Überblickskommentar
Memento mori. Unter der Oberfläche eines Restaurantbesuchs liegt ein Monolog des lyrischen Ich über richtige Nahrung im Hinblick auf langes Leben (VG1), über das Lebensende (VG2) und über die Möglichkeit der Tröstung durch Religion (VG3) bzw. über die Desillusionierung durch Aufklärung und Philosophie (Nietzsche) (VG3).
EINKEHR IM BIEBERBAU
Fit bleiben
beim Affen? Dein FleischKreischend ihm wegreißen?
Flirten mit
GriechengötternDie deinen Gaumen füttern
5Mit
gastrosophischen
Diatriben
?Wiederkäuend
bengalisches
Schweigen per Kuh einüben?
Denn
Säule geheim
und Zypresse
Die streiten
schon um den Vorzug10Auf deinem Grab
Und ob dich
nun jeder SchluckSterblicher werden
lässt –
Da! Der Hahn
kräht aufklärerischDreimal dass das alles bloß Stuck ist!
15Jetzt stürzt du zur Tür stößt
Gegen den Hausherrn
der – tröstlicheMorgenröte führt er zum Mund
Malaisen
der laxen
Natur moralisch
Aufhelfen durch das Wunder!
Stellenkommentar
Bild: Die drei Bilder (Affe(n), Griechengötter(n) mit Säule(n) und Zypresse(n) sowie ein Hahn) zeigen Photographien von Stuckverzierungen im Restaurant Bieberbau in der Durlacher Straße in Berlin. Ein weiteres Stuckelement, das im Lokal zu sehen und im Gedicht erwähnt, aber nicht abgebildet wird, ist eine Kuh.
Titel: Der Titel kündigt einen Besuch (EINKEHR halten) in dem Gourmet-Lokal BIEBERBAU in der Durlacher Straße in Berlin an. Die 2. gehobene Bedeutung einer EINKEHR (innere Sammlung, Überdenken, Prüfen der eigenen inneren Situation; Selbstbesinnung) bereitet den Leser auf mehr als einen Restaurantbesuch vor.
v.1f: Das lyrische Ich fragt sich bei der EINKEHR in den BIEBERBAU, ob es durch den Genuss von Speisen (hier vor allem von Fleisch) Fit bleiben/werden kann? Dazu wird es von einem Stuck-Affen an der Decke animiert. Das lyrische Ich imaginiert, dass der Affe ihm sein Fleisch / Kreischend wegreißen möchte. Die hier angedeutete Aggressivität scheint auf eine frühere Kulturstufe hinzuweisen.
v.3ff: Zum Flirten mit den Stuck-Göttern passt das füttern eines feinen Gaumens. Hier wird aber die Nahrungsaufnahme transformiert zu einer moralphilosophischen Belehrung aus der antiken Kultur (vgl. zu v.5 gastrosophisch und Diatriben).
v.5 gastrosophischen: das Essen betreffend ( ‚Gastrosophie‘ altgr. γαστήρ gaster ‚Bauch‘ und σοφία sophia ‚Weisheit‘). Im Gegensatz zur Gastronomie beschäftigt sich der neuere Wissenschaftszweig der Gastrosophie auch mit den kulturellen und soziologischen Aspekten der Ernährung.
v.5 Diatriben: Die Diatribe (altgr. διατριβή ‚Zeitvertreib‘, ‚Unterricht‘) ist eine von hellenistischen Philosophen geschaffene Form moralphilosophischer Rede, die sich in volkstümlichem Ton an ein breites Laienpublikum wandte, um es durch unterhaltsame Belehrung zu erziehen.
v.6f: Auf der Ebene des Restaurantbesuch überlegt das lyrische Ich, ob es nicht statt (oder während?) eines Verzehrs von Rindfleisch (per Kuh) besser wäre, sich im hinduistischen Schweigen zu üben. Damit wird eine dritte Kulturstufe angesprochen. Die EINKEHR ins Restaurant beschreibt hier eine Nahrungsaufnahme auf drei unterschiedlichen Stufen: auf einer physischen (v.1+2), einer geistigen (v.3-5) und einer spirituellen (v.6+7). Auf der Letzteren ist das lyrische Ich beim einüben in die Meditation (hinduistisches Schweigen) angekommen.
v.6 bengalisches: Bengalen ist ein Sprachgebiet, das heute zwischen Indien und Bangladesch aufgeteilt ist. Die dort herrschende Religion ist der Hinduismus, verbunden mit der Verehrung der heiligen Kuh.
