Überblickskommentar
Grundgedanke: Das lyrische Wir und die Schafherde symbolisieren die fest in der Immanenz verhaftete Masse; die Feldlerche das zur Transzendenz strebende Individuum.
Das Gedicht fingiert ein Interview zwischen einem imaginären Journalisten und einem ‚Parkpfleger‘, der sich im Verlauf des Gedichtes als Schaf entpuppt. Die Fragen des Journalisten fehlen, es werden nur die Antworten festgehalten. Diese Beschränkung auf die Antworten des Schafes steht für dessen eingeschränktes Weltbild. Es nimmt nur seine enge Realität wahr: Symbolisches (Feldlerche), Religiöses oder Spirituelles ist ihm fremd.
INFO JOHANNISTHAL
Ein Pünktchen?
Das wissen wir nicht.
Sie sehn unsre Augen? Das Blau?
WirDie Verwandtschaft
und ich von jenseits
Der Grenze sind wir.
Doch hier
sind die5
Sandtrockenrasen
und hier haben wirDen
Pflegeauftrag
: Offenhaltung der Fläche
Für licht- und
wärmeliebende PflanzenGemeine Grasnelken z.B. und Strohblumen –
Ein Kurzhaltekonzept
gegen Verschattung.10
(Dort
die Asphaltreste?
– NajaMit ausgeklügelten Konstruktionen von hier
Abheben –
langhin hats nicht überzeugt.
)Doch singend?
Natürlich hören wirEbenfalls was – aber ist da ein Text?
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Und noch dabei aufsteigend?
Unser Kopf drehtHorizontal – immerhin Feldlerche vielleicht.
Nur oben was will sie
denn dort wenn hierUnten das Feld ist? Die also am Himmel das
Pünktchen?!
Ein Punkt
– so viel wissen wir noch –20Eigentlich gibt es den gar nicht.
Mag sein dass
Dies dann ihr Ziel ist –
wir grasen weiter
.Stellenkommentar
Bild: Schafherde im Park Johannisthal im Berliner BezirkTreptow-Köpenick
Titel: Der Titel gibt den Handlungsort des Gedichtes an: den Park JOHANNISTHAL, der an Stelle des ehemaligen Motorflugplatzes Johannisthal-Adlershof (1909 bis 1923) errichtet worden ist (vgl. zu v.10ff). Die Abkürzung INFO für ‚Information‘ verweist bereits auf die verkürzte Weltwahrnehmung des lyrischen Ich (s. dazu v.1 und passim).
v.1 Ein Pünktchen?: Das lyrische Ich wiederholt fragend den Hinweis eines im Gedicht nicht genannten Gesprächspartners. Aus v.18f ist zu schließen, dass die Frage gelautet haben könnte: ‚Siehst du den Punkt am Himmel?‘. Der Diminutiv Pünktchen in der Antwort könnte als Reduktion auf ein nur rational Erfasstes verstanden werden. Darüberhinaus kann das Zeichen am Himmel auch als Hinweis auf ein kosmisches Ereignis (z.B. Christi Geburt) gesehen werden.
v.1 Das wissen wir nicht.: Der Bezugspunkt in dem Aussagesatz ist offen: das Das könnte sich beziehen auf Pünktchen?!, Ein Punkt (v.19), auf die Feldlerche (v.16) und auf das kosmische Ereignis (s. zu v.1). Mit dem wir wird deutlich, dass nicht ein einzelnes Individuum, sondern eine Gemeinschaft (z.B. eine Herde) gemeint ist. Im Zusammenhang mit dem kosmischen Ereignis (vgl. zu v.1 Ein Pünktchen?) könnte mit einer Herde auch die Menschheit und Christus als deren Hirte gemeint sein.
v.2 Sie sehn unsre Augen? Das Blau?: Anscheinend hat der Gesprächspartner gefragt, ob die Angeredeten keine Augen im Kopf hätten, und wird daraufhin gefragt, ‚ob er denn die Augen nicht sehen kann‘. Dieser weist dann auf das Blau des Himmels (das Transzendente) hin, das die Angesprochenen in ihrer Reduktion auf das Rationale (vg. zu v.1) nicht wahrhehmen. Das erinnert an Jesus Worte an den ungläubigen Thomas: ‚Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.‘ (Joh. 20,29).
v.2f Wir / Die Verwandtschaft und ich: Das nebenstehende Bild legt nahe, dass sich das Wir auf die abgebildeten Schafe bezieht. Der durch Verwandtschaft hergestellte Bezug auf die Herde hat etwas Herabsetzendes (Mischpoke), könnte sich aber auch auf die Gemeinschaft aller Lebewesen beziehen. Das sich aus der Herde heraushebende (lyrische) ich spricht hier als Schaf.
v.3f von jenseits / Der Grenze sind wir: Das Schaf nimmt eine Standortbestimmung vor und suggeriert, das zwischen einem Diesseits (Immanenz, Feld) und jenseits (Transzendenz, Himmel) eine Grenze verläuft und dass das wir – vom jenseits aus gesehen – im Diesseits (!) angesiedelt ist. Die Paradoxie der Standortbestimmung (das Schaf (Lamm) ist sich seines Ortes im Diesseits und Jenseits bewusst) verweist auf die Doppelnatur der Christusfigur.
v.4f Doch hier … / … und hier haben wir: Mit dem Beharren auf dem hier und seiner emphatischen Wiederholung und hier versichert sich das lyrische Ich (als wir s. zu v.2f) seiner Existenz in der rationalen Realität. So auch in v.12 und in v.17.
