, so wird berichtet, ein Peter Buchholz, nachdem er jahrelang über die Weltmeere gefahren war. Der wurde zuletzt Franziskaner, blieb ortsfest in Kreuzberg und schenkte dort Armensuppen aus. Ich nehme an: fleischlose. Das war er dem Stifter seines Ordens schon schuldig. Und vielleicht nicht nur ihm.
 
Tierkreis
Verknpüpfungsmuster
Ibanoi und Bajau
Am Schwarzmeerand
Es geht rund!
Einstrahlungen
 
IV
 
Dreimal Mond – beinah schon ein romantisches Naturgedicht – fehlt nur noch der Abendstern. Apropos die Venus: Wenn Sie den Gang dieses Planeten über den Himmel, wie weiland Kepler, geduldig acht Jahre lang auf Papier nachzeichnen, erhalten Sie ein vollkommen regelmäßiges, wunderschönes Rosenmuster. Bei weniger Geduld nehmen Sie einfach einen Apfel, der ist Venus ebenso heilig wie die Rose, und schneiden ihn quer durch, dann haben Sie immerhin einen Stern in der Hand.
Vorsichtige Charaktere allerdings gehen zu dieser Dame lieber auf Distanz – wegen ihrer Unberechenbarkeit. Die halten sich lieber an die Philosophen, z.B.Plato. Sie erinnern sich: das Konzept von den Doppelmenschen. Sehr sinnreich! Die Menschen, ursprünglich immer kugelförmig zu Paaren vereint, dann aber wurden die Kugeln zerteilt und seither sucht sehnsuchtsvoll eine Hälfte die andere, einzig und ideal passende.
Die Risikofreudigen aber natürlich, die setzen weiterhin auf die Liebesgöttin. Man kann dabei Glück haben. So Phaon, ein einfacher Fährmann zwischen Kleinasien und Lesbos. Bei jeder Frau hatte der Erfolg, sogar bei Sappho (der sonst doch ganz andere Neigungen nachgesagt werden). Manche behaupteten allerdings, dieser Erfolg gehe zurück auf eine magischen Salbe, mit der seine Haut bestrichen war. Möglicherweise eine römische Unterstellung.
Denn die Römer, die standen ja geradezu unter magischer Obsession. Selbst bürokratische Amtshandlungen, z.B. die Einsetzung eines Beamten, Konsuls oder Diktators, folgten peinlich genau der Rezitation ritueller Texte. Und wehe, wenn da ein Nebengeräusch auftrat, ein Husten oder ein Niesen – sofort alles ungültig! Laut und Ding mussten so rein, so perfekt zueinander passen wie Schloss und Schlüssel, ganz wie das Sesam öffne dich! zur Tür der Höhle. Oder denken Sie an die Müllerstochter! Und dass sie das Rumpelsstilzchen erst dann in die Hand bekam, als der Name genau passte. Da versteht man das Bild vom gefügelten Wort auch schon wieder besser: das Wort, das wie ein (gefiederter) Pfeil das Herz trifft.
Was aber nun die Liebe angeht, so wurde sie am großartigsten wohl von den Indern geheiligt. Als kosmische Urkraft, häufig mit überdimensionalen Nachbildungen von Linga und Yoni, also von männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen, wurde sie gefeiert und angebetet, nicht anders als Shiva und Shakti selbst.
Kein Wunder daher, dass die Portugiesen mit ihrer Mission dort keinen Erfolg hatten. Technisch waren sie überlegen – nicht nur mit ihren Feuerwaffen, sondern auch mit den Karavellen, diesem Schiffstyp, der sehr effektiv aus verschiedenen Typen zusammengesetzt war. (Phönix hat das erst neulich wieder für Fernsehbildungs-Adepten anschaulich zu machen versucht.) Aber die christliche Botschaft mit Glaube, Liebe und Hoffnung, die überzeugte in Indien nur wenige. U.a. gewiss deshalb, weil diese Liebe eben nicht den Leib mit seiner Sinnlichkeit feiernd einbezog.
Genau das machen manche Kulturkritiker übrigens auch verantwortlich für die aktuelle Ausbreitung von Pornografie, Promiskuität und Prostitution. Und was die Theologie jahrhundertelang versäumt hat – die Wissenschaft, in Gestalt von Psycho-Beratung, die soll es nun richten, soll die Liebe ins Lot bringen.
Nur: keine Kritik ohne ihre Kritiker. Die frühere theologische Einäugigkeit, so meinen die, sei nur durch eine wissenschaftliche abgelöst worden. (Sie erinnern sich: Die Wissenschaft lüge nicht, aber lasse aus.) Ja, und nun? Die ganze Wahrheit, wo, wie? Faust paktierte bekanntlich dafür mit dem Teufel, Empedokles sprang in den Ätna, die Mystiker lösen sich auf im unendlichen Meer der Gottheit, die Skeptiker sagen mit Benn siehe Pilatus, die Dichter, ja, die Dichter, bilderbeseligt, immer aufs Neue werfen sie Netze von Analogien aus …
 
Psychosoma
Über die Natur
Beziehungsgeflüster
Unstet
Apfelrhapsodie
Wenn doch