Neue Alte Liebe

Überblickskommentar
 
Grundgedanke: Dargestellt wird der Gegensatz zwischen trivialer Gegenwart (Schiff Alte Liebe, Kaffeeklatsch) und transzendenz-gesättiger Vergangenheit (Tiefe, Taufe, Gnade, Liebe). Der Dichter (Segler) verbindet beide Zeiten im Gedicht (Schwan) zu Neuer Alter Liebe.
Die Versgruppe (VG) 1 beschreibt das Schiff / In der VG 2 gelingt die Werbung des Seglers um das Schiff / Die VG 3 zeigt die Erfüllung im Gedicht: die Auferstehung des Phönix in ironischer Brechung.
 
 

NEUE ALTE LIEBE

 
Taufe
im Jahr der Titanic
Ausmusterung
Kaffeeklatsch

Mit allen Tischen
starrt
Am
Gnadenfristufer
die Alte
5Liebe aufs Wasser
 
Wo nur ein
jungflotter Segler
so hin und her
Und dieser Schwan
der von ihr –
Botschaften? Eine Affäre??
Federglanz Silberschlingen

10
Werbung und
sie gelingt
Schließlich mit einem zerknüllten
Bild aus der Tiefe
 
Denn Abend
als er ach Schwester brandrot
Die Sonne versenkt
– sieh da
Entfaltung
und großes
15Seefahrersegel
aufbauschend übervoll

Umschlägt es und
ein Stoß

Südwind vom tropischen Rücken
Der Welt heiß
flappts ihn herüber
dass hui
Waschechte Phönixflügel

20Himmelwärts von
gebrechlichen

Drei Dutzend Kaffeekahntischen!
 
 
Stellenkommentar
 
Bild: Das Bild zeigt die Alte Liebe am Anlegesteg. Im Hintergrund ist ein Segelboot zu sehen.
 
Titel: Der Titel bezieht sich auf das Berliner Restaurantschiff Alte Liebe. Der alte Berliner Kaffeekahn wurde 1970 durch ein neues Schiff ersetzt, daher der Gedichttitel NEUE ALTE LIEBE. Das neue Schiff diente bis bis zu seiner Ausmusterung 1969 als Fährschiff ‚Godeffroy‘ auf der Elbe. 1970 wurde es nach Berlin geschleppt und zu einem sog. ‚Kaffeekahn‘ umgebaut.
 
v.1: Die jetzige Alte Liebe wurde 1912 auf den Namen ‚Godeffroy‘ nach dem Hamburger Reeder und ‚Südseekönig‘ Cesar VI. Godeffroy benannt.Im gleichen Jahr wurde auch die Titanic getauft. Sie ging noch im selben Jahr auf ihrer Jungfernfahrt unter.
 
v.2 Ausmusterung: vgl. zum Titel
 
v.2 Kaffeeklatsch: Die triviale, möglicherweise boshafte Unterhaltung beim Kaffee (Tratsch und Klatsch) steht im Gegensatz zum Bereich des Sakralen (Taufe, Gnade, Liebe).
 
v.3ff: Mit dem Verssprung zwischen v.4 und v.5 wird das Schiff Alte Liebe zu einer Person, die mit ihren Augen aufs Wasser … starrt. Die Metapher (Tische für Augen) knüpft an den sakralen Bereich an (s. v.2) und lässt an den Abendmahlstisch, den ‚Tisch des Herrn‘ denken.
 
v.4 Gnadenfristufer: Das ‚Gnadenbrot‘, das Tieren am Ende ihres Lebens gewährt wird, wird hier auf das ausgemusterte alte Schiff am Havelufer übertragen. Die Gnadenfrist bezeichnet ursprünglich im religiösen Sinne ‚Zeit der Gnade für die Seele vor dem Jüngsten Gericht‘, säkularisiert meint sie eine Zeit der Strafaussetzung, eine letzte Frist.
 
