Überblickskommentar
Grundgedanke: Das lyrische Ich stellt sich vor, vom transzendenzfernen Tempo des Tempelhofer Feldes in den stillen transzendenznahen Himmel aufzusteigen und dort von allem irdschen Begehren befreit die Erfüllung zu finden. Dieser mystische Versuch scheitert an der rationalen Begrifflichkeit der Gegenwart.
TEMPELHOFER TEMPO
Plötzlich
der Blick weit freies Feld
Nichts als Fläche
Rund unter
reinem HalbrundUnd hui!
bin ich
Radfahrer Skater5Kite-Surfer
im Dämmer zuletzt
steil
gegenDen Wind steigender Lenkdrachen
und unten
Auf einmal alles nur oberflächlich
Kaschierte Kalotte
ein Rand noch Streulicht
Wie Lockenreste
– ja dort die Stirnseite10
Wie wenn man
einschliefeMeerstill
dort müsste man liegenDie ganze Zeit
Ausatmend
bis LeereUnd Leere –
15
(Da kommt
schon die FinsternisWieder mit diesen Fingern
Die nichts begreifen)
Stellenkommentar
Bild: Das Bild zeigt das Tempelhofer Feld mit dem Himmel darüber im Verhältnis von 10 : 6. Dies entspricht in etwa dem Goldenen Schnitt (proportio divina ‚göttliche Proportion‘).
Titel: Das ‚Tempelhofer Feld‘, der ehemalige innerstädtische Flughafen Berlins, dient heute als freie Fläche für Ausflug und Sport. Der Titel spielt mit den ethymologisch nicht verwandten Worten Tempel und Tempo. Dieses Gegenspiel zeigt sich auch in der Bedeutung von Tempo für das Gedicht: Gemeint ist nicht die üblicherweise mit Tempo verbundene Geschwindigkeit, sondern das genaue Gegenteil, die Entschleunigung, die Meditation, die stillstehende Zeit (v.10ff und v.12).
v.1 Plötzlich .. weit: Das lyrische Ich tritt aus einem von Häusern beengten Sichtfeld in einen den Blick entgrenzenden weiten Raum. Das Plötzlich signalisiert die Singularität dieses Ereignisses.
v.1f freies Feld / Nichts als Fläche: Die Mehrdimensionalität des Feldes (im physikalischen Sinne) wird durch das Nichts auf eine transzendenzlose Zweidimensionalität reduziert.
v.3 :Auf der konkreten Ebene ist das Runde Tempelhofer Feld mit dem sich darüber wölbenden Himmel gemeint. Auf einer symbolischen Ebene wird der reine Himmel im nichtphysikalischen Sinne als Ort der Transzendenz verstanden.
v.4 Und hui!: Mit der umgangssprachlichen Floskel hui wird das Plötzlich (v.1) wieder aufgenommen und mit der Geschwindigkeit des Windes auf dem Feld verbunden.
v.4f :Das lyrische Ich identifiziert sich mit den Sportlern, die die Geschwindigkeit der Bewegung über das Feld genießen. Die Bezeichung Kite-Surfer – eigentlich ein Wassersport – wird hier auf das auf Land betriebene ‚Kitesailing‘ angewandt.
v.5 im Dämmer zuletzt: neben der Abenddämmerung auch Charakterisierung der transzendenzlosen Gegenwart
v.5f steil … / … Lenkdrachen: Am Ende der Identifikationsreihe denkt sich das lyrische Ich als einen in den Himmel aufsteigenden Lenkdrachen (‚Kite‘). Der dazu nötige (Gegen-)Wind kann auch als Pneuma interpretiert werden (vgl. auch zu v.4).
v.6f und unten // … oberflächlich: Der Blick des lyrischen Ich richtet sich von oben nach unten und entdeckt Auf einmal, dass die unter ihm liegende Fläche nur oberflächlich, also ohne Tiefe, transzendenzlos ist.
v.8 Kaschierte Kalotte: Gemeint ist zunächst die Schädelkalotte, kurz auch Kalotte, also die Hirnschale, das Schädeldach. Metaphorisch angewandt wird der Begriff auf den Himmel, der sich Halbrund – wie eine Apsis – wölbt. Verdeckt (Kaschierte franz. cacher ‚verbergen‘, ‚verdecken‘) weist lat. ‚Calvaria‘ für die Kalotte auf die Schädelstätte, den Kalvarienberg, auf dem Christus gekreuzigt wurde.
v.8 ein Rand noch Streulicht: Die untergegangene Sonne streut ihr Licht noch in der Atmosphäre, sodass es am Rand, dem Horizont noch sichtbar ist. Eine Metapher für die fast verschwundene Transzendenz.
v.9 :Das Bild eines Kopfes (Schädelkalotte) wird mit Locke und Stirnseite (Schläfe) zu einer homogenen Metapher fortgesetzt, die für eine personifizierte Transzendenz stehen könnte. Denken könnte man z.B. an die Göttin Fortuna, deren Locke sprichwörtlich das zu ergreifende Glück symbolisiert.
v.10ff: Anknüpfend an die Schläfe (Stirnseite) stellt sich das lyrische Ich vor, wie es wäre, einzuschlafen bzw. zu sterben. Das Austreten aus der Zeit (vgl. oben zum Titel) wird verglichen mit der Stille des unbegrenzten Meeres. Den Begriff ganze Zeit kann man als das Ende der Zeit interpretieren, also als den Zeitraum, den die christlichen Toten bis zu ihrer Auferstehung abwarten müssen.
v.11 Meerstill: der Begriff ‚Galene‘ (griechisch γαλήνη, ‚Stille‘, ‚Windstille‘, ‚Meeresstille‘, ‚ruhige See‘)) bezeichnet in der klassischen griechischen Philosphie die von Affekten, Verwirrungen und Unruhe befreite, in sich erfüllte Seele.
v.13f: Beschrieben wird zunächst der physiologische Vorgang des Ausatmens als Aushauchen des Lebens. Zugleich ist auch das Sich-Entleeren während einer Meditation gemeint, damit Transzendenz einströmen kann. Dieser Doppeldeutigkeit des Ausatmens entspricht die doppelte Leere und der folgende Gedankenstrich.
v.15ff: Mit dem Eintritt der Dunkelheit (Finsternis) kommt das lyrische Ich aus dem Konjunktiv (Wie wenn man einschliefe) zurück in den nüchternen (eingeklammerten) Indikativ. Die einbrechende Nacht (Finsternis) wird mit der transzendenz- und erkenntnislosen Gegenwart gleichgesetzt. Zugleich wird mit dem Bild der Hand und ihren Fingern der konkrete Akt des (Be)greifens aufgerufen; hier aber konterkariert durch rationale ‚Begriffe‘, die nicht in der Lage sind, Transzendentes (nichts, die Leere) zu erfassen.
Form
Das Gedicht besteht aus insgesamt 17 Versen. lässt man die letzten drei eingeklammerten Verse unberücksichtigt, ergibt sich mit 14 Versen eine verdeckte Sonettform mit der Schlusspointe in den beiden letzten Versen (13 und 14). Die Versgruppen ‚reimen‘ unterschiedlich: VG 1 und 2 auf e/ä/u; VG 3, 4 und 6 auf i/i/ei; die VG 5 zeigt identischen Reim: Leere auf Leere. Die 1.VG wird zusätzlich durch die F-Alliterationen und durch den Binnenreim Rund .. rund (v.3 Kyklos) geformt.