Überblickskommentar
Den kalten, Abstand haltenden Bewohnern der Landauer Straße mit ihren therapiebedürftigen Psychen wird eine behinderte Angetrunkene gegenübergestellt, die für ihren Frieden die Hilfe eines freundlichen Menschen benötigt und erhält. Empathielosigkeit und verletzte Psyche gegen Mitleid und seelischen Frieden. Die religiöse Ebene wird durch die Person Jesus Christus (Anderungschneider) und das Abendmahl (Schöner Trinken) hergestellt.
LANDAUER STRAβE
Die vornehmen
FassadenIn weitem Abstand einander
Kalt gegenüber
Und auf den
Rasenterrassen5Zahlreiche Therapeuten
Die ihre Dienste anbieten
Aber die
Alte in ihrem RollstuhlDie jetzt Volksreden trompetend
Von
Hertz Schöner Trinken
her einbiegt10
Schlagseitig rudert
sie daran vorbei
Um Arme schwenkend
am billigen Ende
Den
Änderungsschneider
herauszutröten
Ein freundlicher
MenschDer
die gefährdete Peace-Flagge
15Am
Heck
sicher fixiertStellenkommentar
Titel: Die Landauer Straße in Berlin-Wilmersdorf verbindet den Adam-Kuckhoff-Platz mit dem Rüdesheimer Platz. Die Mietshäuser an der Straße sind durchweg viergeschossige Putzbauten mit steilen Walmdächern. Alle Bauten erhielten straßenseitig Bauschmuck mit zum gelben Mörtelputz kontrastierenden Holzbalken, die an Fachwerkhäuser erinnern. Weil zwischen der Baufluchtlinie und dem Straßenraum Platz für einen terrassenförmige Grünflächen eingeplant wurden, heißen die Häuser hier auch Terrassenhäuser.
v.1ff: Die 1910 gebauten Häuser mit ihren vornehmen Fassaden und dem weitem Abstand zu den gegenüber liegenden Häusern waren für das gehobene Bürgertum vorgesehen. Die Begriffe Fassade und Kalt charakterisieren diese Schicht negativ.
v.4ff: Auf den Rasenterassen (den terrassenförmigen Grünflächen) bieten mehrere Psycho-Therapeuten auf ihren Praxisschildern ihre Dienste an. Das Bedürfnis nach Heilung der Psyche suggeriert die Empathielosigkeit dieser bürgerlichen Schicht und korrespondiert mit den ihnen unterstellten aufgesetzten Fassaden. Das Adjektiv Zahlreiche ist nicht nur als Mengenangabe zu verstehen, sondern es bezieht sich auch eine ‚reiche‘ Schicht, die für die Heilung ihrer Seelen Geld zahlen muss.
v.7ff: Die Konjunktion Aber führt eine gegensätzliche Schicht ein, die Zu-kurz-gekommenen, die Behinderten, die Ausgrenzten, das Prekariat, repräsentiert durch die Alte in ihrem Rollstuhl. Der konkreten Gestalt der ‚Alten‘, die von der Weinhandlung Hertz Schöner Trinken kommt (am westlichen Ende der Landauer Straße) und große Töne spuckt (Volksreden trompetend), kann als mit einer religiösen Dimension verschränkt verstanden werden. Zwar wird der Inhalt der ‚weinseligen‘ Volksreden im Gedicht nicht genannt, die Situation erinnert aber an Kanzelpredikten oder Verkündigungen. In der Bibel drückt die Benutzung von ‚Trompeten’/Posaunen die öffentliche Ausrufung von Gottes Rechten in seinem Volk aus. Auch ist an die sieben Posaunen vor dem jüngsten Gericht zu denken (Off. 8,2 – 9,14).
v.9 Hertz Schöner Trinken: Die präzise Bezeichnung der Weinhandlung ist ‚Schöner Trinken. Weinhandlung Hertz‘. Die Namensgebung erinnert ironisch an die Zeitschrift ‚Schöner Wohnen‘, zeigt aber auch die Distanz der Moderne zur Religiosität. Im religiösen Kontext ist natürlich an die Einsetzung des Abendmahls zur Vereinigung mit dem Heiland zu denken. In diesem Sinne ist die Alte repräsentativ für die Heilung der ‚Hertzen‘.
v.10 Schlagseitig rudert: Die Begriffe ‚Schlagseite‘ und ‚Rudern‘ sowie auch der Begriff ‚Heck‘ (v.15) stammen aus dem Bereich der Wasserfahrzeuge und der Schifffahrt. Die Begriffe werden traditionell auch auf das Lebensschiff übertragen. Wenn ein Schiff Schlagseite bekommt, ist es gefährdet unterzugehen, wie die Alte, wenn sie die Chance, die das Abendmahl bietet, nicht nutzen würde und daran vorbei rudert. Umgangssprachlich wird Schlagseitig auch mit dem Zustand des Angetrunken-Seins verbunden.
v.10 daran vorbei: Die Formulierung lässt offen, ob die Alte an der Weinhandlung oder an den Rasenterassen ‚vorbei gerudert‘ ist.
v.11 am billigen Ende: Im Gegensatz zu der bürgerlichen Schicht der vornehmen Fassaden gibt es am billigen Ende der Straße den Änderungsschneider, auf den ärmere Leute angewiesen sind, weil sie nicht ständig neue Kleidung kaufen können. Im alten liturgischen Kontext der Messfeier hat ‚billig‘ die Bedeutung von ‚berechtigt‘ und ‚angemessen‘.
v.12 Änderungsschneider: Unter Berücksichtungung der religiösen Dimension (s. zu v.7ff, v.9 und v.10) könnte man im Änderungsschneider denjenigen sehen, der zur Änderung des Lebens auffordert: Jesus Christus, der sich in seinem Wirken vor allem an die Armen und ‚Aussätzigen’/Ausgestoßenen gewandt hat.
v.12 herauszutröten: Verballhornung für ‚herauszutrompeten‘ (vgl. auch zu v.7ff)
v.13: Ein freundlicher Mensch ist auch ein Menschenfreund, der therapeutisch hier für die Armen tätig ist. Er steht im Gegensatz zu den Psycho-Therapeuten der Rasenterassen.
v.14 die gefährdete Peace-Flagge: Die Peace-Flagge ist in der heutigen Friedensbewegung Symbol für das Streben nach einem weltweiten Frieden. Diesen strebt die Alte offensichtlich auch an. Jesus hingeben verkündet in seinen Abschiedsreden aber den individuellen Frieden, den Frieden im Herzen, einen himmlischen Frieden. (‚Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.‘ (Joh. 14,27)). Das Gedicht scheint hier sowohl den Weltfrieden als auch den himmlischen Frieden zu meinen.
v.15 Heck: Die Schiffsmetapher wird erneut aufgegriffen (s. v.10) und hier möglicherweise auf die Kirche als Institution übertragen, die den himmlischen Frieden retten sollte.