v.6 jungflotter Segler: Die Charakterisierung des Seglers als jung kündigt bereits etwas Neues an (Neue Liebe), das flott (wie Segler aus dem maritimen Bereich, urspr. ‚auf dem Wasser schwimmend‘) betont die Beweglichkeit (hin und her wie beim Kreuzen eines Segelboots gegen den Wind). Im Zusammenhang mit dem Film Titanic könnte man auch an das ikonische Bild des am Bug der Titanic die Arme ausbreitenden Leonardo DiCaprio denken.
 
v.7f: Der Schwan symbolisiert das Gedicht (die Werbung), das aus dem hin und her zwischen der Alten Liebe (der abnehmenden Transzendenz) und dem Segler (dem Dichter) entsteht. Es versucht, mit ihrer Botschaft eine Beziehung (Eine Affäre) herzustellen.
 
v.9: Der Schwan und das Gedicht werden durch die (Schreib-)Feder verbunden. glanz und Silber können auf das Schwanengefieder und die Transzendenz bezogen werden. Die -schlingen fangen die Transzendenz ein.
 
v.10ff: Das Gedicht gelingt, als es aus der Tradition (Tiefe) ein verwittertes (zerknüllt) Bild der Transzendenz rekonstruiert. Vergleichbar beginnt der Film Titanic mit dem untergegangenen Schiff in der Tiefe, das in der Filmerzählung den alten Mythos wieder zum Leben erweckt.
 
v.13f Denn Abend … /… Die Sonne versenkt: Diese Verse erinnern im Klang nicht nur an Georg Trakl (z.B an das Gedicht ‚An die Schwester‘), sie rufen vor allem das ikonische Bild des in der Abenddämmerung brandrot am Bug der Titanic stehenden Liebespaars (vgl. zu v.6) hervor. Dass der Abend hier aktiv wird und Die Sonne versenkt, kann als Untergang der Transzendez durch die triviale Gegenwart interpretiert werden.
 
v.14 − sieh da: Mit dem Gedankenstrich und dem biblischen ‚und sieh(e) da, es war sehr gut‘ (Mos. 1,31) knüpft das Gedicht nach dem trauernden Einschub (vgl. zu v.13f) wieder an das aus der Tiefe aufsteigende Bild (v.12) an.
 
v.14f Entfaltung: Es hat sich das zerknüllte(n) / Bild aus der Tiefe entfaltet, ebenso das Seefahrersegel des Dichters, und es enfaltet sich hier auch das Gedicht.
 
v.15f aufbauschend übervoll / Umschlägt es: Beim Kreuzen des Seglers entsteht ein ‚Umschlagspunkt‘, in dem hier die Transzendenz übervoll ins Gedicht eintritt.
 
16ff ein Stoß / Südwind vom tropischen Rücken / Der Welt: Angespielt wird auf den Namenspaten der Alten Liebe, den Südseekönig Godeffroy. Gleichzeitig klingt das Südwind-Lied des Steuermanns aus Wagners Fliegendem Holländer an, das eine Sehnsucht nach Erfüllung ertönen lässt. Der heiße Wind scheint aus dem legendären Paradies Südsee zu wehen (hui).
 
v.18 flappts ihn herüber: Das ‚Flappen‘ des Segels suggeriert auch das Geräusch der Flügel des Schwans, wenn er vom Segler zum Schiff herüber fliegt.
 
v.19f: Der Phönix symbolisiert die Auferstehung aus der brandroten Asche. Gleichzeitig verweist das Himmelwärts auf Christi Auferstehung. Das ironische anmutende Waschechte kann mit dem Weiß der Segel, dem weißen Schwan und den weißen Tischdecken des Kaffeekahns gerechtfertigt werden.
 
v.20f: Gebrochen werden die Auferstehungsbilder durch die Drei Dutzend trivial flatternden Tischdecken auf der Neuen Alten Liebe.