v.5 Sandtrockenrasen: Sandtrockenrasen sind Magerrasen auf trockenen, meist humusarmen Sand- und Kiesböden. Diese werden meist von Gräsern geprägt. Eingestreut sind einjährige Pflanzen und einige auffallend blühende Staudenarten wie Sand-Grasnelken und Sand-Strohblumen (v.8).
v.6 Pflegeauftrag: Zunächst denkt man an beauftragte Gärtner, die den Landschaftspark pflegen sollen. Das führt dazu, dass der Lesende die Schafherde vermenschlicht. Im Hintergrund wird suggeriert, dass der Pflegeauftrag für die Herde einem ‚Guten Hirten‘ erteilt wird.
v.6 Offenhaltung der Fläche: Der Begriff ‚Offen‘ meint in philosophischen Zusammenhängen oft ein Offenhalten der Verbindung zur Transzendenz. Wenn der Begriff auf das Flache angewandt wird, erhält er eine ironische Kehre.
v.7: Nicht nur werden in diesem Gedicht die Schafe zu Menschen, sondern die Menschen werden nun auch zu licht- und wärmeliebenden Pflanzen gemacht.
v.8: Zu den ‚Pflanzen‘ vgl. zu v.5. Der Bindestrich verdeutlicht den Bruch in der Reflektionsebene des lyrischen Ich: Vom Konkreten zum Abstrakten, von den konkreten Pflanzen zu dem abstrakten Konzept (Idee) ihrer Lebensbedingungen (gegen Verschattung).
v.9: Im Blick auf die Pflanzen-Pflege müssen Sträucher kurz gehalten (Kurzhaltekonzept) werden, um ein Wachstum behindernde Verschattung zu vermeiden. Im Hinblick auf die Menschen liegt der Gedanke nahe, dass sie in der Gegenwart ‚kurzgehalten‘ werden (Transzendenzfern), bzw. dass der Tod (Verschattung) von ihnen ferngehalten wird.
v.10: Die Klammern umschließen das nicht mehr Sichtbare, untergegangene Transzendente, das heute nur noch schwer zu erlangen ist (vgl. zu v.12).
v.10f Dort die Asphaltreste?: Das Schaf (lyrische Ich) setzt den imaginären Dialog fort und verweist auf Reste der Rollbahn des ehemaligen Flughafens. Es mokiert sich über die aus seiner Sicht unnötigen (und unnatürlichen) ausgeklügelten Konstruktionen.
v.11f von hier / Abheben −: Es wird der Weg vom hier der Immanenz in die Transzendenz nachvollziehbar veranschaulicht und mit dem Gedankenstrich das Abheben horizontal verlängert.
v.12 langhin hats nicht überzeugt.: Zunächst verweist es sowohl auf die Anfangsphase der Fliegerei als auch auf die kurze Dauer des Flugbetriebs des Motorflughafens. Die Aussage lässt sich aber auch auf vergebliche Versuche beziehen, den ‚Himmel‘ fliegend zu erreichen: Technisch wäre dieses Projekt nicht zu realisieren.
v.13f: Von dem Gesprächspartner darauf hingewiesen, dass dort jemand singe, bestätigt das lyrische Ich, dass es auch etwas höre, bestreitet aber, dass da etwas Verständliches (Text), Sinnvolles vernehmbar ist.
v.15f: Dass Lerchen während ihres Gesangs in den Himmel aufsteigen, lässt an die Auferstehung denken. Dies wäre aber jenseits des ‚Horizonts‘ des Schafs. immerhin scheint die Lerche aus seinem Bereich, dem Feld, zu stammen.
v.17f: Erneut bezweifelt das Schaf, dass oben … dort etwas Sinnvolles zu finden ist, wo doch die Realität Unten das Feld ist?.
v.19: Reprise und Variation des Eingangsverses: Das unbestimmte Ein Pünktchen wird zum unbezweifelten das / Pünktchen?!. Das Schaf konstatiert, dass die sichtbare Lerche keinen Hinweis auf das transzendente Ereignis (Ein Punkt) darstellt.
v.19f Ein Punkt … / Eigentlich gibt es den gar nicht.: Das Schaf scheint mathematische Kenntnis zu besitzen (− so viel wissen wir noch −): In der Mathematik ist der Punkt ein nur gedachtes geometrisches Gebilde mit bestimmter Lage und ohne Ausdehnung im Raum (Eigentlich gibt es den gar nicht).
v.20f Mag sein dass / Dies dann ihr Ziel ist: Die Lerche als Punkt am Himmel könnte auf den Omegapunkt von Teilhard de Chardin zielen: Der Omegapunkt ist End- und Zielpunkt in der theologischen bzw. philosophischen Betrachtung der Evolution bei Pierre Teilhard de Chardin. Dieser Endpunkt ist Christus nach der Bibelstelle ‚Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.‘ (Off. 22,13).
v.21 wir grasen weiter: Die Herde interessiert der Himmel nicht, sie bleibt auf ihrem Feld (Horiziontal (v.16)).
Form
Das Gedicht bedient sich der Dialogform, ohne Nennung des Dialogpartners. Dies zeigt sich auch in häufigen Interpunktionszeichen, die in anderen Gedichten des Autors eher unüblich sind. Das lyrische Wir stellt sich im Verlauf des Gedichts als eine Schafherde heraus, es könnte also auch als ein satirisches Rollengedicht bezeichnet werden.