v.8 Säule geheim: Die im Bild zu sehende unvollständige Säule ist ein häufig verwendetes Element auf Gräbern und symbolisiert das durch den Tod abgebrochene Leben. Eine geheime Botschaft der Säule könnte auf ihre mögliche Vervollständigung durch die Auferstehung zum ewigen Leben hinweisen.
v.8 Zypresse: Die immergrüne Erscheinung und ihr langes Leben machte die Zypresse zum Symbol der Trauer, der Hoffnung, der Andacht und der Ewigkeit; sie wird daher oft an Kirchen, Kapellen und auf Friedhöfen gepflanzt.
v.9f: Natürlich streiten sich nicht Säule und Zypresse um den Platz als Grabschmuck, sondern das lyrische Ich führt den inneren Monolog der ersten Versgruppe fort. Es denkt, während es sein Grab imaginiert, nicht nur an seinen Tod, sondern auch an ein mögliche Transformation seines Lebens. Mit der zentralen Position von deinem Grab (v.10 ist der Mittelvers des Gedichtes) wird so das verborgene Thema angesprochen: Gibt es etwas nach dem (eigenen) Tod oder gibt es Nichts.
v.11f: Der Restaurantbesuch könnte hier auch mit dem Thema ‚Weinbegleitung‘ verknüpft sein. Möglicherweise denkt das lyrische Ich über die Gefahren des Alkoholkonsums nach (jeder Schluck bringt dem Tode näher, macht Sterblicher). Aber natürlich und im Anschluß an die Meditation über das Grab ist vor allem an den Wein des Abendmahls und damit an die Auferstehung zu denken. Der unlogische Komperativ Sterblicher verweist auf die mögliche (paradoxe) ‚Unsterblichkeit‘.
v.12: Die zweite Versgruppe schließt nicht, wie es nahe läge, mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Gedankenstrich, der den inneren Monolog des lyrischen Ich unterbricht.
v.13ff: Die neue Versgruppe verwandelt die Unterbrechung (v.12) in eine plötzliche Erkenntnis, die alle bisherigen Überlegungen des lyrischen Ich scheinbar aufklärerisch als ‚Stuß‘ (Stuck) klassifiziert. Doch um die Aufklärung zu diskreditieren, wird die religöse Erzählung vom Verrat des Petrus aufgerufen und dann falsch dargestellt: Nicht der Hahn kräht dort Dreimal, sondern Petrus verleugnet dreimal den Herren (Matth. 26, 69ff). Durch diese Identifikation mit Petrus aufgeschreckt, stürzt das lyrische Ich zur Tür und stößt dort auf den Hausherrn. Im Zusammenhang mit der Verratserzählung lässt sich der Hausherr hier auch als der HERR, als Jesus Christus lesen.
v.16f: Der Hausherr, der anscheinend ein Glas Rotwein trinkt, ist hier nicht nur Christus, der das Abendmahl einsetzt, sondern aus der Aufklärungsperspektive auch Friedrich Nietzsche, der als Radikalkritiker des Christentums mit seiner Aphorismussammlung ‚Morgenröte‚ ‚Gedanken über die moralischen Vorurteile‘ formulierte.
v.18 Malaisen: Als ‚Malaise‘ (franz. für ‚Unbehagen‘, ‚Unwohlsein‘) bezeichnet man ein allgemeines Krankheitsgefühl mit mehreren Symptomen.
v.18 laxen: ‚lax‘ meint meist in Verbindung mit Moral ’nachlässig, ohne feste Grundsätze, nicht streng‘.
v.18f: Versteht man die beiden Verse im Kontext von Nietzsches Gedanken in der ‚Morgenröte‘, so könnte man zunächst sagen, dass Religion und Moral nur dazu dienen, die Schwäche der menschlichen Natur zu kaschieren. Mit Bezug auf die Petrus-Anspielung (v. 13f) und auf die Abendmahleinsetzung (v.16f) wird es aber auch möglich, das Wunder (der Religion) so zu verstehen, dass es der Schwäche der menschlichen Natur Aufhelfen kann.
Form
Die Verse der ersten beiden Versgruppen ‚reimen‘ – bezogen auf den letzten betonten Vokal – paarweise. Die Ausnahme bildet der ungereimte kürzeste Vers (v.10) des Gedichts, das Zentrum, der mit dem Grab das geheime Thema nennt. Die dritte ‚aufklärerische‘ Versgruppe zeigt ein ‚Chaos‘ der Reime: v.13 mit v.12 und v.14, v.16 mit v.15 und v.18, v.17 mit v.19.