Seestück

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Thema des Gedichtes ist die Verdrängung der Transzendenz aus dem Bewusstsein der modernen Menschen (wir).
 
Zur Verdrängung der Transzendenz dienen heute u.a. Fernsehserien und Kreuzfahrten (VG 1+2) sowie Eigenheimglück (VG 9). Beispielhaft für eine Verdrängung in der Vergangenheit werden die Moai auf den Osterinseln angeführt (VG 3+4). Dagegen sind zwei Bereiche aufgeführt, in denen das Verdrängte noch gefunden werden könnte: das Unbewusste (VG 8) und damit parallelisiert (symbolisch) der Meeresgrund (VG 6+7). Mit der VG 5 wünscht sich das lyrische ich kluge Augen, um prüfen zu können, ob eine Überwindung des Todes und eine Wiederkehr der verdrängten Transzendenz noch möglich ist.
 
 

SEESTÜCK

 
Und kurz vor
zehn
Richard
wenn wir dann
Den sehen grad noch ein
armseliger

Schlucker und jetzt vow! weil vor aller
Welt dieses Traumschiff das er
5Für sich
ganz solo
und seine
Bea

Klar dass auch wir da ganz eng
Zum
Flimmern der Sterne
mittanzen
 
Fernselbstverstärkung
der Psyche

Doch was heißt Verdrängung
10Wenn Black Box wogegen nur repetitive
ZEICHENSEQUENZEN absichern
 
Was im Prinzip
ja schon auf die blinde

Abwendung zutrifft
Womit die Moai einst die Meerflut
15Abwehrten von ihrer Insel
 
Denn nur zu
zeitweiligem Ritual

Hellsehend aus Abgrundsschatzgut
Ward ihnen ein Augenpaar
Kalkweißer Korallen
 
20
Sagt was
ihr in

Ursprungstiefen saht an Wahrheit
Saht an Trug Tod muss ich muss Götter prüfen meine
Augen macht sie klug eindringend
 
Ins
Bathyal
nämlich und Abyssal

25Ists im Hadal noch allein
Blau das
die farbspendenden

LICHTWELLEN aufgeben müssen
 
Danach sich
selbst − Reich

Wo Solarpulse enden
30
Geisterlicht
spinnend

Plötzliche LUMINISZENZEN aufleuchten
 
Und stockt
die Brust

Dass etwas heraufschiene
Von einem Grund ohne Grund
35Unter des Tages Bewusstsein
 
Der uns so
Träume hochschickt
Alb- oder ganz wunderbar
Aber auch dann nicht wirklich
Eigenheimglück das in festen Stunden
40
Verankert uns
einlädt und mitzieht

Und das nicht zu gucken
Keiner von uns einen Grund sieht
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Seestück ist die Fachbezeichnung für ein Bild, das Meer mit Schiffen darstellt. Mit Blick auf andere Elemente des Gedichtes (Fernsehen, Augen, LICHTWELLEN, gucken) könnte der Titel auch ‚Sehstück‘ lauten.
 
v.1ff: Die ganze Versgruppe spielt auf die Fernsehserie ‚Das Traumschiff‘ an. In einer der Folgen (übliche Sendezeit ab 20:15 Uhr) entpuppt sich offensichtlich kurz vor zehn … ein armseliger / Schlucker … vor aller Welt (das wir macht alle Menschen zu Zuschauern) als vermögend, weil … er / Für sich ganz solo und seine Bea / … dieses Traumschiff chartern kann, um mit ihr auf Deck Zum Flimmern der Sterne tanzen zu können. Normalerweise ist das ‚Schiff‘ ein Symbol für das menschliche Leben, als Traumschiff kann man es als Symbol für das falsche, für eine kitschige Vorstellung vom Leben verstehen.
 
v.1 Richard: Die syntaktische Stellung von Richard lässt zu, dass entweder der Ehemann von Bea gemeint ist oder ein Zuschauer mit dem Namen Richard angeredet wird. Möglicherweise handelt es sich auch um eine Doppelfigur.
 
v.2 armseliger / Schlucker: In der modernen Fernsehwelt hat das Wort ‚armselig‘ seine Herkunft aus der Bergpredigt (‚Selig sind die, die da geistlich arm sind ‚ Math. 5,3) längst eingebüßt. Der Verlust des Transzendenzbezugs ist durch das Heilsversprechen, das im materiellen Reichtum liegt, ersetzt worden. Wer arm ist, wird in der modernen Gesellschaft als Schlucker stigmatisiert.
 
v.5 ganz solo: Die Möglichkeit, ein Traumschiff für sich allein zu chartern, suggeriert erheblichen Reichtum bei Richard.
 
v.5 Bea: Kurzform für ‚Beatrix‘ bzw. ‚Beatrice‘. Im’Traumschiff‘ heißt die Chefhostess ‚Beatrice von Ledebur‘, wird aber Bea genannt.
 
v.7 Flimmern der Sterne: Das romantische Bild des ‚Sternenflimmerns‘ ist hier ironisch zu nehmen: Es suggeriert die ‚Flimmerkiste‘, die den Zuschauern eine heile Welt vorflimmert. Es steht im Gegensatz zu Klar, das mit dem Licht der Erkenntnis üblicherweise verbunden wird.Im Kontext des Verses hier bedeutet Klar ‚Selbstverständlich‘.
 
v.8ff: Sowohl die Fernreise auf dem Traumschiff als auch der Sog der Fernsehserien (repetitive / ZEICHENSEQUENZEN) stärkt die Psyche insoweit, als dadurch die Lücke, die die Verdrängung der Transzendenz hinterlassen hat, gefüllt wird und die Existenz ‚absichert‘. Man kann die Psyche und zugleich auch den Fernseher als Black Box verstehen.
 
v.12ff: Parallelisiert wird mit der in v.8ff beschriebenen Verdrängung das Verhalten (blinde / Abwendung) der Rapanui (Besiedler der Osterinseln), die ihre riesigen Statuen, die Moai, an der Küste dem Meer abgewandt aufstellten, um die Transzendenz (die Meerflut) ‚abzuwehren‘.
 
v.16ff: In der Periode der Aufstellung der Statuen (dem zeitweiligen Ritual) setzten die Rapanui ihnen ein Augenpaar / Kalkweißer Korallen ein. Korallen wachsen sowohl in der Tiefsee (Abgrundsschatzgut) als auch im Flachwasser bis zur Wasseroberfläche. Hellsehend meint hier nicht etwa die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, sondern es bezieht sich auf die Farbe der Korallen und auf ihre Fähigkeit, die Transzendenz wahrzunehmen (vgl. zu v. 20ff). Es ist auch möglich, das Augenpaar als Symbol des Göttlichen zu sehen und das mit dem biblischen Ward (Da ward aus Abend und Morgen … (Gen.1,5)) auf die Schöpfungsgeschichte angespielt wird.
 
v.20ff: Angeredet wird das aus den Ursprungstiefen (Schöpfung) stammende Augenpaar (v.18). Das lyrische Ich bittet die Augen zu sagen, was Wahrheit und was Trug ist (analog zur Paradiesgeschichte ’so werden eure Augen aufgetan und ihr werdet … wissen, was gut und böse ist‘ (Gen.3,5)). Dadurch, dass die Schlange damit die ersten Menschen betrügt, verfallen sie dem Tod. Das lyrische Ich ist daher gehalten, die Transzendenz (Götter) zu prüfen, ob eine Überwindung des Todes und eine Persistenz des Göttlichen möglich ist. Es bittet, seine Augen wahrhaft (klug) sehen zu lehren.
 
v.24f: Bathyal, Abyssal und Hadal bilden zusammen die Böden der Tiefsee. Bathyal (gr. bathys – tief) ist die Zone von 200m Tiefe bis 4000m, Abyssal (gr. abyssos – grundlose Tiefe) von 4000m bis 6000m und Hadal (gr. Hades Unterwelt) ab 6000m.
 
v.26f: Von den farbspendenden LICHTWELLEN verschwinden im Wasser nacheinander zuerst die langen Wellen (rot) und zuletzt die kurzen Wellen (BLAU). Am Grund der Tiefsee gibt es kein Sonnenlicht mehr (v.28).
 
v.28f: Mit dem Reich, in dem die Solarpulse (das Sonnenlicht) enden, weil das Licht die Materie nicht mehr durchdringt, kann die transzendenzlose Gegenwart gemeint sein.
 
v.30f: In dem Reich der Finsternis, in der Tiefsee gibt es Fische, die aus sich selber leuchten, die durch LUMINISZENZEN aufleuchten. Auf der symbolischen Ebene ist mit dem Reich die transzendenzlose Gegenwart gemeint, in der ‚geistige‘ Menschen Erinnerung an die verlorene Transzendenz bewahren. In der christlichen Tradition wird das Reich der Finsternis mit dem Bösen / dem Tod verbunden. Dann ist der Fisch als ‚leuchtendes‘ Symbol für Christus zu verstehen.
 
v.32ff: Das lyrische Ich erschrickt (ihm stockt die Brust) vor der Möglichkeit, dass etwas Irrationales (Grund ohne Grund) unter seiner Ratio (des Tages Bewusstsein) lauern könnte, das Unbewusste. Möglicherweise ist auch zu verstehen, dass das gegenwärtige Bewusstsein sich gegen die Annahme einer Transzendenz wehrt, dass es ‚verstockt‘ ist. In der mystischen Tradition (Meister Eckehart) ist der Grund ohne Grund das über die Rationalität hinausgehende Vermögen, das Mysterium (Gott) zu erfahren.
 
v.36ff: Das Unbewusste schickt zweierlei Arten von Träumen hoch: Alb-träume und wunderbare Träume. Gegen die Irrationalität wehrt sich die Moderne mit dem Eigenheimglück, mit dem sie meint, fest in der Realität Verankert sein zu können. Sie verdrängt (v.9) damit den Grund ohne Grund. Auch die mystische Tradition kennt die Unheimlichkeit, ‚das auf dem Grund der Seele verborgene Geheimnis der menschlichen Existenz‘ (abditum mentis) erfahren zu wollen. Auf dem Wege zum Wunder der Gotteserfahrung liegt auch der Alb des Selbstverlustes, vor dem das Ich erschrickt.
 
v.40ff: Mit dem dreifachen uns der letzten Versgruppe wird das wir der ersten Versgruppe wieder aufgenommen.